Rezension über:

Frank Fehrenbach (Hg.): Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik (= Bild und Text), München: Wilhelm Fink 2002, 419 S., 70 Abb., ISBN 978-3-7705-3658-0, EUR 48,90
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Rezension von:
Hubert Locher
Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Hubert Locher: Rezension von: Frank Fehrenbach (Hg.): Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, München: Wilhelm Fink 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/09/2367.html


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Frank Fehrenbach (Hg.): Leonardo da Vinci

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Ausgangspunkt für die vorliegende Textsammlung war eine 1995 am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen veranstaltete Tagung. Als Anlass für die späte Publikation gibt der Klappentext den 550. Geburtstag Leonardos an. Der lange Zeitraum war aber offenbar nötig, um die präsentierten Referate publizierbar zu machen, zum Beispiel aus dem Italienischen und Englischen zu übersetzen. Auf eine Aktualisierung der Forschungsliteratur wurde zumeist verzichtet, doch ist in den meisten Beiträgen Literatur ohnehin nur sehr selektiv verarbeitet, von den Teilnehmenden italienischer und englischer Muttersprache - man kennt das - fast ausschließlich Literatur des eigenen Sprachraumes. Thema des Bandes ist im weitesten Sinn Leonardos Naturwissenschaft, oder eben seine Auseinandersetzung mit der "Natur im Übergang", wie der Untertitel angibt. Die nötige Exegese der Formulierung gibt der Herausgeber im Vorwort. Es gehe um die Frage, welchen Anteil ein durch "Veränderung, Dynamik, kurz Übergänglichkeit" charakterisiertes Naturbild an der Verbindung von theoretischen, künstlerischen und technischen Arbeitsfeldern im Werk Leonardos habe, wobei diesem "unbestritten" die "Gleichung von Natur und Bewegung" zu Grunde liege. Ob nun "Übergänglichkeit" eine gelungene Wortschöpfung ist, sei dahingestellt. Es kristallisiert sich aus verschiedenen Beiträgen immerhin heraus - was das Vorwort auch andeuten will -, dass Leonardos theoretische Arbeit sich ständig um die kritische Erforschung einer als bewegt wahrgenommenen Natur dreht. Die Erkenntnis dieser Bewegtheit als Zeichen von Lebendigkeit, ihr Begreifen in der adäquaten Spiegelung der Zeichnung und die Erzeugung des Eindrucks von Lebendigkeit in seiner Kunst ist Leonardos großes Thema, das die Beiträge des Bandes einkreisen. In der Malerei, die in diesem Band weniger im Blick auf das eine oder andere konkrete Werk, denn als Medium thematisiert ist, hat dieses Interesse Ausgangs- und Fluchtpunkt zugleich. Ihr Zweck wäre die Fixierung des in ständiger Bewegung befindlichen Lebendigen. Es ist ein paradoxes Ziel, das vielleicht, wie Frank Fehrenbach in seinem Beitrag über "Bildzeit, Sprachzeit und Naturzeit" in der Malerei des reifen Leonardo darlegt, durch die strategische Integration von Simultaneität und Sukzessivität des Blickes des Betrachters im Oszillieren zwischen Teil und harmonischem Ganzen gelöst wurde - wobei es doch sehr zweifelhaft ist, ob Leonardo die "strukturellen Analogien" zum "Blick der Engel" auf Gott bei Augustinus wirklich im Sinn hatte.

Dass man aufgrund des universellen Anspruches des Malers Leonardo dessen künstlerische Ziele mit rein kunsthistorischer Methode nicht angemessen beschreiben kann, mögen die Beiträge des Bandes in ihrer disziplinären Vielfalt überzeugend belegen. Einige Aufsätze sollen der wissenschaftsgeschichtlichen Kontextualisierung dienen. Wolfgang Krohn, der in seiner Abhandlung nur über Leon Battista Alberti spricht, sieht in der "Kunst-Wissenschaft" des älteren Humanisten den Beginn der die Folgezeit prägenden Verknüpfung "(empirischer) Wirklichkeitserkenntnis und (technischer) Wirklichkeitsgestaltung). Die Position Leonardos würde nach seiner Meinung daran anschließen - was allerdings der Präzisierung bedürfte. Anne Eusterschultes Abhandlung über die "Rolle mechanomorpher Modelle in Naturkonzeptionen der frühen Neuzeit" leidet unter dem Problem, dass die Relevanz der vorgetragenen Überlegungen für Leonardo nicht evident ist. Die angesprochene Dichotomie "Organismus versus Mechanismus" ist ein späteres Denkmodell und für Leonardos integrierendes Denken womöglich bedeutungslos. Der spezielleren Einordnung des Theoretikers dient der Aufsatz von Cesare Vasoli über die technischen Bildungsmöglichkeiten Leonardos im intellektuellen Milieu von Florenz. Eine grundlegende Darstellung der wissenschaftshistorischen Diskussion zur Bedeutung Leonardos als Botaniker bietet Hans Werner Ingensiep.

