Hermann Düringer / Jochen-Christoph Kaiser (Hgg.): Kirchliches Leben im Zweiten Weltkrieg (= Arnoldshainer Texte; Bd. 126), Frankfurt am Main: Haag+Herchen Verlag 2005, 281 S., ISBN 978-3-89846-310-2, EUR 28,00
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Bei der Vielzahl der Studien, die sechzig Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges erscheinen, fällt eines auf: Den christlichen Kirchen wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Der soeben abgeschlossene neunte Doppelband des monumentalen Standardwerkes "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" kommt auf 2000 aufschlussreichen Seiten über "Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945" ohne die christlichen Kirchen als gesellschaftliche Großgruppen und Orte religiöser Sinnstiftung aus. [1] Neben konzeptionellen Problemen zeigt dies auch den defizitären Forschungsstand kirchlicher Zeitgeschichtsforschung gerade zu diesem wichtigen Zeitabschnitt deutscher Geschichte.
Die von Hermann Düringer und Jochen-Christoph Kaiser herausgegebene Tagungsdokumentation stößt in diese Forschungslücke hinein und bietet eine erste, allerdings nur für die protestantischen Kirchen vorgenommene Bestandsaufnahme über "Kirchliches Leben im Zweiten Weltkrieg". Der Band ist das Resultat einer Konferenz, die im März 2003 mit Theologen und Historikern in der Evangelischen Akademie in Arnoldshain durchgeführt wurde. Die zwölf, für den Druck leicht überarbeiteten Vorträge liefern erste Befunde, benennen aber auch die vielen noch offenen Fragen und Desiderate. Das breite Spektrum der Beiträge reicht von den gesellschaftlichen und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen [2] über das kirchliche Leben im Krieg am Beispiel Hamburgs und des Verbandsprotestantismus [3], die Relevanz religiöser Deutungsmuster des Krieges [4], die Rolle protestantischer Frauen [5] sowie den kirchlichen Umgang mit Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen [6] bis zu Quellenproblemen und pastoralpraktischen Erwägungen zu Zeitzeugengesprächen in der Gemeinde [7].
Neue Impulse für das allzu lange vernachlässigte Forschungsfeld "Kirchen im Krieg" gingen in den letzten Jahren insbesondere von den öffentlichen Diskussionen über die Zwangsarbeit in den Kirchen aus. Es verwundert deshalb nicht, dass sich gleich zwei Beiträge mit dieser Frage befassen. Sie präsentieren erste, erwartungsgemäß historisch wenig aufregende Ergebnisse des mittlerweile abgeschlossenen Projektes der EKD über "Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie von 1939-1945". Unbestritten waren die Zwangsarbeiter auch in kirchlichen Einrichtungen eine kleine Minderheit. Wie stark die rassische Diskriminierung allerdings tatsächlich war, wie der ansonsten kundige Beitrag von Uwe Kaminsky sehr pointiert betont, bedürfte eingehenderer Nachweise. Sehr viel häufiger belegt ist ein seelsorglich-fürsorgerischer Umgang mit Zwangsarbeitern, der der totalitären NS-Diktatur zuwiderlief. Auffällig ist auch die sehr geringe Anzahl von "kirchlichen" Zwangsarbeitern: In protestantischen Einrichtungen des Rheinlandes lag der Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten während der Kriegszeit durchschnittlich unter 5%. Warum dies so war, müsste auch deshalb geklärt werden, weil dieses Ergebnis der von Kaminsky vertretenen These vom flächendeckenden Zwangsarbeiter-Einsatz entgegensteht.
Zweifellos hat das Zwangsarbeiterthema auch eine Perspektivveränderung der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung bewirkt: Die christlichen Kirchen waren tragender und stützender Bestandteil der deutschen Kriegsgesellschaft - und wollten es auch sein. Das traf für große Teile der protestantischen Glaubensgemeinschaften stärker zu, galt aber auch für die im Deutschen Reich minoritäre katholische Kirche. Die Loyalität gegenüber dem NS-Staat und der Nation stand außer Frage - ein Befund, der sich wie ein roter Faden durch beinahe sämtliche Beiträge zieht. Es sind zunächst sozial-strukturelle Gründe, die die Autoren erklärend anführen: die Verbindung von "Verführung und Gewalt", also der weitestgehenden Stillung materieller und sozialer Grundbedürfnisse bei gleichzeitig forciertem, nach innen gerichteten Terror (Hans-Walter Schmuhl), der - für die katholische Kirche übrigens nicht zutreffende - kirchenpolitische "Burgfriede" (Jürgen Kampmann) und die Ausrichtung der kirchlichen Arbeit auf die Bestandserhaltung der Einrichtungen (Uwe Kaminsky, Norbert Friedrich). Ob und in welchem Ausmaß auch die von innerer Zerrissenheit gekennzeichneten protestantischen Kirchenverhältnisse eine vom nationalen Einheitsgedanken getragene Loyalität beförderten, wäre näher zu klären.
