Sabine Hanrath: Zwischen 'Euthanasie' und Psychiatriereform. Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg. Ein deutsch-deutscher Vergleich (1945-1964) (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 41), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, 511 S., ISBN 978-3-506-79614-1, EUR 46,40
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Sabine Hanrath wurde mit dieser Arbeit, die im Rahmen des Bielefelder Graduiertenkollegs "Genese, Strukturen und Folgen von Wissenschaft und Technik" entstanden ist, im Jahr 2000 an der Universität Bielefeld promoviert. Sie widmet sich in ihrer Studie der (deutschen) Psychiatriegeschichte nach 1945 und konzentriert sich auf jenen schwierig zu bestimmenden zeitlichen Abschnitt zwischen "Euthanasie" und Psychiatriereform (1945-1964).
Die Erforschung einer Psychiatriegeschichte nach 1945 behandelte bisher vornehmlich die Frage, welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten in einer Psychiatrie nach der NS-Diktatur zu verfolgen sind, und welche Bedeutung diese - gemessen an der Änderungs- und Reformbereitschaft - hatte. Untersucht wurde die Psychiatrie unter den Bedingungen der so genannten "Zusammenbruchgesellschaft". Dabei ist die nähere Bestimmung der Inhalte einer Reform und deren Umsetzungsformen in jener Perspektive wichtig gewesen, inwiefern eine Loslösung von der NS-Diktatur zu bestimmen ist.
Hanrath ist bemüht, mit ihrer Arbeit die Lücke in der Psychiatriegeschichtsschreibung zwischen "Euthanasie" und Psychiatriereform zu schließen. Sie selbst schreibt hierzu: "Ansätze, die deutsche Psychiatriegeschichte auch über das Eckdatum von 1945 hinaus sozialhistorisch zu kontextualisieren und zu historisieren, sind bislang noch unterentwickelt" (3). Hanrath versucht dies, indem sie eine ost-westdeutsch vergleichende Perspektive einnimmt. Sie kann bei ihrer Untersuchung für die ostdeutsche Perspektive vor allem auf den Arbeiten von Sonja Süß aufbauen, die möglichen politischen Missbrauch der Psychiatrie in der DDR durch das Ministerium für Staatssicherheit untersuchte. Süß kommt zu dem Ergebnis, dass keine Instrumentalisierung der Psychiatrie durch das SED-Regime im Sinn eines systematisch-repressiven Missbrauchs zu erkennen sei (6-7).
Hanrath stellt sich in ihrer Arbeit die Frage, wie sich die psychiatrischen Disziplinen in beiden deutschen Staaten in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten neu orientierten, und welche Bedeutung der Verschiedenheit der politischen Systeme und der sozialen Bedingungen zukam (1-2, 8). Sie ist um eine "gleichgewichtige Untersuchung der ost- und westdeutschen Psychiatriegeschichte" (7) bemüht und möchte ein "historisch analytisches Fundament" (7) erarbeiten; zugleich erhebt Hanrath den Anspruch, mit ihrer Arbeit "methodisch neue Wege" (7) zu beschreiten, ausgehend von den ihres Erachtens in der Forschung erst in Ansätzen vorliegenden deutsch-deutschen Vergleichen. Diese letztgenannte Einschätzung scheint dem Rezensenten ein wenig verzerrt - erwähnt seien hier beispielsweise die von Hanrath auch zitierten Arbeiten von Hans Günter Hockerts.
In ihrer Studie, die Hanrath als eine "vergleichende Sozialgeschichte der psychiatrischen Disziplin" (11) versteht, konzentriert sie sich in einem Perspektivenwechsel "zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene" (13) auf die Anstaltspsychiatrie und weniger auf die Universitätspsychiatrie. In der Anstaltspsychiatrie werde das Gros der psychiatrischen Versorgung geleistet; es sei dort die praktische Umsetzung der psychiatrischen Theorie in den der jeweiligen Gesellschaft zugrunde liegenden Ordnungsvorstellungen und normativen Leitbildern nachzuvollziehen (14). Hanrath wählt für ihre Analyse einer deutsch-deutschen Anstaltspsychiatriegeschichte nicht zuletzt aus Gründen vergleichbarer institutioneller Rahmenbedingungen die Anstalten Brandenburg-Görden und Gütersloh aus (15). Diese scheinen insofern gut geeignet, da zu ihnen eine ganze Reihe von Untersuchungen vorliegen, an die Hanrath anknüpfen kann; darüber hinaus wertet sie sorgfältig zahlreiche Archivbestände aus, über die sie handwerklich gediegen Auskunft erteilt (16-17).
