Ruth Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin? Das Bistum Berlin nach dem Mauerbau, Berlin: Morus Verlag 2003, 192 S., ISBN 978-3-87554-375-9, EUR 19,80
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Fast eineinhalb Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung weist die historische Erforschung der Geschichte der katholischen Kirche in der SBZ und DDR immer noch Lücken und Defizite auf. Dazu zählt vor allem auch die Geschichte von Kirche und Katholiken in der geteilten Viersektorenstadt Berlin und seinem sich jenseits der Mauer bis an die polnische Grenze erstreckenden Bistum. Ruth Jungs im Morus-Verlag veröffentlichte Magisterarbeit leistet einen bemerkenswerten Beitrag, um diese Lücke zu schließen.
Die Studie stützt sich auf unveröffentlichtes Quellenmaterial: die (Teil-)nachlässe der Berliner Kardinäle Bengsch und Döpfner, des Westberliner Generalvikars Adolph, die Handakten der kirchenpolitischen Unterhändler Groß und Zinke sowie ausgewählte Sachakten der beiden kirchlichen Verwaltungsbüros in West- und Ostberlin. Die Auswahl der zentralen Aktenprovenienzen lenkt den Fokus von vorneherein fast ausschließlich auf die geteilte Bistumskapitale "an der Nahtstelle der Systeme". Das im Untertitel erwähnte Bistum kommt nicht vor, ebenso wenig wie dessen Kontakte und Verbindungen zu den übrigen kirchlichen Ordinarien in der DDR. Eine zweite, mit der Quellenauswahl verbundene, perspektivische Verengung ist der asymetrischen Überlieferungssituation geschuldet: Die fraglichen Bestände der Deutschen und der Berliner Bischofskonferenz sind für die historische Forschung noch ganz oder teilweise gesperrt. Dass auf dieser vertretbaren Einschränkung des Quellenfundaments nur eine vorläufige Antwort auf die provozierende Titelfrage nach der Bistumseinheit seit dem Mauerbau gewonnen werden kann, ist der Autorin wohl bewusst (20, 174 f.). Diese bewusst in Kauf genommene, fehlende Tiefenschärfe wirkt sich jedoch nicht ohne weiteres nachteilig aus. Mit einer ausgezeichnet lesbaren, konzisen Schilderung der kirchenpolitischen und innerkirchlichen Vorgänge werden prononcierte Thesen verbunden, die das bislang vorherrschende Bild von der äußeren und inneren Einheit des Bistums Berlin begründet hinterfragen: 1.) Die politisch bedeutsame staatskirchenrechtliche Einheit des Bistums Berlin blieb bis 1989 unverändert erhalten, was insbesondere dem kirchenpolitischen Geschick Kardinal Bengschs zu verdanken war. Der in Ostberlin residierende Berliner Bischof hielt an dieser Einheit seines Bistums unverbrüchlich fest, und zwar entgegen dem massiven Druck der DDR-Regierung, aber auch - und das ist neu - entgegen den auf Verselbstständigung eines "freien" Westberliner Bistumsteils drängenden kirchenpolitischen Kräften in der Bundesrepublik. 2.) Der von Bischof Bengsch um der Einheit des Bistums willen verfolgte Balanceakt war nur um den Preis politischer Abstinenz in der DDR zu haben; dieser Weg verlor für die Katholiken jedoch in dem Maße an Plausibilität wie gesellschaftliche und innerkirchliche Veränderungen auch auf den Diasporakatholizismus zurückwirkten. 3.) Im symbolischen Handeln des katholischen Berlin blieben die politische Teilung und der Anspruch auf kirchliche Einheit zwar stets gegenwärtig, im Berliner Kirchenalltag hingegen wuchs die gesellschaftspolitisch bedingte Entfremdung zwischen Ost und West.