Darüber hinaus wirkten mentale Dispositionen wie die religiöse Trostfunktion der Kirchen stabilisierend (Rainer Hering, Ellen Ueberschär). Diese müssten aber nicht nur funktional, sondern auch in ihrer Bedeutung für die individuelle wie kollektive Kriegserfahrung untersucht werden. Religiöser Sinnstiftung und theologischen Deutungsmustern des Krieges kamen im Kriegsalltag der Frontsoldaten und der Gläubigen an der Heimatfront nicht unerhebliche Bedeutung zu. Martin Greschats Beitrag zielt in diese Richtung und deutet an, dass sich nach der Niederlage von Stalingrad Risse und Brüche in diesem Kosmos erkennen lassen. Darüber hinaus wären das gerade im deutschen Protestantismus verbreitete Nationalbewusstsein wie auch der Antibolschewismus und Rassismus zu thematisieren. Letzteren misst Greschat eine eher nachgeordnete Bedeutung gegenüber der drängenden Frage nach dem Sinn des Krieges insgesamt bei. Welche Deutungsmuster überdies Denken und Handeln der vom Luftkrieg bedrohten christlichen Bevölkerung bestimmten, ist noch nicht annähernd erforscht. Auch über die (geplanten) Konversionen vom protestantischen zum katholischen Glauben während der Kriegsjahre - Greschat erwähnt die entsprechenden Überlegungen Martin Niemöllers 1940 - ist bisher so gut wie nichts bekannt.
Eingebettet in den Kontext gesellschaftlicher Spannungs- und Zwangslagen der totalitären NS-Diktatur und des von ihr geführten totalen Krieges erlauben solche mentalitäts- und erfahrungsbezogenen Forschungen vertiefende Einblicke in den Wandel der konfessionellen Milieus. Die in der Nachkriegszeit beschleunigten Erosions- und Transformationsprozesse einerseits und die Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit andererseits werden über das Schwellenjahr 1945 hinaus zurückgebunden an die Diktatur- und Kriegserfahrungen. Solche weiterführenden, konfessionell und auch international vergleichend anzulegenden Forschungen sind allerdings nicht zuletzt abhängig von der Quellenlage, die in Deutschland oftmals durch erhebliche Kriegs- und Nachkriegsverluste gekennzeichnet ist. Welche Schätze durch neue Fragestellungen und mit entsprechendem Aufwand noch gehoben werden können, machen Forschungen zu den Feldpostbriefen und den Zwangsarbeitern oder die jüngst für das katholische Erzbistum München und Freising veröffentlichten Einmarschberichte von Pfarrern deutlich. [8]
Alles in allem bietet der Sammelband eine wichtige Standortbestimmung für die noch weitgehend am Beginn stehende Sozial- und Mentalitätsgeschichte der christlichen Kirchen im Zweiten Weltkrieg.
Anmerkungen:
[1] Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945, hg. v. Jürg Echterkamp, 1. Halbband: Politisierung, Vernichtung, Überleben; 2. Halbband: Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzungen (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg; Bd. 9, 1-2), Stuttgart 2004-2005.
[2] Hans-Walter Schmuhl: Die Auswirkungen des Kriegsalltags auf die deutsche Gesellschaft, 12-36; Jürgen Kampmann: Kirchenpolitische Rahmenbedingungen für die evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg, 37-59.
[3] Rainer Hering: Kirchliches Leben im Zweiten Weltkrieg: Das Beispiel Hamburg, 60-88; Norbert Friedrich: Verbandsprotestantismus und Zweiter Weltkrieg, 227-246.
[4] Martin Greschat: Religiöse und theologische Stimmen zum Kriegsalltag, 89-107.
[5] Ellen Ueberschär: Wandel der Frauenrolle? Zu den Geschlechterbeziehungen in der Deutschen Evangelischen Kirche während des Zweiten Weltkrieges, 108-142.
[6] Rolf-Ulrich Kunze: Seelsorge an Kriegsgefangenen 1939 bis 1956 als Beispiel integrativer kirchenzeitgeschichtlicher Kontingenzanalyse, 143-170; Uwe Kaminsky: Zwangsarbeit, Kirche und Diakonie, 171-192; Jochen-Christoph Kaiser: "Seelsorge an Fremden". Zur kirchlichen Betreuung von Internierten und Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg, 193-204.
[7] Jens Murken: Oral History zum Kriegsalltag, 247-262; Stefan Felsch: Quellen zur Kriegszeit in kirchlichen Archiven, 263-275; Renate Zitt: Kirche und Krieg in familienbiographischen Erinnerungen - Erinnerungen bilden im Kontext von Gemeinde, 205-226.
[8] Peter Pfister (Hg.): Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Erzbistum München und Freising. Die Kriegs- und Einmarschberichte im Archiv des Erzbistums München und Freising, 2 Bde., Regensburg 2005.
Christoph Kösters