Die Arbeit ist in zwei lange Hauptteile gegliedert: In einem ersten Teil - "Anstaltspsychiatrie unter den Bedingungen der 'Zusammenbruchgesellschaft': Kontinuitäten und Brüche" (23-246) - stellt Hanrath die Verhältnisse in der Britischen Besatzungszone (23-128) denen in der Sowjetischen Besatzungszone (131-237) in jeweils fünf vergleichenden Schritten gegenüber. In einem zweiten Teil - "Anstaltspsychiatrie zwischen Strukturkrise und Reformbeginn 1950-1964" (247-461) - werden - erneut in einem Fünfschritt - die Bedingungen in der Bundesrepublik (247-350) und die in der Deutschen Demokratischen Republik (351-447) behandelt. Am Ende der Kapitel folgt jeweils eine gute, vergleichende Zusammenfassung (238-245, 448-461). Beide Teile stehen nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug, wenn es der Gegenstand erfordert. Die Ausführungen sind für sich genommen zwar kenntnisreich und überzeugend dargelegt; doch hätte ihnen manche Straffung in einer Schlussredaktion gut getan.
In einer abschließenden Übersicht - "Resümee: Gemeinsames und Trennendes" (462-474) - kommt Hanrath zu dem Ergebnis, dass zwischen dem "Deutschen Reich" und der Bundesrepublik Deutschland eine stärkere Ost-West-Kontinuität bestand als in kommunistischen Herrschaftsformen. "Die beiden Wege der deutschen Psychiatrieentwicklung verliefen nicht völlig separat, sie waren vielmehr durch Elemente der Kontinuität, der Beziehungs- und Wirkungsgeschichte auf vielschichtige Weise miteinander verbunden" (462). Das Jahr 1945 könne nicht als eine Stunde "Null" angesehen werden, schon gar nicht als eine Stunde "Null" gesundheitspolitischer Richtungsentscheidungen (463). Schließlich folgert sie, dass die psychiatrische Versorgung von 1945 bis in die 1960er Jahre in Ost wie West relativ gleich geblieben sei. Erst als die Reformen im Westen langsam, aber stetig umgesetzt wurden und im Osten eine allgemeine Stagnation eintrat, sei vieles anders verlaufen (471-474).
Ein Abkürzungsverzeichnis (475-477), ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und Literatur (478-506) sowie ein nützliches Personenregister (507-511) beschließen die Monografie.
Abschließend bleibt festzuhalten: Dass die von Hanrath vorgelegte Arbeit einen wichtigen Baustein für die Erforschung der (deutschen) Psychiatriegeschichte nach 1945 darstellt, verdient zweifelsohne Anerkennung, nicht zuletzt hat hierzu die von ihr eingenommene ost-westdeutsch vergleichende Perspektive beigetragen. Auf institutioneller Ebene wäre ein europäisch vergleichender Blick allerdings sicherlich ähnlich Gewinn bringend gewesen wie die Einbeziehung der Patientenperspektive. Manche Thesen - und gerade auch Argumentationsstränge - wären (noch) überzeugender, wenn sie knapper und konziser vorgetragen worden wären, als dies in den teilweise langatmigen und mit vielen Details überfrachteten Ausführungen der Fall ist. Diese eher formale Kritik soll jedoch nicht die inhaltliche Wertung von Hanraths Untersuchung trüben. Es handelt sich - das sei noch einmal deutlich betont - um eine wichtige Arbeit, in der in der Tat ein plausibler Vorschlag für ein Verständnis der (deutschen) Geschichte der Psychiatrie nach 1945 in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten (zwischen "Euthanasie" und Psychiatrierefom) in ost-westdeutsch vergleichender Perspektive vorgetragen wird.
Florian Steger