Peter Jordan / Andreas Kappeler / Walter Lukan u.a. (Hgg.): Ukraine. Geographie - Ethnische Struktur - Geschichte - Sprache und Literatur - Kultur - Politik - Bildung - Wirtschaft - Recht (= Österreichische Osthefte; 15), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001, 835 S., ISBN 978-3-631-37974-5, EUR 65,40
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Dieser nach Bänden zu Kroatien und Makedonien dritte Länder-Sonderband der "Österreichischen Osthefte" [1] stellt sich zur Aufgabe, einen "multidisziplinären Gesamtüberblick" über Geschichte und Gegenwart der Ukraine zu bieten (9). Den 36 Beiträgen des Bandes, verfasst von einer international zusammengesetzten Autorenschaft aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, gelingt es gut, diesen Anspruch zu erfüllen. Im engeren Sinne geschichtswissenschaftliche Beiträge zum 19. und 20. Jh. nehmen dabei mehr als zwei Fünftel des Umfangs ein (139-482), während die der Ukraine seit der Unabhängigkeit 1991 gewidmeten Artikel weniger als ein Drittel ausmachen. Die weiteren Aufsätze sind kulturellen Themen gewidmet und behandeln sowohl die historische Entwicklung als auch den gegenwärtigen Stand der ukrainischen Sprache und Schrift, Literatur, Theater, Musik und Architektur.
Dass die Ukraine nicht nur ein junger Staat, sondern auch die Identität der ukrainischen Nation eine in vielerlei Hinsicht noch in stärkerer Weise offene Frage ist als bei Nationen, die über weniger heterogene und durch weniger Brüche gekennzeichnete historische Traditionslinien verfügen, zieht sich als Frage durch die meisten Beiträge des Bandes. Nationale Identität wird in hohem Maße dadurch bestimmt, wie die Geschichte der Nation erzählt wird. Daher ist es nur konsequent, dass die Herausgeber den historischen Teil des Bandes mit drei Beiträgen zur Geschichtsschreibung der Ukraine beginnen lassen. Stephen Velychenko gibt hier unter der Überschrift "Rival Grand Narratives of National History" einen Überblick über polnische, russische, sowjetische und ukrainische Konstruktionen der ukrainischen Geschichte, die jeweils auch differierende Interpretationen der nationalen Zugehörigkeit der Ukraine und ihrer Bewohner enthielten (139-160). Andreas Kappeler behandelt die historiographische Beschäftigung mit der Ukraine in den deutschsprachigen Ländern vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart (161-177), und Frank E. Sysyn untersucht das Bild Bohdan Chmelnyc'kyjs in der Geschichtsschreibung der Ukraine seit 1991 (179-188).
Der Abschnitt zur historischen Entwicklung der Ukraine im 19. und 20. Jahrhundert wird von einem souveränen Überblick Jaroslav Hrycaks unter dem Titel "Die Formierung der modernen ukrainischen Nation" eingeleitet, in dem er, beginnend mit einer Diskussion der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen "Wurzeln" der ukrainischen Nation, die Bedingungen der Verwirklichung des ukrainischen nationalen Projekts zwischen Polen und Russland vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart diskutiert (189-210). Die folgenden Beiträge dieses Abschnitts bilden eine Mischung aus weiteren, chronologisch gegliederten Überblicksdarstellungen, Beiträgen mit thematischen Schwerpunkten (John-Paul Himka über Religionsgemeinschaften in der Ukraine (241-258), Alexis Hofmeister über Juden in der ukrainischen Geschichte (259-278)) und einzelnen Spezialstudien, die neuere Forschungsergebnisse präsentieren (Harald Binder über "Parteiwesen und Parteibegriff bei den Ruthenen" (211-240), Jurij Šapoval über "Die bolschewistische politische Polizei in der Ukraine der Zwischenkriegszeit" (319-338)).
Ein weiterer, allerdings in der Zusammensetzung recht zufällig wirkender Abschnitt thematisiert "Regionale Aspekte" der ukrainischen Geschichte und Gegenwart. Anna Veronika Wendland behandelt hier in einem große Linien ziehenden Überblick Galizien als "ukrainische Grenzlandschaft" vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Sie orientiert sich damit allerdings an dem ukrainischen Halyčyna-Begriff und nicht an dem polnischen und deutschen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Begriff Galizien (389-421). Außerdem schreiben in diesem Abschnitt Paul Robert Magocsi über Transkarpathien (423-436), Gwendolyn Sasse über die Krim (437-456) und Taïsija Sydorčuk über Ukrainer in Wien (457-482).
In dem der Ukraine seit 1991 gewidmeten Teil, der Beiträge zur innenpolitischen Entwicklung, zur Außenpolitik der unabhängigen Ukraine, zur Wirtschaftslage sowie dem Rechts- und Bildungswesen enthält, knüpft besonders der Beitrag von Rainer Münz und Rainer Ohliger an die geschichtswissenschaftlichen Studien an (709-740). Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht die Analyse einer Umfrage, die das Geschichtsbild der Bevölkerung der Ukraine, differenziert nach Regionen, zu ermitteln sucht. Es zeigen sich dabei als Folge der unterschiedlichen historischen Entwicklung und Traditionen der verschiedenen ukrainischen Regionen auch unterschiedliche Geschichtsbilder und damit differierende Auffassungen darüber, was die ukrainische nationale Identität bedeutet.
Insgesamt dienen die Beiträge dieses Bandes gut zur Einführung in die ukrainische Geschichte und Kultur vorwiegend des 19. und 20. Jahrhunderts sowie in die gegenwärtigen Verhältnisse in der Ukraine. Der Nutzer kann hier solide Grundinformationen und Überblicksdarstellungen mit weiteren Literaturhinweisen finden. Die Aufnahme einiger darüber hinausgehender Spezialstudien in den Band wirkt dagegen etwas zufällig. Da aber diese Beiträge wertvolle Forschungserträge präsentieren, kann dies dem positiven Urteil über den Band keinen Abbruch tun.
Anmerkung:
[1] Der vorliegende Band ist identisch mit Heft 3/4 (2000) der Österreichischen Osthefte.
Kai Struve