Jürgen Kocka: Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta 2021, 237 S., 11 Tbl., ISBN 978-3-608-98499-6, EUR 30,00
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Was machen 20 Jahre mit einem Buch? Das kommt natürlich ganz darauf an - es hängt vom Thema, der Konzeption, der Entwicklung des Forschungsfelds und vielen anderen Faktoren ab. Bei einem sehr guten Buch wird man aber davon ausgehen dürfen, dass es weitgehend Bestand haben wird.
Die jüngste Monographie von Jürgen Kocka unternimmt gewissermaßen die Probe aufs Exempel. Beim "Kampf um die Moderne" handelt es sich um eine überarbeitete Fassung von Band 13 der 10. Auflage des Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte von 2001. [1] Dieser Band war - analog zum Band 9 aus der Feder von Wolfgang Reinhard zur Frühen Neuzeit [2] - als Einführung in die strukturellen Probleme und Tendenzen der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts gedacht, das in der Gebhardt-Systematik von 1806 bis 1914 reichte. Mit der Überarbeitung verbindet sich somit auch ein Wechsel des Genres vom Lehrbuch zum Sachbuch. Interessanterweise hat die derzeit viel diskutierte Inflation in diesem Fall nicht zugeschlagen: die neue Fassung ist 2 Euro günstiger als die - parallel weiterhin verfügbare - alte.
Um es kurz zu machen: Das Experiment ist geglückt, denn das Buch verbindet die Stärken des ursprünglichen Werks mit neuen Akzenten. Die Kernpunkte der Gliederung sind erhalten geblieben, aber neu arrangiert; der Text ist durchweg aktualisiert, so dass sich das Buch auch als hochaktueller Beitrag zur erneut aufgeflammten Diskussion um die Deutung und Perspektivierung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts liest.
Diese Frage der Perspektivierung steht ganz am Anfang, und sie wird erst einmal historisch, durch den Blick auf die wechselnden Interpretationen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, beantwortet. Dabei betont Kocka die Zäsuren des Ersten Weltkriegs, welche den Fortschrittsglauben, und des Zweiten Weltkriegs, welche den affirmativen Nationsvorstellungen den Boden entzogen; die heutige Sicht auf das 19. Jahrhundert sieht er in nachvollziehbarer Weise durch eine fundamentale Ambivalenz zwischen der Fremdheitserfahrung, die sich aus abgebrochenen Traditionslinien, und der Nähe, die sich aus fortbestehenden Tendenzen oder Problemen ergibt, geprägt, nicht zuletzt der durch die atlantischen Revolutionen neu formulierten Forderung nach Freiheit und Gleichheit.
Die folgenden vier Kapitel sind solchen Themen gewidmet, die diese Probleme besonders gut aufscheinen lassen und zugleich für das 19. Jahrhundert besonders prägend waren. Dabei sind die Schwerpunkte wie 2001 gesetzt, ihre Anordnung und damit ihre implizite Hierarchie haben sich aber verschoben. An erster Stelle steht weiterhin die wirtschaftliche Entwicklung der Industrialisierung. Zweites Thema sind Demographie, Migrationsbewegungen und insbesondere die Urbanisierung. An dritter (vormals vierter) Stelle folgt die Diskussion der Frage, was es plausibel macht, die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als Klassengesellschaft zu beschreiben, und welche Tendenzen einer solchen Perspektive entgegenstehen, beispielsweise die Verhärtung der Grenzen zwischen Geschlechtern und die Aspekte sozialer Hierarchien, die eher auf die Fortdauer ständischer Differenzierungen hindeuten.
Das nächste Kapitel ist dem Verhältnis zwischen Nationalstaat, Nationalismus und Krieg gewidmet, bevor der letzte Abschnitt die Frage nach den Besonderheiten deutscher Entwicklungen im europäischen Vergleich sowie nach der Rolle des 19. Jahrhunderts für das Verständnis einer - bis in die Gegenwart reichenden - "Moderne" thematisiert.
Die große Stärke des Zugriffs Kockas ist dabei (weiterhin) die Konzentration auf zentrale Begriffe und Debatten, die sehr klar herausgearbeitet werden, sowie die konzise und durchweg aktuelle, pointierte Zusammenfassung von Debatten, die jeweils unterschiedliche Positionen fair darstellt, und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit referiert, um sie im Anschluss in nachvollziehbarer Weise zu gewichten. Dabei wird man vielleicht nicht allen Entscheidungen zustimmen - ein mögliches Beispiel ist die Behandlung globalhistorischer Fragestellungen als Schlüsselthema, das den Band durchzieht, statt ihm einzelne Kapitel explizit zu widmen -, aber sie sind in jedem Falle anregend, zumal das Thema der sich verschiebenden Perspektiven durchgängig als Strukturprinzip des Bandes fungiert und funktioniert.
Das Interpretationsangebot wird durch eine ausführliche Chronologie und eine aktuelle, für das neue Genre recht umfangreiche Bibliographie ergänzt (z. B. mit vielen Fachzeitschriften, 175-177); das sind zugleich die wenigen Elemente des Textes, die auf seine Entstehung als Lehrbuch verweisen.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001 (Rezension: http://www.sehepunkte.de/2004/05/6198.html).
[2] Wolfgang Reinhard: Probleme deutscher Geschichte 1495-1806. Reichsreform und Reformation 1495-1555, Stuttgart 2004 (Rezension: http://www.sehepunkte.de/2002/02/2167.html).
Andreas Fahrmeir