Helmut Puff / Christopher Wild (Hgg.): Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen: Wallstein 2003, 208 S., 17 Abb., ISBN 978-3-89244-628-6, EUR 24,00
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Im internationalen Kontext erweist sich die Frühneuzeitforschung - seien es die Geschichtswissenschaften im engeren oder die Kulturwissenschaften im weiteren Sinn - immer wieder als ein anregendes Versuchslaboratorium, um neue Forschungsfragen zu generieren oder mit methodischen Ansätzen zu experimentieren. Auch wenn sie innerhalb Deutschlands aufgrund der drückenden Übermacht der jüngeren Vergangenheit, die Karl-Heinz Bohrer jüngst als "Verlust des historischen Fernverhältnisses" und "Erinnerungslosigkeit" identifizierte, [1] eine deutlich geringere Rolle spielt als beispielsweise in England, Spanien, Frankreich oder Italien, zeigt sich doch auch hier immer wieder ihr innovatives Potenzial. So ist es sicherlich kein Zufall, dass die Diskussionen um eine kulturwissenschaftliche Wende ihr Zuhause eben (wenn auch keineswegs ausschließlich) in der Frühneuzeitforschung haben. Von besonderem Interesse ist dabei die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die bei Tagungen und Kongressen immer weitere Verbreitung findet und eindrückliche Ergebnisse zutage fördert.
In diesem Zusammenhang weckt ein Sammelband mit dem viel versprechenden Titel "Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung" hohe Erwartungen. Interdisziplinarität und Frühneuzeitforschung in dieser Weise zu verbinden, lässt zunächst einmal zwei Vermutungen zu. Einerseits könnte es sich, ausgedehnt auf mehrere Bände, um ein Werk mit enzyklopädischem Anspruch handeln, das versucht, möglichst viele Aspekte interdisziplinär angelegter Frühneuzeitforschung zu versammeln. Eine zweite Möglichkeit wäre, dass hier programmatisch, methodisch und theoretisch ausgerichtete Beiträge zusammengeführt werden, die auf einer abstrakten Ebene das Themenfeld problematisieren.
Hält man schließlich das Buch in Händen, mag es zunächst überraschen, weder die eine noch die andere Strategie verfolgt zu sehen. Vielmehr handelt es sich um einen recht übersichtlichen Band von etwas mehr als 200 Seiten, der bei insgesamt neun Beiträgen nur drei enthält, die sich auf allgemeiner Ebene mit Interdisziplinarität in der Frühneuzeitforschung beschäftigen, während die anderen Aufsätze Fallstudien darstellen. In der Einleitung entwerfen die beiden Herausgeber ein Modell von Interdisziplinarität, das durchaus mit Zustimmung rechnen kann, insofern sie die Bedeutung fundierter Disziplinarität als Voraussetzung und Ergänzung von Interdisziplinarität betonen. Fächerübergreifende Ansätze sind daher nicht per se zu feiern, sondern nur insoweit von Nutzen, als sie eine sinnvolle Relationierung der Einzeldisziplinen im interdisziplinären Austausch zustande bringen.
Nun stellt es natürlich immer eine Schwierigkeit dar, Sammelbände so zu konzipieren, dass sie den Wünschen und Erwartungen möglichst vieler Rezipienten (und Rezensenten) entgegenkommen. Alle, die sich einer solchen Arbeit unterzogen haben, wissen, dass ein solches Gemeinschaftswerk nur in sehr seltenen Fällen die inhaltliche Geschlossenheit aufweist, die Monografien eigen ist. Deshalb geht der in Rezensionen immer wieder geäußerte Vorwurf, Beiträge eines Sammelbandes würden nur durch die Arbeit des Buchbinders zusammengehalten, nicht selten an der Sache vorbei: Es sind gerade die unterschiedlichen Standpunkte und Sichtweisen, die - unter einem gemeinsamen Dach zusammengeführt - den besonderen Reiz von Sammelbänden ausmachen. Voraussetzung ist natürlich, dass die Spannweite dieses Daches den Inhalten einigermaßen entspricht.
Ich erwähne dies, um deutlich zu machen, warum meines Erachtens im Falle des vorliegenden Sammelbandes dieses Ziel verfehlt wurde. Dies spricht keineswegs gegen die einzelnen Aufsätze, die für sich genommen wertvolle Beiträge darstellen - doch gerade vor dem Hintergrund eines in der Einleitung entworfenen Ideals von Interdisziplinarität muss es enttäuschen, dass es im Rahmen dieses Bandes nicht gelingt, ein solches Programm umzusetzen. Möglicherweise wäre es weiterführender gewesen, die einzelnen Beiträge um ein bestimmtes Thema zu gruppieren, das enger ist als "Frühe Neuzeit", um auf diese Weise den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden.
