Anna Moraht-Fromm / Wolfgang Schürle (Hgg.): Kloster Blaubeuren. Der Chor und sein Hochaltar, Stuttgart: Theiss 2002, 287 S., 187 Farb- und 138 s/w-Abb., ISBN 978-3-8062-1719-3, EUR 39,90
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Das ehemalige Benediktinerkloster Blaubeuren besitzt als einziges schwäbisches Kloster in seinem Chor die beinahe vollständige Einrichtung aus der Spätgotik. Die Architektur, der Hochaltar, das Chorgestühl, der Dreisitz, die Bauskulptur und die Raumfassung stammen aus der Zeit zwischen 1491 und 1501. In früherer Zeit beschäftigte sich die Kunstgeschichte insbesondere mit dem Flügelretabel - mit seinen Schreinfiguren, Hauptwerken der Ulmer Skulptur, und den Malereien der beiden Wandlungen. Das vorliegende Buch unternimmt einen weiteren Weg. Historische Fragen der liturgischen Nutzung des Mönchschores stehen voran. Daran anschließend werden die Architektur und die übrigen Teile der Ausstattung besprochen, ehe der Leser schließlich mehr über den Hochaltar erfährt. Mit dieser Akzentverschiebung wurde der Versuch unternommen, den berühmten Altar aus verschiedenen Blickwinkeln heraus in seiner Stellung und Funktion zu verstehen. Acht Autoren wurden für diese Arbeit versammelt, und es ist eine gründliche Monografie zum Kernbau des Klosters Blaubeuren entstanden.
Den Aufstieg und die künstlerische Blüte des Klosters im 15. Jahrhundert schildert Immo Eberl. Dem Kloster gelang es, seine Freiheiten zu wahren, indem es sich vom Ulmer Einfluss freihielt und sich enger an die Macht der Grafen von Württemberg band. Ab 1452 gehörte Blaubeuren der Melker Klosterreform an und sein Einfluss wuchs. Unter Abt Ulrich Kundig (1456 - 1475) wurde ab 1466 das Kloster, beginnend mit den Klausurgebäuden, neu errichtet. Unter dem nachfolgenden Abt Heinrich III. Fabri (1475 - 1495) begann die entscheidende Phase des Kirchenbaus. 1491 wurde mit dem Bau des Chores begonnen und schnell auch der Auftrag für den Hochaltar erteilt.
Aus der Durchsicht der Blaubeurer Quellen versucht Felix Heinzer ein tieferes Verständnis der Funktion des Wandelretabels in der Liturgie der Mönche zu gewinnen. Dabei wird deutlich, welche Wirkmacht ein solches Schaustück auf die Geistlichen hatte. Herangezogen wurde eine um 1500 entstandene Handschrift des Klosters, das Breviarius secundum cenobium Borense [1]. Es enthält die Aufzeichnungen für die Liturgie des Kirchenjahres. Am Beispiel der Karwoche wird ein hochinteressanter Einblick in den liturgischen Ritus gegeben. Die Flügel des Altars wurden geschlossen, sodass nur noch die Malereien der Passion sichtbar waren. In der Nacht von Gründonnerstag zu Karfreitag stellte man zur Zeit der "Tenebrae" zum Zeichen der Einsamkeit Christi Kerzen vor dem Altar auf, die allmählich bis auf eine gelöscht wurden. Diese wurde dann in die Sakristei gebracht, sodass am Schluss der Liturgie die Passionstafeln und der Chor in absoluter Dunkelheit lagen. Hieran ist zu erahnen, dass die Inszenierungen des Altars eindrucksvolle Ereignisse waren. Gern wüsste man auf diesem Gebiet mehr, so zum Beispiel, inwieweit die Wandlung auch Teil der Messe war. Doch die Quellen verraten wenig über die Interaktionen von Liturgie und Choranlage. Leider wurde keine vollständige Übersicht dieses Breviarius mitgegeben, aus dem ersichtlich würde, wann der Altar in welcher der drei Wandlungen zu sehen war.
In den Kapiteln zur Architektur der Klosterkirche erweist sich immer wieder die Untersuchung des Zentralturmes als Anstoß zur Auseinandersetzung. Denn die bauliche Besonderheit der Kirche liegt in der Stellung der Mauern dieses Turmes. Er riegelt im Innern die angrenzenden Räume der Kirche voneinander ab und schafft eine eigenwillige Zäsur der Bauteile. Nur der Durchblick durch die Empore im Turm schafft eine schmale Verbindung zwischen Chor und Langhaus. Deshalb kann der Turm auch nicht als Vierungsturm angesprochen werden. Diese Bauform ist unter den Klosterbauten des 15. Jahrhunderts ungewöhnlich. Die ältere Forschung nahm an, dass Turmfundamente des Vorgängerbaus diese bauliche Situation bedingt hätten. Neuere archäologische Grabungen (1984) zeigten jedoch, dass der Turm an dieser Stelle neu errichtet wurde. Die Suche nach Gründen ist schwierig.
