Peter Betthausen: Georg Dehio. Ein deutscher Kunsthistoriker, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2004, 464 S., 39 Abb., ISBN 978-3-422-06399-0, EUR 44,90
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Die immer zahlreicheren Studien zur Geschichte der Kunstgeschichte scheinen zu belegen, dass man diesen Bereich inzwischen als notwendigen Bestandteil des Fachdiskurses anerkennt. Es mag sogar sein, dass die spürbar höhere Sensibilität für dergleichen einen neuen Status des Faches bezeichnet, das von der inzwischen weitgehend geleisteten Katalogisierung und Kanonisierung der Kunstdenkmäler sich entfernt und sich für kulturwissenschaftliche Fragen öffnet, wobei auch die Rolle des eigenen Metiers in der Gestaltung der Gesellschaft in den Blick gerät. Jedenfalls ist eine vom Standpunkt der Gegenwart argumentierende kritische Reflexion des Fachdiskurses nicht bloß "lehrreich" und "interessant", sondern unentbehrlich, um die aktuellen Fragen und Ziele eines Faches auch nur formulieren zu können.
Aber lehrreich und interessant kann Fachgeschichte auch sein, zumal wenn sie in der bewährten Gestalt der Biographie auftritt und damit "Leben" ins Spiel kommt. Dies ist der Fall bei Peter Betthausens Biographie des Kunsthistorikers Georg Dehio (1850-1932), dessen Lebensspanne die erste Blütezeit der institutionalisierten Kunstgeschichte im deutschen Sprachraum ebenso umfasst, wie den Aufstieg und den Zusammenbruch des Wilhelminischen Kaiserreiches. Es wäre übertrieben, das mehr als vierhundert Seiten starke Buch als spannenden Roman zu bezeichnen, aber die Lebensbeschreibung des 1850 im damals russischen Reval (heute Tallinn, Estland) geborenen Deutschbalten ist ausgezeichnet geschrieben, gut gegliedert und liest sich auch in jenen schwierigen Passagen flüssig, wo die Gedankengänge des Gelehrten nach seinen wichtigsten Schriften referiert werden.
Naturgemäß handelt es sich eher um eine intellektuelle Biographie als um eine regelrechte Lebensbeschreibung. Dergleichen hat es in der jüngeren deutschsprachigen Fachliteratur bislang eher selten gegeben. Weit zurück liegt Carl Justis Winckelmann-Biographie, die allerdings weit mehr beabsichtigt als nur die Lebensbeschreibung eines Gelehrten. Mehrfach ist Jacob Burckhardts Leben und Denken monographisch geschildert worden, namentlich in der vielbändigen Biographie von Werner Kaegi. Von Heinrich Wölfflin ist zumindest die "Biographie" seiner Kunstttheorie geschrieben worden [1]. Der Locus classicus der intellektuellen Biographie eines Kunsthistorikers ist aber natürlich Ernst Gombrichs Darstellung des Lebens und Denkens von Aby Warburg, die bereits 1970 in englischer Sprache erschienen ist. Ob Dehio in dieser Reihe bestehen kann, und ob der ihm gewidmete Aufwand nicht übertrieben ist, mag man bei der Lektüre entscheiden. Sicherlich bietet das ziemlich ruhige, von Lesen, Schreiben und Reisen geprägte Leben nicht viel Aufregendes. Dehios wissenschaftliche Laufbahn ist wenig abwechslungsreich; sein Denken, wie man ehrlicherweise sagen muss, kann man kaum als bahnbrechend bezeichnen, aber Dehio lebte ein charakteristisches Kunsthistorikerleben, wie man es sich in diesen Jahrzehnten vorzustellen hat, mit durchaus bedeutendem Ertrag.