Die Thesen werden in drei systematischen, im Umfang etwa gleich gewichteten Teilen geschildert. Zu den wichtigsten Ergebnissen der innerkatholischen Auseinandersetzungen um die von Jung so bezeichnete "verbriefte Einheit" gehört der Aufweis der "Meinungsverschiedenheiten" (170) zwischen dem unmittelbar vor dem Mauerbau von Berlin nach München berufenen Kardinal Döpfner und seinem Berliner Amtsnachfolger Bengsch in der Frage, wie die Einheit des Bistums zu bewahren sei. Nach seinem Weggang aus Berlin favorisierte Döpfner die nicht zuletzt von Bonner Regierungskreisen unterstützte Auffassung, die Freiheit des Westberliner Bistumsteils durch eine Ablösung vom Gesamtbistum sicherzustellen. Die Motive für den inhaltlichen wie räumlichen Positionswechsel Döpfners bleiben mangels Quellen allerdings weiterhin unklar. Jung vermutet, dass der sich ostpolitisch neu positionierende Vatikan mit der Abberufung Döpfners und der Ernennung Bengschs gleichermaßen ein kirchenpolitisches wie pastorales Signal für die Zukunft der Berliner Kirche geben wollte (29). Die folgenden Kapitel gehen diesem innerkirchlichen Spannungsverhältnis weiter nach: den Auswirkungen der vatikanischen "Ostpolitik" auf Berlin und sein Bistum und vor allem der von Generalvikar Adolph vorangetriebenen Verselbstständigung des Westberliner Bistumsteils durch eine staatskirchenrechtliche Einigung mit der vom SPD-Oberbürgermeister Willy Brandt geführten Westberliner Regierung (61-63). Dem standen Bengschs Bemühungen gegenüber, seine Doppelzuständigkeit nicht zuletzt auch im Sinne zwischenmenschlicher Verbindungen zwischen West und Ost zu nutzen. Weitgehend unbeachtet ist bisher die vermittelnde Rolle geblieben, die die katholische Kirche im Zusammenhang mit dem ersten und zweiten Passierscheinabkommen 1963 und 1964 gespielt hat (67-69). Für die gesamte Diskussion über den kirchenpolitischen Kurs Bengschs bedeutsam ist die von Jung zurecht vorgenommene Deutung der "politischen Abstinenz" im Sinne einer klugen, weil taktisch instrumentalisierbaren öffentlichen Neutralität, die keineswegs mit Kritiklosigkeit gegenüber der DDR-Regierung gleichzusetzen ist (36).
Dies unterstreicht der zweite Teil über "Spuren der Teilung - Zeichen der Einheit", der auch methodisch weiterführt. Im Anschluss an Heinz Hürtens Anregung wird die kirchlich-katholische "Gegenöffentlichkeit" anhand von Beispielen sprachlich-ritueller Symbolhandlungen untersucht: das von Bengsch überzeugend ausgefüllte Amt des Bischofs als Zeichen der Einheit, die in Westberlin errichtete Gedächtniskirche Regina Maria Martyrum und die im Ostteil gelegene Hedwigskathedrale als steinerne Zeugnisse des Gedenkens sowohl an die Opfer einer verfolgten Kirche als auch der Bistumseinheit und nicht zuletzt die verbindende Sprache von Liturgie und Gebet als Ausdruck einer geistig-geistlichen Verbundenheit des "Bistums unter dem Kreuz" (121). Dass solche, zweifellos bedeutsamen und bislang in der Forschung unberücksichtigt gebliebenen Zeichenhandlungen der durch Mauer und Stacheldraht zementierten gesellschaftlichen Entfremdung der Katholiken nur begrenzt standhalten konnten, verdeutlicht der dritte Teil über die "Gelebte Einheit" im Kirchenalltag. Es waren allerdings nicht nur, wie Jung hervorhebt, die unterschiedlichen, gerade in den Sechzigerjahren auseinander driftenden Lebenswelten in West- und Ostberlin, die zur Entfremdung beitrugen. Auch die Wahrnehmung innerkirchlich ähnlicher Strukturprobleme, die das Zweite Vatikanische Konzil auf die Tagesordnung gesetzt hatte, brach sich entlang der Mauer zwischen Ost und West (168). Die in diesem Zusammenhang schon von Zeitgenossen zu Beginn der Siebzigerjahre kolportierte und zuletzt in der Studie Bernd Schäfers [1] ausgeführte Behauptung konvergierender Interessen und Absprachen zwischen der Berliner Kirchenführung und den SED-Mächtigen bei der innerkirchlichen Disziplinierung "rebellierender Kapläne" weist Jung überzeugend zurück; ein solches Bündnis hatte der Staat schlicht nicht nötig (162).
Alles in allem hat Ruth Jung ein anregendes, gut geschriebenes und zudem ausgezeichnet bebildertes Buch vorgelegt, das nicht zuletzt in seiner offenen Kritik am zeitgenössischen, westlich-bundesrepublikanischen Freiheits- und Einheitsverständnis als "dogmatisch" (79) Widerspruch bei Zeitzeugen hervorgerufen hat. Eine Ergänzung oder gar Revision aus historischer Sicht dürfte allerdings erst möglich sein, wenn weitere und vor allem neue Quellen westdeutscher und vatikanischer Provenienz zugänglich werden.
Anmerkung:
[1] Bernd Schäfer: Staat und katholische Kirche in der DDR. 2. Aufl. Köln u.a. 1999.
Christoph Kösters