Egon Bahr: "Der deutsche Weg". Selbstverständlich und normal, München: Karl Blessing Verlag 2003, 158 S., ISBN 978-3-89667-244-5, EUR 12,00
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Vor einigen Jahren hat Egon Bahr bekannt, sein "zentrales Thema, das mal Deutschland-, mal Außen-, mal Ost- und mal Sicherheitspolitik genannt wurde", sei "im Grunde immer dasselbe" geblieben: "Deutschlands Selbstbestimmung in Europa." [1] Diesem Themenfeld ist der außenpolitische Stratege der SPD auch in seinem neuen Buch treu geblieben, das vor allem die außenpolitischen Handlungsspielräume Deutschlands und Europas ausloten will.
Der plakative Titel des streitbaren und lesenswerten Essays soll provozieren. Der "deutsche Weg" - das erweckt leicht Reminiszenzen an unheilvolle Sonderwege, an wilhelminische Großmannssucht und hitlersche Welteroberungspläne. Die rot-grüne Bundesregierung hat das von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002 mit Blick auf den Irak-Konflikt geprägte Schlagwort rasch wieder fallen gelassen. Bahr hingegen bedauert, "dass Schröder den deutschen Weg schnell auf die Sozialpolitik" verengt habe (138). Auch außenpolitisch sei diese Kategorie "selbstverständlich und normal".
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sei "der deutsche Weg selbst zu verantwortende Geschichte" gewesen. Danach habe man den Deutschen den Weg gewiesen. "Wir wurden gegangen" (46), stellt Bahr mit Blick auf die Nachkriegszeit und die begrenzte Souveränität der Bundesrepublik fest. Dem geeinten Deutschland empfiehlt er, vergangenheitspolitische Obsessionen zu überwinden und auch international mutig Verantwortung zu übernehmen. Seit jeher vom Nationalen her denkend, diagnostiziert Bahr "fast eine Bringschuld der Deutschen", ein "normales Verhältnis zur Nation zu entwickeln" und wie jeder andere Staat eigene Interessen zu vertreten: "Wir müssen uns von der fast psychopathischen Last heilen, psychopathisches Leid zu kultivieren. Die Vergangenheit darf die Zukunft nicht behindern." (137) Warnrufe vor einem neuen deutschen Sonderweg hält er folgerichtig für absurd.
Derlei unbekümmerte nationale Sentenzen sind aus der politischen Klasse im allgemeinen und aus dem Lager der demokratischen Linken im besonderen nur selten zu vernehmen. Es wäre indes irreführend, hier einen Nachhall der SPD Kurt Schumachers zu vermuten. Heimlicher Stichwortgeber Bahrs ist vielmehr Charles de Gaulle. Häufig treffen sich seine Ausführungen mit den Positionen, die der große Franzose in den 1960er-Jahren vertreten hat. Dies trifft auf die Vorbehalte gegen ein Übermaß supranationaler Integration ebenso zu wie auf die Wertschätzung des deutsch-französischen Tandems oder auf die Zielperspektive eines Europas der Vaterländer. Getreu des dialektischen Paradoxons, das schon die Ostpolitik auszeichnete, doziert Bahr: "Der Nationalstaat ist unter dem Gesichtspunkt der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit überholt. Er ist unentbehrlich geblieben, um sie europäisch zu gewinnen." (86) Bahrs Überzeugung, die NATO sei "das amerikanische Instrument der Kontrolle aller ihrer Mitglieder" (125), klingt wie de Gaulle redivivus. Wie dieser plädiert er für die "Europäisierung Europas", also die eigenständige Entwicklung und Selbstbestimmung Europas. Diese sei nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der Auflösung der UdSSR "nur noch im Verhältnis zu Amerika zu gewinnen" (100).
