Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte; Bd. 13), 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta 2002, 187 S., ISBN 978-3-608-60013-1, EUR 30,00
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Seit nunmehr drei Jahren erscheint der neue "Gebhardt" in insgesamt 24 Bänden (23 Darstellungen und ein Registerband). Für das lange 19. Jahrhundert sind dabei insgesamt fünf Bände (13-17) vorgesehen, von denen seit Ende vergangenen Jahres einschließlich des einleitenden Bandes von Jürgen Kocka vier vorliegen (Friedrich Lenger: 1849-1870er Jahre; Volker R. Berghahn: 1871-1914; Wolfgang J. Mommsen: 1914-1918). Das rechtfertigt eine erste Zwischenbilanz, zumal der für diese Epoche noch ausstehende 14. Band, der die Periode von 1806 bis 1848/49 umspannt, entgegen erster Ankündigungen voraussichtlich erst 2005 abgeschlossen sein wird. [1] Nimmt man nur die Einteilung der Bände in den Blick, dann setzen für dieses lange 19. Jahrhundert auch im neuen "Gebhardt" zunächst einmal politische Zäsuren - über die sich trefflich streiten ließe - den formalen Rahmen: Einerseits 1806 mit dem Ende des Alten Reiches und dem von Napoleon ins Leben gerufenen Rheinbund und andererseits mit dem Untergang des Deutschen Kaiserreichs in Krieg und Revolution 1918.
Bereits die jedem Band vorangehende Haupteinleitung belehrt den Leser freilich eines Besseren, denn dieser "Gebhardt" ist in ein neues Gewand gekleidet: Nicht mehr die an handelnden Personen ausgerichtete, überholte politische Erzählung soll dominieren, sondern Politik-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte sollen in jedem Band und am Puls der Forschung gleichwertig zu ihrem analytischen Recht kommen und miteinander verzahnt werden (VIII und nochmals 42). Aber nicht nur das ist neu gegenüber den vorherigen Auflagen des "Gebhardts": Weil die nationalgeschichtliche Perspektive begründungsbedürftig geworden ist, werden auch transnationale - im 19. Jahrhundert sind das vor allem noch europäische - Zusammenhänge hergestellt. Und geändert hat sich auch ein äußerer Umstand: Denn ganz sicher nicht zuletzt ist die Konkurrenz für ein Handbuch der deutschen Geschichte unvergleichlich größer geworden. Gerade für das 19. Jahrhundert muss sich der "Gebhardt" nun an Gesamtdarstellungen und verschiedenen Reihen messen lassen, die einen hohen Standard etabliert haben.
Der für das lange 19. Jahrhundert verantwortliche Herausgeber ist zweifelsfrei einer der besten Kenner dieser Epoche: Jürgen Kocka präsentiert die "Grundlinien der Entwicklung" (XV) auf vier Ebenen. Dieses Jahrhundert ruht für ihn vor allem auf den tragenden Eckpfeilern Industrialisierung (§ 2, 44-61), Bevölkerungsexplosion und Wanderungen (§ 3, 61-80), Aufstieg und Durchsetzung des nationalstaatlichen Prinzips (§ 4, 80-97) sowie Bürgertum und bürgerliche Kultur (§ 5, 98-138). Kocka umrahmt seine vier analytischen Säulen mit einem einleitenden Abschnitt über "Bilder vom 19. Jahrhundert im Wandel" (§1, 23-44) und einer abschließenden Zusammenschau (§ 6, 138-154), in der er grundlegende Entwicklungen bündelt, die deutschen Eigenheiten vor dem Horizont der Abläufe in den europäischen Nachbarstaaten - und damit die Frage des deutschen Sonderwegs - diskutiert und das lange 19. Jahrhundert schließlich als Ort der klassischen Moderne interpretiert. Den Band beschließen eine Chronologie des 19. Jahrhunderts, ein Tabellenverzeichnis sowie Orts-, Sach- und Personenregister.
