Heribert Ostendorf / Uwe Danker (Hgg.): Die NS-Strafjustiz und ihre Nachwirkungen, Baden-Baden: NOMOS 2003, 213 S., ISBN 978-3-8329-0136-3, EUR 32,00
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Der Band basiert auf Referaten, die im Rahmen einer Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität Kiel im Wintersemester 2001/2002 gehalten wurden. In zwölf Beiträgen befassen sich die Autoren mit zahlreichen Themen, darunter der Kieler juristischen Fakultät während des Dritten Reiches, der nationalsozialistischen Strafrechtspraxis - etwa dem Jugendstrafrecht, der Strafverteidigung im Dritten Reich, der Gerichtsbarkeit der Sondergerichte und der Rolle der Staatspolizei - und der justiziellen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts durch amerikanische und deutsche Strafverfolgungsbehörden. Die Leitfrage ist, inwiefern die Strafjustiz Anteil hatte am NS-Unrecht und inwiefern es die bundesrepublikanische Justiz verabsäumte, Justizverbrechen des Nationalsozialismus zu ahnden.
Ingo Müller zeigt in seinem Beitrag, dass mit der Rechtslastigkeit der Justiz während der Weimarer Republik bereits einige Grundlagen für den folgenden Niedergang des Strafrechtswesens gelegt wurden. Ansätze zur Demokratisierung des Justizwesens, die Diskussion juristischer Grundsatzfragen und die Errungenschaften liberaler Rechtsstaatlichkeit endeten mit dem Jahr 1933. Müllers Aufsatz führt ein in die Grundlagen nationalsozialistischer Rechtswissenschaft, der Gesetzgebung und der Gerichte, vor denen von 1933 bis 1945 insgesamt etwa 80.000 Todesurteile ergingen.
Am Beispiel der Kieler juristischen Fakultät macht Jörn Eckert deutlich, welche personellen Auswirkungen die "Gleichschaltung" an den Universitäten hatte. Während vor 1933 liberale Professoren - darunter der spätere Reichsjustizminister Gustav Radbruch - den Kieler Juristen Ansehen weit über die Grenzen des Landes verschafft hatten, wurden seit der so genannten Machtergreifung mehrere Professoren aus ihren Ämtern gedrängt oder nahmen Rufe an andere Universitäten an, sodass bereits 1935 von den im Jahr 1933 in Kiel tätig gewesenen zehn Professoren nur noch einer in Kiel weilte. Insbesondere die seit den 20er-Jahren stark nazifizierte Kieler Studentenschaft spielte mit Schmähschriften gegen jüdische Professoren eine unrühmliche Rolle in diesem Vertreibungsprozess. Die so "gesäuberten" Lehrstühle wurden bevorzugt mit Wissenschaftlern besetzt, die teilweise schon vor 1933 zu SA und NSDAP gestoßen waren oder auch - wie im Falle des Juristen Karl August Eckhardt - mit Himmler persönlich befreundet waren. Die ideologische Schulung der Studenten mit dem Einschwören auf die "völkischen Grundlagen" des Rechts galt als vorbildlich fürs ganze Reich. Gleichwohl endete der Einfluss der so genannten "Kieler Schule" bereits 1937/1938, da die Inhaber der Lehrstühle von der Universität Kiel an andere Hochschulen berufen wurden.
Einen empirischen Überblick über das Sondergericht Schleswig-Holstein (ab 1937 in Kiel, vorher Altona) bietet Uwe Dankers Aufsatz: von 1933 bis 1945 wurden 3575 Hauptverfahren eröffnet, davon 2662 während der Kriegsjahre. Dieser Befund - verstärkte Tätigkeit der Sondergerichte während der Kriegsjahre - deckt sich mit den Ergebnissen anderer Sondergerichte im Reich, auch die Tatsache, dass vor allem kriminelle, nicht politische Delikte verhandelt wurden, ist keine Besonderheit. Insgesamt ergingen vor dem Sondergericht von Schleswig-Holstein 144 Todesurteile, davon 42 gegen polnische Staatsangehörige.
Heribert Ostendorf analysiert den Nürnberger Juristenprozess, in dem sich Angehörige des Reichsjustizministeriums, der Oberreichsanwaltschaft vor dem Volksgerichtshof und Vorsitzender der Sondergerichtshöfe verantworten mussten. Zwar gehörten die Angeklagten nicht zu den unmittelbaren Spitzen des nationalsozialistischen Justizwesens - die Justizminister Gürtner und Thierack waren nicht mehr am Leben, ebenso der Vorsitzende des Volksgerichtshofs, Freisler -, gleichwohl standen mit dem Vorsitzenden des Sondergerichts Nürnberg-Fürth, Rothaug, oder dem Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof, Lautz, bedeutende Nazi-Juristen vor Gericht. Von Interesse wäre hier auch ein Vergleich amerikanischer und deutscher Justiz gegen NS-Juristen gewesen: gegen Ernst Lautz wurden von der Staatsanwaltschaft Lübeck mehr als ein Dutzend Verfahren geführt, die sämtlich wegen Verbrauchs der Strafklage aus dem amerikanischen Prozess eingestellt wurden. Die Beisitzer Rothaugs beim Katzenberger-Prozeß vor dem Sondergericht Nürnberg, Ferber und Hoffmann, wurden 1967 von der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth wegen Totschlags angeklagt und zunächst zu 3 beziehungsweise 2 Jahren Gefängnis verurteilt, wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten endeten die Verfahren nach der Revision. Die Tätigkeit von Felix Parrisius, einem Angehörigen des Oberreichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof, war Gegenstand schleswig-holsteinischer Ermittlungen gewesen. Ein "schleswig-holsteinischer Juristenprozess" fand 1950 gegen Johannes Paulick, den Vorsitzenden des Sondergerichts Stettin, statt. Nach Ermittlungen (und Einstellungen) durch die Staatsanwaltschaften Kiel und Itzehoe musste das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht die Hauptverhandlung anordnen, nachdem das Landgericht Itzehoe diese mit der Begründung abgelehnt hatte, dass eine Verurteilung nicht wahrscheinlich sei. Es kam auch 1950 tatsächlich zum Freispruch.
