Bernhard Lorentz / Paul Erker: Chemie und Politik. Die Geschichte der Chemischen Werke Hüls 1938 bis 1979. Eine Studie zum Problem der Corporate Governance, München: C.H.Beck 2003, 461 S., 19 Abb., 10 Grafiken, ISBN 978-3-406-50962-9, EUR 34,90
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Bernhard Lorentz: Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928-1950. Heinrich Dräger und das Drägerwerk, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001
Paul Erker: Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020
Paul Erker: Vom nationalen zum globalen Wettbewerb. Die deutsche und die amerikanische Reifenindustrie im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2005
Was die zu besprechende Monografie von Bernhard Lorentz und Paul Erker zur Geschichte der Chemischen Werke Hüls aus der Vielzahl der jüngst erschienenen Unternehmensgeschichten hervorhebt, ist der bereits im Untertitel explizit gemachte Anspruch, dem Leser eine historische Studie zum Problem der Corporate Governance zu bieten. Um beurteilen zu können, ob die beiden Autoren diesem selbst gesetzten Ziel tatsächlich gerecht werden konnten, gilt es hier zunächst zu klären, was eigentlich unter dem Begriff Corporate Governance konkret zu verstehen ist und wie dieser für die Unternehmensgeschichtsschreibung nutzbar gemacht werden könnte.
Der Begriff Corporate Governance ist seit den jüngsten spektakulären Firmenpleiten in den USA und Europa und den sich hieraus ergebenden Debatten über eine effektivere Kontrolle der Top-Manager börsennotierter Unternehmen in aller Munde. Dabei zeigt sich die gewachsene politische Bedeutung dieses Konzepts in Deutschland nicht zuletzt in der Einsetzung einer "Regierungskommission Corporate Governance", deren Tätigkeit im Jahr 2002 zur Einführung eines Corporate Governance-Codex führte, der börsennotierte Unternehmen auf Mindeststandards hinsichtlich des Aktionärsschutzes verpflichten soll. Unbeschadet dieser Aktivitäten gibt es jedoch keine eindeutige Definition der Corporate Governance. Vielmehr gilt es zumindest zwischen einer Corporate Governance im engeren und im weiteren Sinn zu unterscheiden. Im engeren Sinn umfasst ein Corporate Governance-System alle Mechanismen und Instrumentarien, die dafür sorgen, dass die Manager eines Unternehmens vornehmlich im Interesse der Eigentümer, das heißt der Aktionäre, handeln. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Schutz der Shareholder. In einem weiteren Sinn soll die Corporate Governance dazu dienen, alle vom Verhalten der Manager abhängigen Parteien vor einer Benachteiligung zu schützen. Zu dieser Gruppen der so genannten Stakeholder zählen nicht nur die Kapitalgeber, also Aktionäre und Gläubiger, sondern auch die Arbeitnehmer, die Kunden und Lieferanten des Unternehmens sowie die lokalen Gebietskörperschaften am Standort der Gesellschaft.
Für die unternehmenshistorische Analyse von besonderer Bedeutung ist, dass sich im Verlauf der globalen ökonomischen Entwicklung unterschiedliche nationale Corporate Governance-Systeme herausgebildet haben. Insbesondere unterscheidet man das Outsider-Modell der angelsächsischen Volkswirtschaften und das Insider-Modell Kontinentaleuropas, zu dem auch die so genannte Deutschland AG zählt. Im Outsider-Modell erfolgt die Kontrolle und Überwachung der Manager eines Unternehmens vorrangig über die Kapitalmärkte, beispielsweise durch die feindliche Übernahme mangelhaft geführter Aktiengesellschaften. Letzteres ist nur deshalb möglich, weil sich die Aktien amerikanischer oder britischer Unternehmen vorwiegend im Streubesitz befinden. Im Insider-Modell Deutschlands wurden und werden die Unternehmen hingegen von Großaktionären dominiert. Die Kontrolle des Managements vollzieht sich deshalb nicht extern über den Kapitalmarkt, sondern durch das unternehmensinterne Zusammenwirken der Stakeholder des Unternehmens. Wichtige Überwachungsfunktionen übernehmen hierbei insbesondere die im Aufsichtsrat vertretenen Großaktionäre und Universalbanken. Auch wenn zurzeit durchaus versucht wird, den Einfluss externer Kontrollmechanismen im deutschen Insider-Modell zu stärken, ist von der Wissenschaft noch keineswegs abschließend entschieden, welches der beiden beschriebenen Corporate Governance-Modelle dem Wirtschaftswachstum einer Volkswirtschaft tatsächlich förderlicher ist. Zu Gunsten der Deutschland AG wird beispielsweise angeführt, dass das strategische Engagement der Shareholder langfristige Investitionen in Sach- und Humankapital begünstige, während im Outsider-Modell im Zuge der Konzentration auf den kurzfristigen Börsenwert des Unternehmens zukünftige Entwicklungschancen vernachlässigt würden.
Angesichts dieser Unsicherheit über die optimale Ausgestaltung der Corporate Governance stellt sich für die Unternehmensgeschichte in der Tat die Aufgabe, durch Detailstudien die genaue Funktionsweise historischer Kontroll- und Lenkungsmechanismen aufzudecken. Es gilt, in einem ersten Schritt die Entstehung und konkrete Ausgestaltung von Corporate Governance-Systemen auf Unternehmensebene zu beschreiben und in einem zweiten Schritt zu untersuchen, inwieweit die vorgefundenen Kontroll- und Lenkungsstrukturen tatsächlich geeignet waren, die Shareholder und Stakeholder vor Übergriffen der Manager des Unternehmens zu schützen.