Die Selbstbehauptung Europas gegenüber den Vereinigten Staaten ist ungeachtet des irreführenden Titels Bahrs eigentliches Thema. Die zur Hypermacht herangewachsenen USA sieht Bahr in erster Linie verantwortlich für die wachsende transatlantische Kluft. Erstmals in der Geschichte gebe es nun einen Staat, der "alle Voraussetzungen zur selektiven Weltherrschaft" erfülle (50). Als Realpolitiker verliert er sich jedoch nicht in Wunschvorstellungen und moralinsauren Polemiken; im Gegenteil, er hält das Streben der USA nach dem Ausbau ihrer hegemonialen Stellung für legitim. Gemäß der Logik von Macht und Interesse ließen sich die Vereinigten Staaten wie einst das antike Rom von einem natürlichen Expansionsdrang zur vorbeugenden Absicherung ihres Imperiums leiten: "Das ist eine Droge, für die es keine Entziehungskur gibt. Amerika wird diesem Antrieb folgen. Es gibt keinen Grund zu stoppen, keinen Willen und auch keine innere Bereitschaft." (63)
Obwohl sich Bahr der Tatsache bewusst ist, dass die amerikanische Politik von "Power and Mission" (Detlef Junker) angetrieben wird, konzentriert er sich auf die machtpolitischen Aspekte, da diese in Deutschland meist systematisch vernachlässigt würden. In seiner kühlen und stets sachlichen Analyse konstatiert Bahr, die USA würden inzwischen nach dem Motto handeln: "Der Starke ist am mächtigsten allein." Rücksichten auf Partner oder vertragliche Bindungen gälten als hinderlich. Auch das Völkerrecht und die Regularien des UN-Systems würden den nationalen Interessen untergeordnet. Nach dem verheerenden Terroranschlag auf das World Trade Center habe Amerika konsequent die Chance ergriffen, längst geplante Maßnahmen zur Perpetuierung seiner uneinholbaren militärischen Überlegenheit umzusetzen. So seien die USA "zum größten unmittelbaren Profiteur des 11. September" (58) geworden.
Das Gegenmodell zum kriegerischen, unilateral agierenden Amerika kann nach Bahr nur ein zusammenwachsendes Europa sein, dessen Prinzipien von Gewaltverzicht, friedlicher Konfliktregelung, Kompromiss und Kooperation mustergültige Grundlagen für das Zusammenleben in einer multipolaren Welt seien. Ziel der Europäer bleibe, "das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts zu ersetzen", ein Königsweg, der jedoch "die Stärkung der Vereinten Nationen" verlange (105). Immer deutlicher schäle sich angesichts der amerikanischen Herausforderung eine Bruchlinie zwischen "US-Willigen und UN-Willigen" (109) heraus. Europa könne seine bewährte Grundposition nicht preisgeben, ohne seinen Charakter zu verlieren: "Ohne die Selbstbehauptung unserer Werte wären wir auf dem Weg vom Protektorat zur Kolonie" (115).
Europa müsse sich aus zwei Gründen von der amerikanischen Vormundschaft emanzipieren: Zum einen, um seine Würde und Interessen zu wahren, zum anderen aber auch, um als eigenständige westliche Alternative zum "american way" ernst genommen zu werden. Gleichwohl brandmarkt Bahr den vielfach grassierenden Antiamerikanismus als "dumm" (76). Er vertritt die These, dass eine Emanzipation Europas keinesfalls zur Konfrontation mit Amerika führen müsse. Vielmehr könne es zu einer Art Arbeitsteilung zwischen ebenbürtigen Partnern kommen. Europa fiele dabei die Aufgabe zu, durch präventive Diplomatie präventive Militärschläge der USA unnötig zu machen. Eine solche Politik nehme den USA nichts von ihren Fähigkeiten, könne ihnen aber einen Krieg ersparen. Umgekehrt erhöhe sich die Wirksamkeit von Europas Friedenspolitik, wenn sie, wie einst die deutsche Entspannungspolitik, durch Amerikas Macht gedeckt sei.