So interessant diese Beiträge zweifellos sind, sie zeigen doch auch die Schwierigkeiten der Interdisziplinarität: Philologie, Philosophie, Wissenschafts- und Technikgeschichte haben auch im Blick auf Leonardo andere Fragen als die in dem Band mit den meisten Beiträgen vertretene Kunstwissenschaft. Deren Interessen und Methodik sind allerdings auch heterogen. Ausdruck inspirierten Pragmatismus' ist der Beitrag von Martin Kemp, der einen "leonardesken" Katalog von grafischen Bewegungsdarstellungen präsentiert. Einen deutlichen Kontrast hierzu bildet der erwähnte Beitrag des Herausgebers, der sich in der Themenstellung den Studien von Gottfried Boehm (dem Mitherausgeber der Reihe) verpflichtet weiß. In der Revision von Versuchen Gombrichs und dessen Interesse an der Psychologie des Sehens weiterführend, zielt der Beitrag von Janis Bell über das sfumato ins Zentrum des Verständnisses von Leonardos Kunst, wobei die Autorin die kunsthistorischen Grenzen notwendigerweise in der Berücksichtigung der historischen Optik überschreitet. Von eher klassischer Anlage ist die vergleichende Betrachtung Kristina Hermann-Fiores zu Dürers und Leonardos Landschaften. Claire Farago versucht auf sehr spekulative Weise, die byzantinische Bilderlehre (es ist sogar die Rede von einer byzantinischen "Bewegungsästhetik") als eine der Wurzeln von Leonardos Bildkonzept zu bestimmen. Anders argumentiert der Beitrag von Gerhard Wolf zur Mona Lisa, der dieses Porträt, als Versuch der gezielten Auratisierung der Malerei im Rekurs auf die Ikonentradition beschreibt. Der Interpretation von Stereotypen des Motivstudiums in den Zeichnungen widmet sich Johannes Nathan. Der Leonardo-Kenner Pietro Marani schließlich vertritt pointiert die Auffassung, dass Leonardos zeichnerische Darstellungen zumal im Spätwerk weniger mimetisch als modellhaft (als "Symbol") zu verstehen seien.

Wenn Leonardo auch vom philosophischen oder technikgeschichtlichen Standpunkt aus zu studieren ist, so besteht gerade das heute so schwer akzeptable Spezifikum seines Ansatzes in der Integration dessen, was damals und heute als Wissenschaft bezeichnet wird in der Kunst, das heißt in der Malerei. Leonardo studiert, wie der Medizinhistoriker Domenico Laurenza in seinem spannenden Beitrag über Leonardos "Ansätze einer Pathognomik" unterstreicht, und wie auch der Biologe Ingensiep betont, die Wissenschaften der Natur primär als Maler: Er integriert "genuin wissenschaftliche Theorien in Vorstellungen und Werken, die vor allen Dingen diejenigen eines Künstlers sind" (276). Die Argumentation des Künstlers wird aber erst verständlich, wenn man seine Quellen, die medizinischen und physiologischen, die optischen, die philosophischen und theologischen Traktate in Anschlag bringt. Dazu ist das Wissen eines Spezialisten erforderlich ist, das, wie der Beitrag von Laurenza zeigt, durchaus hilfreich an die Kunstwissenschaft vermittelt werden kann, sofern der interdisziplinäre Bezugsrahmen im Auge behalten wird. Eine ebenso gelungene interdisziplinäre Arbeit ist der Beitrag von Robert Zwijnenberg über das spezifische Interesse des Malers Leonardo an der Anatomie, dem es im Übrigen auf knappstem Raum gelingt, darzulegen, inwiefern Leonardos wissenschaftliche Forschung sich nicht in den Hauptstrang der modernen Wissenschaftsentwicklung integrieren lässt.

Interdisziplinäre Arbeit dieser Art könnte man sich in dem Band noch mehr wünschen, insbesondere eine Untersuchung von dezidiert philosophischer Warte, die über das von Augusto Marinoni hinaus Vorgebrachte hinausgehend Leonardos Verständnis der Natur in der Abgrenzung von den aristotelischen und frühneuzeitlichen Vorstellungen erläuterte und dabei die spezifischen Interessen des Künstlers Leonardo beachtete. Erst in diesem Kontext jedenfalls würde der in fast jedem Beitrag zumeist beiläufig zitierte § 9 des Malereitraktates verständlich, in welchem Leonardo die Malerei als der Philosophie ähnliche Wissenschaft definiert, weil sie sich ebenfalls mit "Bewegung" befasse. Leonardo bezieht sich hier nämlich zum einen auf die Kategorisierung des Aristoteles, der Mathematik von Physik bzw. Naturphilosophie abgrenzt, indem er feststellt, dass Letztere sich mit bewegten Dingen befasst, während Mathematik absolute und unveränderliche Dinge behandelt. Malerei sei somit eine Wissenschaft, jedoch eben keine mathematische. Diese Form der Aussage dürfte durch den Willen zur Abgrenzung vom Modell Albertis provoziert sein, der die Wissenschaftlichkeit der Malerei auf die Verwendung eines mathematisch-geometrischen Modells, nämlich der Perspektive, gründete. Der erwähnte Satz Leonardos wird im vorliegenden Band natürlich so häufig zitiert, weil einerseits die darin vorgenommene Gleichsetzung der Malerei mit der "Philosophie" eine theoretisch geprägte Debatte über Leonardos Kunst und Kunsttheorie besonders zu rechtfertigen scheint, zum anderen aber auch, weil die Bemerkung zur "Bewegung" zur Thematik des Bandes passen mag. Doch handelt es sich eben auch um eine gleichsam kunstwissenschaftsinterne Abgrenzung. Auch in dieser Hinsicht ist Leonardo ein moderner (Geistes)Wissenschaftler, indem er seine Position in der kritischen Verarbeitung zuvor gesetzter Theorien, also in der Fortsetzung eines Diskurses bestimmt.

Hubert Locher