Lorentz und Erker greifen das Konzept der Corporate Governance insoweit erfolgreich auf, als sie nicht für eine chronologische Darstellung der Unternehmensgeschichte der Chemischen Werke Hüls optierten, sondern stattdessen nacheinander untersuchen, wie sich die Beziehungen der Manager von Hüls zu den drei zentralen Stakeholdern Staat, Großaktionär I.G. Farben und Arbeitnehmer gestalteten. Überraschend ist allerdings die Perspektive ihrer Analyse. Im Sinne der Corporate Governance wäre zu erwarten gewesen, dass die beiden Autoren aus Sicht der Stakeholder untersuchen, ob und auf welche Weise es gelang, die Manager von Hüls effektiv zu kontrollieren und zu lenken. Tatsächlich argumentieren Lorentz und Erker aber weitgehend aus dem Blickwinkel der Manager. Insbesondere fragen sie, welche Handlungsspielräume die Leitung von Hüls besaß, eigene Vorstellungen auch gegen den Willen der Aktionäre durchzusetzen (15). Damit verlassen die beiden Autoren den durch die enge Corporate Governance-Definition vorgegebenen Untersuchungsrahmen, der sich vorrangig an den Interessen der Eigentümer orientiert.
Tatsächlich ist der von Lorentz und Erker vorgenommene Perspektivenwechsel angesichts der Eigentümerstruktur der Chemischen Werke Hüls durchaus nachvollziehbar. Schon während des 'Dritten Reichs', aber insbesondere während der langwierigen Entflechtungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die Großaktionäre, das waren BASF, Bayer, Hoechst und das Bergbauunternehmen Hibernia, durchaus eine ambivalente Haltung gegenüber den Unternehmenserfolgen von Hüls ein, da sie befürchteten, dass sich dieses Unternehmen entweder zu einem eigenständigen Konkurrenten für ihre anderen Betriebe entwickeln oder aber den jeweils anderen Anteilseignern zu einem Wettbewerbsvorsprung verhelfen würde. Im 'Dritten Reich' war Hüls als reine Produktionsstätte für den zur Kriegsführung benötigten Synthesekautschuk Buna konzipiert worden. In der Nachkriegsphase verbreiterte man jedoch das Produktionsprogramm und erzeugte neben dem zunächst von den Alliierten verbotenen Synthesekautschuk auch Kunststoffe, Lackrohstoffe, Lösungsmittel sowie Waschrohstoffe - alles Produkte, die auch von den anderen I.G.-Nachfolgeunternehmen hergestellt wurden. Die in der Corporate Governance-Diskussion implizit zugrunde gelegte Annahme, dass die Eigentümer vom Management eine Maximierung der Erfolgskennziffern ihres Unternehmens erwarten, traf daher für die Chemischen Werke Hüls möglicherweise in längeren Phasen ihrer Geschichte nicht zu. Nur vor diesem Hintergrund wird die faszinierende Beobachtung von Lorentz und Erker verständlich, dass die Leitung von Hüls mehrfach von den Aktionären daran gehindert wurde, solche Unternehmensstrategien schnell umzusetzen, die die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens erhöht und dadurch auch Stakeholdern wie den Arbeitnehmern oder den lokalen Gebietskörperschaften genutzt hätten (257). Diese Problematik bildet den eigentlichen Kern der Analyse von Lorentz und Erker.
In der unsicheren Nachkriegssituation bemühten sich die Manager von Hüls wiederholt um eine weit reichende finanzielle Unterstützung der Wiederaufnahme der Synthesekautschukproduktion durch ihren traditionellen Stakeholder Staat, dessen Subventionen im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiebestrebungen die Gründung von Hüls ja erst möglich gemacht hatten. Die Bundesregierung verweigerte sich diesem Ansinnen jedoch standhaft. Die Manager von Hüls mussten lernen, dass die im 'Dritten Reich' eingeübte Strategie, unternehmerische Risiken auf den Staat abzuwälzen, nicht mehr funktionierte.
Zusammenfassend bestätigt die vorliegende Untersuchung für den in vielerlei Hinsicht besonderen Fall der Chemischen Werke Hüls die vorherrschenden Vermutungen über die Nachteile des Corporate Governance-Systems der Deutschland AG. Insbesondere zeigt sich, dass die schwerfällige Konsenssuche der maßgeblichen Stakeholder mehr als einmal eine schnelle und flexible Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen verhinderte - und damit das Wachstumspotenzial der Chemischen Werke Hüls entscheidend beeinträchtigte. Vor einer vorschnellen Verallgemeinerung dieser Erkenntnis sollte man sich jedoch hüten. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass das zu empfehlende Werk von Lorentz und Erker vielen Lesern als Inspiration für eigene Forschungsarbeiten dient, in denen das Konzept der Corporate Governance und die mit ihm verbundenen ökonomischen Informations- und Transaktionskostentheorien als fruchtbare Analyseinstrumente genutzt werden.
Jochen Streb