Betthausens Buch entfaltet dieses Leben im Wesentlichen chronologisch, wobei er, wie sich das gehört, eine Persönlichkeit sichtbar macht, die vielfältig im fachwissenschaftlichen Diskurs der Zeit eingebunden war und von deren spezifischem Standpunkt aus sich manche Entwicklung von allgemeinerer Relevanz besser sehen und verstehen läßt. In der Form hat sich Betthausen für eine Mischung von historisch-biographischer Erzählung und Paraphrase ausgewählter Texte entschieden. Das jeweilige Hauptproblem eines Textes wird dabei in der Regel in den Mittelpunkt gestellt und im Verweis auf konkrete Äußerungen von Kontrahenten oder Rezensenten besprochen. Tiefergehende Analysen zentraler Problemzusammenhänge im disziplingeschichtlichen Rahmen fehlen jedoch, ebenso eine eigentliche Diskussion der einschlägigen Forschungsliteratur - offensichtlich aufgrund der Ökonomie der Darstellung: Es sollte am Ende eine lebendige Biographie dastehen, die man auch gerne liest, und die auch Würdigung eines Gelehrtenlebens sein sollte. Das ist verständlich und im Wesentlichen gelungen. Dennoch ist manches, zumal das zu einem Nachwort geratene Schlusskapitel zu "Dehio und die deutsche Kunstgeschichte", zu knapp und schlicht zu unkritisch ausgefallen.
Am fachhistorischen Fundament des Autors hätte es jedenfalls nicht gefehlt, wie schon der Blick auf das gemeinsam mit Peter H. Feist und Christiane Fork herausgegebene, längst zu einem Standardwerk gewordene Lexikon der deutschsprachigen Kunsthistoriker belegt (Metzler 1999), für das er über siebzig Artikel verfasst hat. Etwas weiter zurück liegt Betthausens Mitarbeit an der monumentalen "Geschichte der deutschen Kunst", die als ein Prestigeprojekt der DDR im Jahr 1990 mit dem zuletzt erschienenen Band zur Zeit von 1918 bis 1945 nicht ganz vollendet werden konnte. Unvermeidlich wird man in der Arbeit an diesem respektabelsten Versuch einer Gesamtdarstellung der Geschichte der deutschen Kunst in der Nachkriegszeit - im Nachwende-Deutschland sind seither die Werke von Robert Suckale (1998) und Heinrich Klotz/Martin Warnke (1998-2000) gefolgt - auf Georg Dehios "Geschichte der deutschen Kunst" gestoßen sein. In den zwanziger Jahren identifizierte man Dehio mit diesem in drei Text und drei Abbildungsbänden 1919 bis 1926 erschienenen Alterswerk, das Betthausen auf gut fünfzig Seiten sehr breit erläutert. Kaum ein Buch veraltet allerdings so schnell wie eine kunsthistorische Gesamtdarstellung. Kaum zehn Jahre später war Dehios Blick auf die Geschichte der deutschen Kunst durch Wilhelm Pinders besser in die Zeit passende Kunstgeschichte mit dem bezeichnenden Titel "Vom Wesen und Werden deutscher Formen" abgelöst (1935-39). Diese so signifikante Verdrängung, aufgrund der allein schon Dehios Auffassung sich von der Kunstgeschichte des dritten Reiches scharf abgrenzen lässt, erwähnt Betthausen nur beiläufig im Vorwort.