Anna Moraht-Fromm erwägt, ob er nicht doch eine Reminiszenz an den Vorgängerbau sei, fernerhin als sichtbares Zeichen der Trennung von Kleriker- und Gemeindeliturgie fungiere. Karl Halbauer wiederum gelingt es in einer gründlichen Untersuchung der Architektur überzeugend, den Werkmeister Peter von Koblenz zu identifizieren. Die bislang nur vereinzelt behandelte Bauskulptur kann er von der württembergischen Hofkunst, zum Beispiel in der Tübinger Stiftskirche, herleiten. Das anspruchsvolle Niveau des Klosters wird an dieser Verbindung mit dem Kunstkreis des württembergischen Grafen Eberhard im Bart erkennbar. Dass er als Stifter wie als Ehrengast des Klosters hervorgehoben werden sollte, bezeugen die Darstellungen seines Wappens, besonders aber das Oratorium des Herrschers, der so genannte Erker. Auch am Chorgestühl drückt sich der gesteigerte Anspruch des Klosters aus. Denn es besitzt mit 66 Stallen wesentlich mehr Plätze, als für die etwa 20 Mönche notwendig gewesen wären. Moraht-Fromm deutet dies als Zeichen der Repräsentation wie der Aufnahme von Gästen ordensverwandter Klöster. Chorgestühl und Dreisitz sind inschriftlich für den Ulmer Schreiner Jörg Syrlin den Jüngeren gesichert. Heribert Meurer untersucht die hölzerne Ausstattung und schließt aus der Ähnlichkeit der Architekturformen des Hochaltars mit dem Gestühl, dass wohl auch das Retabel von diesem Meister entworfen wurde. Dadurch wird Syrlin der Jüngere für Blaubeuren die bedeutende Funktion des Entwerfers der gesamten Ausstattungen in Holz zugeschrieben, an denen der Werkkreis der bedeutendsten Ulmer Künstler beteiligt war.
Das letzte Kapitel ist dem 1493 geweihten Hochaltar gewidmet. Er wurde für dieses Buchprojekt von Restauratoren untersucht. Hans Westhoff präsentiert eine Reihe aufschlussreicher Erkenntnisse zur Arbeitsweise der Künstler. So lassen sich in der Schreinskulptur zwei verschiedene Fassmaler unterscheiden, was auch durch die großen Detailabbildungen anschaulich wird. Außerdem konnten Werkzeichnungen der Bildhauer und Ulmer Beschaumarken entdeckt werden. Moraht-Fromm geht in einer längeren Studie über die Malereien der beiden Wandlungen den schwierigen Fragen der Zuschreibung nach. Als wichtigstes älteres Bindeglied der Ulmer Malerei nennt sie die Werkstatt Hans Schüchlins. Dessen Werkstatt-Nachfolger, Bartholomäus Zeitblom, früher häufig als Hauptmeister der Blaubeurer Tafeln betrachtet, beurteilt Moraht-Fromm als gleichberechtigten Meister neben dem Memminger Maler Bernhard Strigel und dem Notnamenmeister der Kreuzigungstafel. Letzterem schreibt sie ähnlich viele Tafeln wie Zeitblom zu und verordnet sein Oeuvre innerhalb der Ulmer Malerei.
Die Michel Erhart zugeschriebenen Schreinskulpturen werden von Heribert Meurer knapp im Rahmen der älteren Forschungsergebnisse vorgestellt. Treffend sind seine Beobachtungen zum Charakter der Figuren. Die Madonna und die Ordensheiligen schauen glückselig und entrückt über den Betrachter hinweg, wodurch eine für Erhart typische Distanz zum Betrachter geschaffen wird. Die beiden Johannesfiguren stellen durch ihren abwärts gewandten Blick Kontakt zum Betrachter her. Nicht überzeugend ist die in jüngerer Zeit mehrfach geäußerte Meinung, die Madonna von Heggbach sei das direkte Vorbild der Blaubeurer Madonna. Am Stil Michel Erharts bliebe der oberrheinische Anteil noch zu entwickeln. Bei den Flügelreliefs wird die alte Meisterfrage, ob es Werke des Sohnes Gregor Erhart sind, angesichts der allgemeinen Homogenität der Teile nicht neu aufgerollt. Den Abschluss des Buches bildet ein quellenreicher Abschnitt von Lambert Auer über die Erhaltung des Retabels im Kloster durch die Zeit des Bildersturms.
Im Rahmen eines DFG-Projektes beschäftigten sich verschiedene Forscher mit der Blaubeurer Choranlage. Dabei ist ein facetten- und kenntnisreiches Buch entstanden, das grundlegend für die weitere Beschäftigung sein wird. In der Gewichtung der Kapitel bleibt etwas unbefriedigend, dass der künstlerisch wertvollste Bestand, die Skulpturen des Retabels, nur verhältnismäßig kurz gewürdigt wurden. Möglicherweise überließ man dieses klassische Thema der gleichzeitigen Ulmer Ausstellung zu Michel Erhart und Jörg Syrlin dem Älteren.
Anmerkung:
[1] Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB I 63
Martin Hirsch