Wolfgang Schäuble: Scheitert der Westen? Deutschland und die neue Weltordnung. Mit einem Vorwort von Henry A. Kissinger, München: C. Bertelsmann 2003, 272 S., ISBN 978-3-570-00788-4, EUR 21,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ronald J. Granieri: The Ambivalent Alliance. Konrad Adenauer, the CDU/CSU, and the West, 1949-1966, New York / Oxford: Berghahn Books 2003
Egon Bahr: "Der deutsche Weg". Selbstverständlich und normal, München: Karl Blessing Verlag 2003
Corine Defrance / Ulrich Pfeil (Hgg.): Der Élyséevertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 - 1963 - 2003, München: Oldenbourg 2005
Lange wurde Wolfgang Schäuble, einst politische Schlüsselfigur der "Ära Kohl" und in der CDU-Spendenaffäre jäh gestürzter Parteivorsitzender, als Bundespräsidenten-Kandidat gehandelt. Und so liest sich sein Buch streckenweise auch wie ein Empfehlungsschreiben für das Amt eines überparteilichen Staatsoberhauptes. Rhetorische Schärfe gegen politische Gegner sucht man vergebens. Gewiss, der Unionspolitiker teilt manchen Seitenhieb gegen die rot-grüne Bundesregierung aus, etwa wenn er dem Bundeskanzler die für die Durchsetzung grundlegender Reformen notwendige Stetigkeit abspricht, oder wenn er mahnt, eine verantwortungsbewusste Politik solle besser den Scherbenhaufen vor der eigenen Tür aufkehren, statt den amerikanischen Präsidenten belehren zu wollen. Doch insgesamt bleibt Schäubles Kritik abwägend und versöhnlich.
Bei der Vorstellung des Buches fungierte der grüne Außenminister Joschka Fischer als Laudator. Dies passt zum schwarz-grünen Grundtenor und zur öko-konservativen Nachdenklichkeit, mit der Schäuble mehr ökologische Nachhaltigkeit und Bescheidenheit beim Verbrauch endlicher Ressourcen einfordert.
Schäuble entwirft ein düsteres Bild des westlichen Kapitalismus, der nach dem Sieg über den Kommunismus in den 1990er-Jahren mit der Globalisierung einen ungezügelten Boom erlebt habe. Zwar mag der kritische Leser zweifeln, ob die Bundesrepublik der reformträgen späten "Ära Kohl", in der Schäuble selbst vergeblich für mehr Veränderungen kämpfte, als neoliberales El Dorado gelten kann. Schäuble sieht indes das neuzeitliche "Interregnum des Marktes", das er vom Mauerfall bis zu den Terroranschlägen vom 11. September datiert, durch eine gefährliche Dominanz wirtschaftlicher Kategorien und eklatante ideelle Defizite gekennzeichnet, die sich in der Erosion von Werten manifestierten. Diese Entwicklung habe eine Entsolidarisierung gefördert und die Lockerung traditioneller sozio-kultureller Bindungen beschleunigt, die wie Ehe, Familie oder Beruf heute kaum noch lebenslang Bestand und damit ihre gesellschaftsstabilisierende Funktion eingebüßt hätten.
In technisch-wirtschaftlich weniger entwickelten Kulturkreisen habe die allzu rücksichtslose Ökonomisierung und Universalisierung des westlichen Gesellschaftsbildes zu Bedrohungsperzeptionen geführt. Der 11. September sei auch eine Quittung für Exzesse der Globalisierung: "Die daraus folgende Reaktion ist eine bisweilen militante Kulturverteidigungshaltung aus einer Opferrolle heraus, die am Ende die Selbstmordattentäter zunächst im Nahen Osten und schließlich im Zentrum der Globalisierung, in New York City, agieren ließ" (178). Vielerorts habe die ungezügelte Entfaltung der Marktkräfte "Gesellschaften mit Raubtiercharakter" (46) hervorgebracht. Auf der Linie dieser Kapitalismuskritik liegt Schäubles Forderung, die ökonomische Schere durch finanzielle Entlastung der Entwicklungsländer zu verringern. Die USA und Europa mahnt er zum Abbau von protektionistischen Handelshemmnissen und Subventionen. Auch wenn Schäuble hier einer weiteren Marktöffnung das Wort redet und erdrückende Überregulierungen beklagt, gegen die er den Subsidiaritätsgedanken stellt, spricht in diesem Buch kein Neoliberaler, sondern ein Autor mit großem Verständnis für Ängste von Globalisierungsgegnern.
"Scheitert der Westen?" ist das Manifest eines Konservativen. Statt sich von der Dynamik der Moderne treiben zu lassen, gelte es, diese zu steuern und "neben das Erneuern und Modernisieren auch das Bewahren [zu] stellen" (20). Insofern handelt Schäubles Buch mehr von Kulturkritik als von Außenpolitik im engeren Sinne.