Im kunsthistorischen Alltag allgegenwärtig und von nachhaltigerer Wirkung als dieses Alterswerk Dehios war sein "Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler" - der "Dehio" schlechthin, jenes in fünf Oktavbänden von 1905 bis 1912 in Zusammenarbeit mit einer Reihe von Gelehrten erstellte, maßgeblich vom Kaiser finanzierte und vom "Tag der Denkmalpflege" unterstützte Reisehandbuch zu den immobilen Kulturgütern im Reichsgebiet. Betthausen widmet dem Handbuch ein relativ kurzes, dafür desto spannenderes Kapitel, was insofern konsequent ist, als Dehio hier größtenteils nur als Herausgeber und Redakteur auftrat und das Konzept schnell erklärt ist. Dieses Handbuch liegt inzwischen in einer Neuauflage vor und sein etwas modifiziertes, aber im wesentlichen doch beibehaltenes Konzept scheint zeitgemäßer denn je. Dehio hatte diese Buchreihe entworfen, um über die Grenzen der Länder hinweg, deren sehr unterschiedlich fortgeschrittene und untereinander uneinheitliche Bemühungen der Denkmälerinventarisation gleichsam auf einer höheren, nationalen Ebene zusammenzufassen und fruchtbar zu machen. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern entstand ein Führer ohne Abbildungen (!), der mittels sachlich kurzer, historisch informierter und immer auch wertender Beschreibungen zur Wahrnehmung der Objekte an ihrem historischen Ort anleiten sollte. So schlicht die Texte dieses Handbuches sind, in diesem Werk ist die Arbeits- und Denkweise Dehios und seine Motivation vielleicht doch am besten zu verstehen. Das "Handbuch" basiert auf Dehios prinzipieller Überzeugung, dass ein Werk der Kunst grundsätzlich zu seinem Verständnis der historischen Kontextualisierung bedarf, ja, dass es seine Funktion eigentlich nur erfüllt, wenn diese Beziehung fassbar bleibt. Diese Verbindung zur Geschichte ist es, die der Historiker der Kunst zu erläutern hat, wozu es natürlich nötig ist, den authentischen Bestand eines Objektes zu sichern und zu dokumentieren.
Dabei wäre es aber wohl falsch, Dehio als reinen historistischen Positivisten zu bezeichnen, selbst wenn er, wie Betthausen in den ersten Kapiteln erläutert, als Historiker beim Ranke-Schüler Georg Waitz in Göttingen promovierte und sich mit einer streng historischen Studie über das Bistum Hamburg-Bremen in München habilitierte. Im Umgang mit der Geschichte der Kunst, der sich Dehio als Privatdozent in München und als Ordinarius in Königsberg (1883-1892) zuwandte, bemühte er sich immer um ein Qualitätsurteil; die alleinige Feststellung der Fakten zur Bau- und Entstehungsgeschichte hätte er als sinnlos empfunden. Dieses Qualitätsurteil war aber entschieden zu relativieren durch den historischen Kontext. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Forschung Georg Dehios, der wie alle Kunsthistoriker dieser Zeit über die italienische Renaissance zur Kunstgeschichte fand, sein Spektrum dann aber im Blick auf die "Christliche Baukunst des Abendlandes" (so der Titel des monumentalen mit Gustav Bezold erstellten Tafelwerks) weitete, um sich bald nur noch mit der deutschen Kunst zu befassen, wobei dem Mittelalter seine klare Vorliebe galt.
Nicht nur diese Schwerpunktbildung qualifiziert Dehio als "deutschen" Kunsthistoriker. Bereits seine historische Doktorarbeit ist im Kontext der Zeit zu sehen, der die patriotische Perspektive forderte. "Wer um 1870 seinen historischen Doktor machen wollte, suchte sich ein Thema auf dem großen Gebiet der nationalen Geschichte des Mittelalters", schreibt dazu lapidar Betthausen (43). Hinzu kam die Herkunft Dehios aus einem Gebiet, das seit dem Mittelalter von Deutschen kolonisiert war. Die Berufung Dehios auf den Straßburger Lehrstuhl, den er von 1894-1914 versah, läßt sich denn auch nicht nur damit erklären, dass er ein fähiger Kunsthistoriker war. Die Universität war ein Instrument der preußischen Herrschaftsmacht, und Dehio war als Deutschbalte, der sich als geborener Kolonist sah, prädestiniert für den Posten. Kunsthistoriker in Straßburg zu sein war in sehr spezifischem Sinn eine Aufgabe von nationaler Bedeutung - wenig erstaunlich also, dass die erste Vorlesung Dehios in Straßburg die deutsche Kunst behandelte. Ebenso ist die Tatsache, dass die Kaisersöhne August Wilhelm und Joachim von Preußen später nach Straßburg kamen, um kunstgeschichtliche Vorlesungen zu hören, nicht nur Dehios Renommée zu verdanken.