Der frühere Kieler Staatsanwalt Lothar von Raab-Straube gibt einen Überblick über die Aufarbeitung von NS-Verbrechen durch die Besatzungsmächte und westdeutsche Justizbehörden und erläutert die Schwierigkeiten, denen Staatsanwälte in ihrer Ermittlungen bezüglich nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (NSG) gegenüberstanden [1].
Klaus-Detlev Godau-Schüttke legt eine auf seinen früheren Arbeiten basierende Darstellung des Falls Heyde/Sawade vor. Prof. Dr. Werner Heyde war trotz seiner zentralen Rolle als Obergutachter und späterer Leiter der Euthanasieaktion "T 4" bei der Ermordung Geisteskranker unter dem Falschnamen Dr. Fritz Sawade von 1950 bis 1959 als Gerichtsgutachter in Schleswig-Holstein tätig gewesen, zahlreiche Personen aus seinem beruflichen Umfeld wussten um seine wahre Identität. Der Autor beklagt, dass die Beschäftigung mit dem Thema Euthanasie lang auf sich warten ließ. Für die juristische Aufarbeitung trifft das nicht zu: fast alle westdeutschen Staatsanwaltschaften in der Nähe von Tötungsanstalten - etwa Tübingen für Grafeneck, Frankfurt für Hadamar - oder Heil- und Pflegeanstalten führten schon ab1946 Prozesse gegen Ärzte, Pflegepersonal und Verwaltung. Für Schleswig-Holstein erwähnt der Autor selbst Ermittlungen der Staatsanwaltschaften Kiel und Lübeck zu Verlegungen von Geisteskranken aus den Landesheilanstalten Schleswig, Neustadt, Rickling und Lübeck-Strecknitz. Godau-Schüttke unterstellt der Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Schleswig und der Kieler Strafkammer überdies, dass sie keine eigenen Nachforschungen über die NS-Euthanasie und über die Verbrechen von Heyde/Sawade durchführen wollte (183). In der normalen Strafrechtspraxis gilt allerdings grundsätzlich, dass Doppelermittlungen von Staatsanwaltschaften tunlichst zu vermeiden sind. Aus derartigen verfahrensökonomischen Erwägungen heraus wurden auch aussichtsreiche Ermittlungen beendet: war für eine bestimmte Tat eine Verurteilung zu lebenslänglicher Haft zu erwarten, so wurden Nachforschungen bezüglich anderer Straftaten gemäß § 154 StPO beendet, da die zu erwartende Strafe nicht mehr ins Gewicht fallen würde gegenüber der bereits verhängten oder zu verhängenden Strafe. Am Rande sei hier auf folgenden Fall verwiesen, der in den Akten der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth (11 Js 24/70) zu finden ist: Heyde hatte die Staatspolizei Würzburg aufgefordert, den zur Untersuchung eingewiesenen straffälligen polnischen geisteskranken Fremdarbeiter Rostecki aus der Würzburger Universitätsnervenklinik abzuholen, da das Hospital keine Bewahranstalt für "andersstämmige Untermenschen" sei. Nachdem das Reichssicherheitshauptamt am 22. Juni 1942 die Exekution des Polen befohlen hatte, erkundigte sich die Staatspolizei Würzburg bei Heyde nach einer geeigneten Tötungsart für den bettlägrigen Polen. Heyde, besorgt um den Ruf des Krankenhauses, lehnte eine Tötung in seiner Klinik ab, versprach aber Hilfe bei der Ermordung auf dem Transport. Rostecki starb im Juli 1942 bei der Überstellung nach Nürnberg. Heyde hatte, als die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth den Fall Anfang der Siebzigerjahre untersuchte, bereits im Februar 1964 Selbstmord begangen. Es wäre gleichwohl anzunehmen, dass, auch wenn Heyde noch am Leben gewesen wäre, es auf Grund der oben erwähnten Verfahrensökonomie nicht zu einem Verfahren gegen Heyde bezüglich des Mordes an dem Fremdarbeiter Rostecki gekommen wäre; er wäre ja bereits wegen anderer Delikte zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.
Obwohl manchen Beiträgen der mündliche Ursprung noch anzumerken ist - hier wäre eine etwas sorgfältigere Überarbeitung wohl angebracht gewesen -, vermittelt der Band einen guten Überblick vom NS-Strafrechtswesen über die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen bis zur Aburteilung rechtsradikaler Straftaten heute. Besonders hervorzuheben sind die gelungene Mischung von regionalen Analysen und Darstellungen von reichs- beziehungsweise bundesweiten Entwicklungen im Justizwesen.
Anmerkung:
[1] Verwiesen sei hier auch auf den Gesamtüberblick über die Tätigkeit der schleswig-holsteinischen Staatsanwaltschaften von Mandy Jakobczyk: "Das Verfahren ist einzustellen". Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Schleswig-Holstein bis 1965: Überblick auf der Basis eines empirisch-quantifizierenden Ansatzes in: Demokratische Geschichte. Jahrbuch für Schleswig-Holstein 15. Malente 2003, 239-290, in dem ein empirischer Überblick für die Jahre 1945-1965 gegeben wird.
Edith Raim