Rezension über:

Frank Matthias Kammel: Die Apostel aus St. Jakob. Nürnberger Tonplastik des Weichen Stils, Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 2002, 88 S., 92 Abb., ISBN 978-3-926982-82-7, EUR 18,50
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Rezension von:
Martin Hirsch
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Martin Hirsch: Rezension von: Frank Matthias Kammel: Die Apostel aus St. Jakob. Nürnberger Tonplastik des Weichen Stils, Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/09/3157.html


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Frank Matthias Kammel: Die Apostel aus St. Jakob

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Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg besitzt sechs Apostel aus der Zeit des Weichen Stils. Diese auf fein verzierten Bänken sitzenden Apostel sind Hauptwerke der Nürnberger Skulptur ihrer Zeit, und - darin liegt seit langem ihr besonderer Reiz für die Kunstgeschichte - sie sind aus Ton gefertigt. Die Apostel und drei dazugehörige, die sich in der Nürnberger St. Jakobskirche befinden, waren Kern einer Ausstellung, die das Museum vom Dezember 2001 bis September 2002 zeigte. Ihr Anlass war die abgeschlossene Restaurierung der Apostel aus St. Jakob, welche nun in ihrer qualitätsvollen Farbfassung aus der Nähe zu sehen waren. Den weiteren Kreis der Schau bildeten Tonfiguren aus der Zeit des Spätmittelalters. Im Katalog legte man den Akzent auf das noch immer wenig erforschte Feld der Gattung Tonplastik.

Frank Matthias Kammel ging bei seiner Herleitung der Gattung den Weg des Sammelns älterer mittelalterlicher Denkmäler in Ton. Er beginnt seinen weitgespannten Überblick zum deutschsprachigen Raum in den Backsteingebieten an der Ostsee. Hier tritt seit dem 13. Jahrhundert figürliche Bauplastik in Erscheinung, meist in der untergeordneten Aufgabe friesähnlicher Wanddekorationen am Außenbau, gelegentlich aber auch als figürliche Arbeit (Goldene Pforte der Marienburg in Polen, 1240-50). Doch kam es hier nicht zu einer Produktion, die sich unabhängig von der Architektur entwickelt hätte. Zur größten eigenständigen Entfaltung der Tonplastik kam es vielmehr nach 1400 am Mittelrhein (Mainz?) und in Nürnberg. Den Ursprung erwägt Kammel vor dem Hintergrund des lokalen Hafnerhandwerks. Die Nürnberger Tonplastik setzt er in dem Zeitraum zwischen 1390 (Fürstenfigur, Berlin) und 1435 an (Tondoerffer Epitaph, St. Lorenz). Die Apostel datiert er um 1410-20 und plädiert in Abgrenzung von älteren Ableitungen aus dem Sluter-Kreis für eine Herkunft aus dem Kreis des Meisters des Hakendover Altares (Archivoltenfiguren des Brüssler Rathauses).

Auch Eike Oellermann widmet in seinem Beitrag zu den Tonaposteln der Gattung der Tonplastik allgemeine Überlegungen. Interessant sind die Darstellungen einer Computertomographie, die den präzisen Aufbau der Figuren aus ausgewälzten Tonplatten bezeugen. Aufgrund der großen Unterschiede im werktechnischen Verfahren nimmt er an, dass die Tonbildner auf dieses Material spezialisiert waren. Die in wenigen Zentren ausgeübte eigenständige Kunstgattung der Tonbildnerei sei aber nach einer kurzen Blüte von anderen Materialien der Skulptur abgelöst worden. Oellermann glaubt, dass mit dem Material auch ein eigener Stil und Ausdruck verbunden gewesen sei, der nach der Zeit des Weichen Stils auf Ablehnung gestoßen sei und anderen Materialien zum Einsatz verholfen habe. Dem ist nur zum Teil zuzustimmen. Für eine Beurteilung der Möglichkeiten des Bildnermaterials Ton reicht diese Erkenntnis nicht aus. Nicholas Penny [1] hat in seinem Buch über die Materialien der Skulptur neben ihrer materialspezifischen Erscheinung noch zwei weitere Phänomene berücksichtigt. So könnte der Bildhauer in jedem beliebigen Material danach streben, eine allgemeine Stilform hervorzubringen. Oder er könnte gar versuchen, den Stil seines Bildwerks dem Materialstil einer anderen Gattung anzugleichen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass manche Materialien eine große Spannweite der Formgebung ermöglichen, während andere eher beschränkt sind. Ton zählt zu den vielseitigsten Materialien der Bildhauer. Deshalb ist er nicht auf die Charakteristik des Stiles um 1400 zu beschränken. In der Tat begegnen in der späteren süddeutschen Tonplastik Beispiele, die im Formencharakter den Arbeiten um 1400 entgegengesetzt sind.