Von den Kritikpunkten und Vorschlägen Bahrs ist vieles berechtigt und bedenkenswert. Allerdings ist seine Argumentation nicht immer frei von Widersprüchen. So rühmt er das Verbot von Angriffskriegen im Grundgesetz stolz als Friedfertigkeit garantierende deutsche Singularität, ohne zu bedenken, dass dies kein Hindernis für die Beteiligung der Bundeswehr an dem ohne UN-Mandat geführten Krieg der NATO gegen Jugoslawien gewesen ist. Ängste vor Deutschland, die sich in Nachbarländern immer wieder beobachten lassen, werden nicht dadurch obsolet, dass der große alte Mann der Sozialdemokratie einfach erklärt, der deutsche Weg sei gänzlich ungefährlich und zudem schlechterdings europäisch. Abwegig erscheint auch Bahrs Empfehlung, ausgerechnet das bestenfalls semi-demokratische Russland "als geschichtlich und kulturell vornehmlich europäisches Land mit seiner 'besonderen Chemie' für Amerika" als künftigen Brückenbauer zwischen Europa und den USA zu sehen (143 f.). Hier wird vorschnell die bewährte westliche Schicksalsgemeinschaft durch neue Allianzen ersetzt, was in den ehemaligen Staaten des Ostblocks Rapallo-Reminiszenzen schüren und die Orientierung auf die transatlantische Schutzmacht USA verstärken dürfte. Unausgegoren wirken die Überlegungen zu einer derzeit reichlich utopischen Europa-Armee. Einerseits empfiehlt Bahr, "Europa sollte in nüchterner Einschätzung der Lage seine unerfüllbaren Ambitionen weltweiter militärischer Selbständigkeit aufgeben" (119), andererseits befürwortet er eine globale Einsatzfähigkeit europäischer Streitkräfte "im Auftrag der Vereinten Nationen oder im Einverständnis mit den Betroffenen" (130). Angesichts des engagierten Plädoyers für eine real fundierte europäische Eigenständigkeit wirkt es zudem inkonsequent, europäische Atomstreitkräfte definitiv auszuschließen und sich weiter ganz auf den Nuklearschirm Amerikas zu verlassen.
Ungeachtet aller transatlantischer Zerwürfnisse, vor allem über den Irak-Krieg, mag man sich fragen, ob die jahrzehntelang tragende Wertegemeinschaft wirklich so irreparabel zerbrochen ist, wie Bahr glauben machen will, zumal nicht alle seine Beispiele überzeugen. So behauptet er, der Kern der Demokratie bestehe in Amerika aus einklagbaren Rechten des Einzelnen, während er in Europa auf dem Recht der Parlamente beruhe (113). Das mag allenfalls cum grano salis auf Großbritannien zutreffen, gewiss aber nicht auf das kontinentaleuropäische Rechtsverständnis, wie es im Grundrechtskatalog und der Rechtswegegarantie des Grundgesetzes festgelegt ist.
Im Kalten Krieg galten enge deutsch-amerikanische Beziehungen als zweites Grundgesetz der Bundesrepublik. Wenn Bahr nun gegen jene polemisiert, "die das gewohnte Axiom der zuverlässigen deutschen transatlantischen Bindung zu einer deutschen Pflicht erheben" (140), deren Haltung als "Amerika-Beflissenheit" (149) abtut und in die Nähe von Kollaboration rückt, dann schießt er im Überschwang seiner Streitschrift für ein selbstbestimmtes Europa übers Ziel hinaus. Egon Bahr hat Deutschland und Europa - vielleicht etwas vorschnell - ein Volljährigkeitszertifikat ausgestellt und einen Weg aufgezeigt, der letzten Endes zu einer endgültigen Scheidung der transatlantischen Ehe führen könnte, was im Endeffekt jedoch sowohl Europa als auch Amerika schaden würde.
Anmerkung:
[1] Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1998, 172.
Tim Geiger