Es genügt, die Gegenstände der einzelnen Beiträge stichwortartig zusammenzufassen, um dieses Problem zu illustrieren: Valentin Groebner und Lorraine Daston widmen sich dem weiteren Themenzusammenhang auf einer allgemeineren Ebene. Groebner stellt beispielsweise einen wichtigen Wandel in der Darstellungsweise spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Geschichte fest, wenn er in den 1970er- und 1980er-Jahren einen Umschwung konstatiert von einem "vertikalen" Erzählmodus, der die historischen Grundlagen der eigenen Gegenwart freizulegen versucht, zu einem "horizontalen" Erzählmodus, der durch die Stichworte Montage, Heterogenität und Rekombination von Diachronie und Synchronie geprägt ist. Lorraine Daston geht auf das Verhältnis von Frühneuzeitforschung und der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ungemein produktiven und anregenden Wissenschaftsgeschichte ein. Die Chancen für eine disziplinäre Zusammenarbeit stehen nach Dastons Meinung so gut wie selten, da beide sich - durchaus im Sinne Groebners - von den Traditionen der Ursprungserzählungen verabschiedet hätten.
Die weiteren Aufsätze, die sich jeweils einem Fallbeispiel zuwenden, können ob der Weite des Ansatzes von Früher Neuzeit und Interdisziplinarität dem Gesamtunternehmen nur noch bedingt zum Erfolg verhelfen, auch wenn sie für sich genommen durchaus gelungene Beiträge darstellen. Dominik Perler unterzieht aus philosophischer Perspektive Descartes' "Meditationen" einer erneuten Lektüre, wobei er nicht die subjektivitäts- und erkenntnistheoretischen Traditionen in den Vordergrund rückt, sondern die physikalischen, pragmatischen und rhetorischen Intentionen Descartes' unterstreicht. Jan-Dirk Müller überprüft anhand von Sebastian Brants "Narrenschiff" den auf die Frühe Neuzeit anzuwendenden Textbegriff. Dabei wird vor allem deutlich, dass eine geschlossene, autonome und mit sich selbst identische Einheit "Text" kaum weiterführend ist, sondern von der Offenheit und allgemeinen Verfügbarkeit von Texten auszugehen ist. Christine Göttler unternimmt eine ähnliche Ausweitung für die Kunstgeschichte, wenn sie den traditionellen Bildbegriff einer Kritik unterwirft und auf andere in der Kunst der Frühen Neuzeit verwendete Materialien aufmerksam macht. Im konkreten Fall wendet sie sich den italienischen Wachsfiguren des 17. Jahrhunderts zu. Nicht auf ein empirisches Beispiel, sondern allein auf eine knappe Diskussion der Forschungsliteratur beschränkt sich der Beitrag von Ulinka Rublack über die Ritualforschung zur Frühen Neuzeit. Susanna Burghartz wendet sich der Geschlechterforschung in der Frühen Neuzeit zu und stellt sie als wichtiges Exempel interdisziplinärer Zusammenarbeit heraus, während sich Christian Kiening am Beispiel Philips von Hutten, der im Auftrag der Welser in Venezuela tätig war, der definitorischen Macht der Texte von Kolonisatoren widmet. Alles in allem handelt es sich, wie gesagt, um durchaus gelungene Beiträge, jedoch bereitet es sehr große Schwierigkeiten, den interdisziplinären Faden, der sie verbindet, zu entdecken.
Selbstverständlich wird in den verschiedenen Beiträgen immer wieder das Schlagwort der Interdisziplinarität bemüht, aber in seiner Gesamtheit gibt der Sammelband wohl eher den Kritikern Recht, die vermuten, es handele sich bei "Interdisziplinarität" nur um ein neues Etikett, das als Modernitätssignal auf bereits bekannte Inhalte geklebt werde. Da mit Interdisziplinarität in der Frühen Neuzeit wesentlich produktiver umgegangen werden kann, muss vor allem die durch diesen Sammelband versäumte Chance bedauert werden.
Anmerkung:
[1] Karl-Heinz Bohrer: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung, München / Wien 2003, 10.
Achim Landwehr