Mit der Frage nach Herkunft und Funktion der Nürnberger Apostel erwächst der Forschung der schwierigste Teil. Einige Figuren der Reihe gelangten um 1825 als säkularisiertes Gut in die St. Jakobskirche. Aus dieser Zeit stammt die leider unpräzise Provenienzangabe, wonach sie "aus einer alten Klosterkirche" kommen. Zwei zugehörige Figuren aus Holz, ein Christus Salvator und ein Johannes Baptist, besitzen die selben Maße und eine Erstfassung, die der Zweitfassung der Apostel entspricht. Sie sind als Ergänzungen des 15. Jahrhunderts anzusehen. In der Frage der ursprünglichen Funktion kreist die Forschung derzeit um drei Möglichkeiten einer Aufstellung: innerhalb eines Altares, an einem Lettner oder an der inneren Westwand (Empore). Der Lösung dieser Frage kommt besondere Bedeutung zu, da es in der süddeutschen Tonplastik mehr als ein Dutzend solcher Serien sitzender Apostel gibt. Die Nürnberger Reihe ist durch ihre Qualität und Räumlichkeit vor den anderen ausgezeichnet.

Oellermann beschreitet mit seinem Rekonstruktionsvorschlag einen neuen Weg. Er nimmt an, dass sich der Figurenzyklus ursprünglich im Schrein des Altares an der Chorschwelle der Nürnberger Lorenzkirche befunden habe. Das leitende Argument seiner Überlegungen ist, dass die Figurenreihe aufgrund des Vorhandenseins eines heiligen Täufers aus Holz ursprünglich für ein Johannesretabel bestimmt gewesen sein könnte, in dem auch die zwölf Boten enthalten gewesen seien. Ein Johannesretabel wurde 1412 durch die Familie Imhoff an der genannten Stelle gestiftet. Oellermann nimmt an, dass Christus Salvator von Johannes dem Täufer zu seiner Rechten und dem tönernen Apostel/Evangelisten Johannes zu seiner Linken flankiert worden wäre. Auch der neuzeitliche Johannesaltar von 1520 in der Lorenzkirche zeigt eine Verbindung der beiden Johannes mit den Aposteln der Abendmahlsdarstellung. Da die Reihung der vierzehn Figuren nebeneinander eine Schreinbreite von mindestens 5,8 m ergeben würde, präferiert Oellermann die Anordnung in zwei Registern. Formal ähnelt diese Lösung grundsätzlich dem kleineren Deocarusaltar von 1437 in der Lorenzkirche. Da die Figuren sorgfältig ausgearbeitete Rückseiten besitzen folgert Oellermann, dass die Schreinrückseite zu öffnen gewesen sein könnte, wie es wiederum für das renaissancezeitliche Johannesretabel von St. Lorenz der Fall ist, das er als Nachfolger ansieht. Solche Beispiele offener Retabel sind jedoch aus spätmittelalterlicher Zeit nicht bekannt. Anlässlich des Neubaus des Chores der Kirche ab 1439 sei das Retabel abgebrochen und beim Abschluss der Arbeiten am Chor mit der Ergänzung durch die hölzernen Figuren wieder aufgerichtet worden. 1472 ist die Weihe eines Johannesaltares an der selben Stelle belegt. Die beiden Figuren aus Holz seien in dieser Zeit hinzugefügt worden.