Diese zeitspezifische Situation des Gelehrten bringt Betthausen durchaus immer wieder zur Sprache, doch fällt die kritische Analyse merkwürdig zurückhaltend aus, wo sie nicht ganz fehlt. Dehio war zweifellos ein patriotischer Historiker, ein nationaldeutsch gesinnter Gelehrter. An dieser engagierten Haltung ist nichts ungewöhnlich und sie fand sich, wenn man an Emile Mâle denkt, auch auf der anderen Seite des Rheins. Immerhin kann man Dehio nur selten chauvinistische Ausfälle nachweisen, etwa in den Jahren des Ersten Weltkrieges in der öffentlichen Rechtfertigung der deutschen Artillerieangriffe auf die Kathedrale von Reims. In der "Geschichte der deutschen Kunst" sind völkerpsychologischen Trivialthesen selten, aber sie sind eben doch bezeichnend. Es mag noch harmlos sein, wenn Dehio behauptet: "Dem gesellschaftlich angelegten Franzosen ist der Besitz einer durch Übereinkommen geregelten Form Bedürfnis; dem Deutschen wird die Form, wo sie zur Vorschrift erstarrt, ein lähmender Druck" (Bd. II, zit. Betthausen 329). Mit solchen Äußerungen erreichte Dehio gewiss das Ohr des Volkes, bestätigte er doch nur, was man für evident hielt.
Desto wichtiger ist die Feststellung, daß Dehio nicht von konstanten, etwa durch die "Rasse" bedingten Nationalcharakteren ausging (331). Die Arbeit Dehios zielt letztlich auf die Bestimmung der spezifischen Position der deutschen Kunst im europäischen Gefüge, das heißt aber auch auf die Bestimmung einer wesentlich kulturell konstituierten Identität eines "deutschen Volkes". In diesem Sinn ist, wie Dehio im oft zitierten Vorwort zum ersten Band der "Geschichte der deutschen Kunst" anmerkte, der "Held" seiner Geschichte das "deutsche Volk": In der Darstellung der Geschichte der Kunst will er seinen deutschen Zeitgenossen vorführen, wie sich ihr kollektives "Wesen" im Ablauf der komplizierten Wechselfälle der Geschichte herausgebildet habe. Dehios Rückbindung der Kunst an die allgemeine Geschichte ist gewiss ein Rationalisierungsschritt, dennoch ist "Heldenwesenskunstgeschichte" dieser Art heute indiskutabel geworden - was man im gegebenen Kontext deutlich ansprechen sollte, um Missverständnisse zu vermeiden.
Dies kann die Verdienste von Betthausens Dehio-Biographie kaum schmälern. Es ist eine Fülle an Material mit großer Übersicht dargeboten, wodurch kritischen, weiter denkenden Lesern ein eigenes Urteil ermöglicht wird - und vielleicht genügt es ja, hier auf Eduard Hüttingers kurzen, kritisch ausgewogenen Aufsatz über Dehio hinzuweisen [2], den man zur Ergänzung von Betthausens lebendiger Würdigung des Gelehrten immer noch mit Gewinn lesen mag.
Anmerkungen:
[1] Meinhold Lurz: Heinrich Wölfflin. Biographie einer Kunsttheorie, Worms 1981.
[2] Eduard Hüttinger: "Georg Dehio. Kunstgeschichte als Geschichte", (NZZ, 1983), wiederabgedruckt in: E. H., Porträts und Profile. Zur Geschichte der Kunstgeschichte, St. Gallen 1992, 58-67.
Hubert Locher