Es gelingt Kocka in seinen Kernabschnitten immer wieder souverän, die fundamentalen Triebkräfte des Jahrhunderts analytisch vorzustellen, ohne sich in Detailprobleme zu verstricken. So erhält der Leser klare Überblicke über Grundlagen und Phasen der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums. Darüber hinaus greift Kocka auch neuere Strömungen auf und formuliert offene Forschungsfragen. So nimmt er mit der Geschichte der Umwelt selbst die Schattenseiten der Industrialisierung in den Blick (58-61), leider bei Synthesen immer noch keine Selbstverständlichkeit. Und auch zentrale Vorgänge wie der demografische Übergang (73 f.), das Massenphänomen der Auswanderung oder Binnenwanderung und Verstädterung werden prägnant und überzeugend vorgestellt. Den verschiedenen Ausprägungen von Nationalismus als ideologischer Grundströmung mit religiösem Anstrich wird Raum gegeben, ihre Dynamik und dunklen Abgründe werden gekonnt eingefangen. In dem Abschnitt zum Nationalismus finden sich auch knappe Hinweise zum Problem der konstitutionellen Monarchie: Hier wünschte man sich ausführlichere Einblicke, denn Verfassungsfragen werden hier lediglich als Teil der Staatsbildung behandelt (93). Weit mehr Raum erhalten dann wieder sozialgeschichtliche Kernbereiche, die ausnahmslos auf einem gesicherten Forschungsstand aufbauen: Ursachen, Folgen und Wandel der Klassen- und Geschlechterdifferenz und der sozialen Ungleichheit werden ebenso dargelegt wie Grenzen und Reichweite der bürgerlichen Kultur, in welcher der Verfasser mit Einschränkungen das Signum des Jahrhunderts ausmacht (138).
Fast verbietet es sich, einem schmalen Parforceritt durch das lange 19. Jahrhundert vorzuhalten, dieses oder jenes auszulassen. Auf zwei Punkte ist dennoch hinzuweisen, da sie mit einem konzeptionellen Defizit verbunden sind. Erstens: Darf in dem Abschnitt über "Bilder vom 19. Jahrhundert" ein Hinweis fehlen auf den ersten Versuch einer Gesamtdarstellung dieser Epoche? Steht die unvollendete, aber immerhin bis zur Revolution 1848/49 reichende "Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert" von Heinrich von Treitschke, ganz gewiss einer der einflussreichsten Historiker und Publizisten des Jahrhunderts, nicht für das überaus erfolgreiche, fatale und bis weit ins 20. Jahrhundert folgenreiche Bild einer auf Preußen fixierten deutschen Geschichte?
Der zweite Aspekt ist damit eng verwoben: Nicht zu übersehen ist nämlich, dass Kockas Ausführungen selbst - zumindest bis zum Einschnitt von 1866/71 - allzu sehr auf Preußen-Deutschland zugeschnitten sind. Nicht nur bei Fragen der Nations- und Staatsbildung spielte Österreich zumindest bis dahin immer wieder eine zentrale Rolle: Selbst Artikel 61 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 sah noch einen Beitritt der deutschsprachigen Teile Österreichs zum Deutschen Reich vor. Dies unterband erst der Versailler Vertrag. Und wenn man wiederholt auf Bismarcks herausragende Rolle bei der preußisch-deutschen Staatsbildung zu sprechen kommt (81, 97 und öfter), bedarf es dann nicht auch einiger Bemerkungen zu Metternich und damit zur österreichischen Rolle bei der Begründung des Deutschen Bundes und seiner restaurativen Ausgestaltung?
Die Stärken dieser Einführung liegen ohne jeden Zweifel in den sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Passagen. So darf der Leser keine detaillierteren kultur- und insbesondere politikgeschichtlichen Ausführungen erwarten. Diese bleiben ebenso den einzelnen Bänden vorbehalten wie das Zusammenfügen der hier vorgestellten Hardware mit der Software - den großen Linien mit den konkreten Ereignissen und handelnden Personen (153 f.). Bleibt als letzte Frage: An wen richtet sich dieser Band? Als ein allererster Einstieg in das 19. Jahrhundert ist er nicht wirklich zu empfehlen, setzt er doch in jedem Fall Vorwissen voraus. Studierende - Studienanfänger allemal - sind besser beraten, zunächst zu Bänden zu greifen, in denen einzelne Epochen in den Blick genommen werden. Und angesichts des hohen Preises des "Gebhardts" bieten sich dann in jedem Fall auch andere - ebenso preis- wie lesenswerte - Alternativen an.
Anmerkung:
[1] Eine Besprechung von Band 17: Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918, Stuttgart 2002, erscheint in der Juliausgabe der sehepunkte im Rahmen eines FORUMS zum Ersten Weltkrieg.
Nils Freytag