Dieser These widersprach in mehreren Punkten Gerhard Weilandt in seiner Rezension der Ausstellung [2]. Er stützt sich auf die Nachricht, dass alle Bildwerke der Serie in einem Inventar der Nürnberger Frauenkirche von 1814 genannt seien. Darauf aufbauend versucht er, auch die ursprüngliche Provenienz der Figuren aus dieser Kirche zu erweisen und stellt die Figuren als vermutliche Aufsätze auf der Lettnerbrüstung vor. Zwar wären die Figuren dann von allen Seiten her zu sehen, doch sind keine Serien sitzender Figuren auf Lettnerbrüstungen überliefert. Auch fanden sich im Boden der Kirche keine Spuren vom Mauerwerk eines Lettners.

Zieht man eine Bilanz, muss man feststellen, dass die Fragen zu den Apostelfiguren weiter ungelöst erscheinen. Zwar sind seit dem vierzehnten Jahrhundert Darstellungen der zwölf Apostel in Altären sehr verbreitet. Doch sprechen gegen Oellermanns Einfügung dieser Figuren in einen Altar ihre Dimensionen und die Tatsache, dass sie thronend dargestellt sind. Die Darstellung thronender Apostel ist in den bekannten deutschen und niederländischen Altären die Ausnahme. Bei den Tonapostelserien ist dies jedoch die einzige Darstellungsform, weshalb man eine andere Funktion annehmen möchte. Vor dem Hintergrund der alten Darstellungsform der Apostel im Senatus Christi bleibt schließlich die Ikonographie zu befragen. Dabei ist bei der thronenden Darstellung der Apostel anzusetzen. Mit dem Thronen kann entsprechend der Bibelstelle Mt 19, 28 auf eine Anwesenheit beim Weltgericht verwiesen werden. Damit wäre vom Bereich skulptierter Weltgerichtsdarstellungen auszugehen. Die Anwesenheit von Christus Salvator und Johannes dem Täufer scheint diese These zu stützen, freilich müsste das Programm dann in Gestalt der Deesis durch Maria ergänzt werden. Die geläufigen Plätze mittelalterlicher Weltgerichtsdarstellungen sind der westliche Eingangsbereich (Portal oder innere Westwand/-empore), sodann begegnet das Thema an Lettnern und Chorschranken. Die Weltgerichtsdarstellung begegnet aber kaum an Hauptaltären, sondern im 15. Jahrhundert bei Familienstiftungen von Seitenaltären. Gemäß der Darstellungstradition von Aposteln an Chorschranken könnte in den Nürnberger Figuren auch das Thema der Verkündigung des Evangeliums durch die disputierenden Gelehrten zu erkennen sein. An dieser Stelle begegneten die Apostel häufig in Gestalt disputierender Gelehrter. Die stark bewegten, teilweise freudvollen Nürnberger Apostel scheinen diesem Bereich anzugehören. Deshalb spricht mehr für die Lettnerthese.

Mit der fundierten Spurensuche in Nürnberg wurden durch die Ausstellung zwar neue Möglichkeiten gewiesen, aber es ist zu diesem Problem der Nürnberger Skulptur noch keine zwingende Lösung gefunden.

Anmerkungen:

[1] Nicholas Penny: The Materials of Sculpture, New Haven und London 1993, 269, 270.

[2] Gerhard Weilandt: Zur Herkunft der Nürnberger Tonapostel - Ein Widerspruch aus aktuellem Anlass und einige Neufunde, in: Kunstchronik, Heft 8, August 2003, 408-414.

Martin Hirsch