Besorgt fragt er nach der Zukunft des Westens angesichts der Strukturkrise des Sozialstaates, der Verwerfungen im transatlantischen Bündnis, einer unübersichtlichen Weltordnung und von Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus. Dabei konstatiert er Ähnlichkeiten der deutschen und der globalen Krise, weil es "Probleme des Westens sind, die die westlichen Staaten individuell und gemeinsam lösen müssen" (12). Schäuble empfiehlt eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte und bekennt sich zur Notwendigkeit von Eliten, die in ihrer Vorbildfunktion unersetzbar seien. Von der Politik fordert er "mehr leadership, mehr Initiative, mehr Mut und Leidenschaft" (11). Damit der Westen der Aufgabe nachkommen könne, Freiheit, Offenheit, Wohlstand und Demokratie friedlich mit anderen zu teilen, empfiehlt Schäuble zwei Weisheiten der Antike als Leitstern politischen Handelns: "Erkenne Dich selbst" und "Nichts im Übermaß". Wie ein roter Faden durchziehen die beiden Motive das Buch.
Ausdrücklich begrüßt Schäuble das Ende des zu schnelllebigen, oberflächlichen und technokratischen "Interregnums des Marktes", das zu sehr nicht-materielle Bedürfnisse des Menschen ignoriert habe. Wie bei der Sozialen Marktwirtschaft will er den anarchistischen Wildwuchs der globalisierten Märkte durch internationale Mindeststandards und Gesetze zähmen: "Globalisierung ohne Regeln und ohne ein notwendiges Maß an Fairness und Humanität ist zum Scheitern verurteilt" (90).
Ungeachtet transatlantischer Zerwürfnisse sieht Schäuble den Westen als "Schicksalsgemeinschaft". Bei aller Grundübereinstimmung verkennt er keinesfalls wesentliche Mentalitätsunterschiede zwischen Europa und den USA. Diese gelte es komplementär für eine konstruktive "Arbeitsteilung" zu nutzen. Aus ihrer historischen Erfahrung wettstreitender Staaten auf engem Raum könnten die Europäer ihre leidvoll erlernte Wertschätzung von Toleranz und Geduld, von Gleichgewicht und Machtbegrenzung einbringen. Die USA dagegen würden sich durch Optimismus und Tatkraft auszeichnen, liefen aber auch immer wieder Gefahr, in Unilateralismus und manichäistisches Denken zu verfallen.
Kritisch kommentiert Schäuble das Verhalten beider Seiten in der Irakkrise. Wer Multilateralismus fordere, mahnt er die "Alteuropäer", müsse zu eigenen Beiträgen fähig sein und die Voraussetzungen schaffen, um politisch und militärisch als starker Partner handeln zu können. Die Positionierung der Bundesregierung gegen Washington sei geschichtsvergessen, denn gerade die Deutschen hätten Grund zur Dankbarkeit gegenüber den USA, ohne die es schwerlich eine "Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik und wohl auch keine Wiedervereinigung gegeben hätte. Schlimmer, die deutsche Außenpolitik habe die Balance zwischen europäischer und atlantischer Partnerschaft verloren. Dabei habe sich schnell "bestätigt, dass derjenige, der Europa gegen die USA einen wollte, am Ende nur Europa spalten wird" (137). Umgekehrt müssten die USA erkennen, dass sie Partner nicht zu Steigbügelhaltern degradieren dürften. Sie sollten "die Verrechtlichung internationaler Beziehungen oder internationale Organisationen nicht als Last oder Bremse, sondern als Errungenschaft begreifen" (167).
Hier knüpft Schäuble an seinen Vorstoß zur Weiterentwicklung des Völkerrechts an. Dieses will der gelernte Jurist der neuen Weltordnung anpassen, weil der souveräne Staat als alleiniges Völkerrechtssubjekt kaum noch der Realität des 21. Jahrhunderts entspreche. Das geltende Interventionsverbot solle durch das Institut der humanitären Intervention modifiziert werden, über deren Legitimität rechtlich geordnete multilaterale Institutionen entscheiden sollten.
Im Umgang mit anderen Kulturen warnt Schäuble vor Hybris und Missionarismus, da westliche Lebensart keinesfalls überall als Heilsmodell begriffen werde. Der Westen müsse im offenen Dialog lernen, anderen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Andererseits habe der Westen keinen Grund, sich seiner Prinzipien zu schämen; vielmehr solle er seine positiven Erfahrungen "viel aktiver und selbstbewusster 'verkaufen'" (181). Schäuble ist sich des Dilemmas bewusst, dass zwischen diesen beiden Positionen ein Spannungsverhältnis besteht und die Gratwanderung zwischen Beratung und Bevormundung schwierig bleibt.
Für Deutschland fordert Schäuble eindringlich innere Reformen, um seiner außenpolitischen Verantwortung gerecht zu werden. Deutschland müsse mithelfen, ein Scheitern des Westens zu verhindern: "Wenn ein strauchelnder Westen, wenn ein reformunfähiges Deutschland mit all seiner Wirtschaftskraft [...] Vorbilder, Werte, Gestaltungsmöglichkeiten nicht mehr bieten könnte, dann wirken wir auf andere nicht mehr überzeugend" (221).
Schäubles Buch wartet kaum mit revolutionären Thesen auf. Seine problembewussten und selbstkritischen Analysen bieten aber manche Denkanstöße und geben einen Einblick in die Weltsicht dieser, wie Henry Kissinger es im Vorwort formuliert, "führende[n] Persönlichkeit in der zweiten Generation deutscher Nachkriegspolitiker".
Tim Geiger