Paul Erker: Vom nationalen zum globalen Wettbewerb. Die deutsche und die amerikanische Reifenindustrie im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2005, 710 S., ISBN 978-3-506-71788-7, EUR 98,00
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Erker beginnt seine Arbeit mit dem Hinweis, Reifen seien schwarz und rund, ansonsten sei nichts Auffälliges an ihnen zu erkennen. Gerade weil es sich aber um ein zwar homogenes, zugleich jedoch forschungs- und entwicklungsintensives Produkt handelt, eignen sich Autoreifen besonders als Gegenstand einer Studie, die sich in einer Langzeitperspektive mit den Verlaufsformen und den Mechanismen von Wettbewerb beschäftigt. Erkers Fragestellung zielt darauf, welche Faktoren für die Ausbildung der Marktkonstellationen in der Reifenindustrie verantwortlich waren, warum Unternehmen überlebten und andere vom Markt verschwanden, und schließlich, welche allgemeinen Folgerungen sich eventuell daraus für eine theoretische Beschreibung von Wettbewerbsprozessen ziehen lassen. Dabei konzentriert sich der Autor zwar in erster Linie auf den deutschen Reifenhersteller Continental und den amerikanischen B.F. Goodrich-Konzern, bezieht aber de facto alle wichtigen amerikanischen und europäischen Hersteller in die Darstellung mit ein und schreibt somit viel eher eine Branchen- und Wettbewerbsstudie als eine klassische Unternehmensgeschichte.
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der erste Abschnitt beschreibt die Herausbildung oligopolistischer Marktstrukturen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, sowohl auf dem amerikanischen wie auf dem europäischen Markt. Auf letzterem konkurrierten vor allem Michelin, Dunlop und Continental miteinander, auf dem amerikanischen Markt hingegen die "big four", Goodyear, Firestone, Goodrich und US-Rubber. Die Konzerne hatten ihre Wurzeln zumeist im allgemeinen Gummiwarengeschäft (Gummischuhe vor allem) und der Herstellung von Fahrradreifen. Mit der wachsenden Motorisierung stiegen sie dann auch in die Produktion von Autoreifen ein. Die amerikanischen Unternehmen konzentrierten sich - was ja nahe lag - zunächst hauptsächlich auf den Binnenmarkt, während sich in Europa bereits ein stärker internationalisierter Wettbewerb entfaltete, wie Erker am scharfen Konkurrenzkampf zwischen Continental und Michelin demonstriert. Trotz oligopolistischer Strukturen wurde der Wettbewerb sowohl in Amerika als auch in Europa mit harten Bandagen geführt, insbesondere mittels zermürbender Preisschlachten, die jedoch vor allem die kleineren Unternehmen aus dem Markt drängten, die eigentlich gar nicht das Ziel dieser Attacken waren.
Der zweite Abschnitt behandelt die Zeit zwischen 1914 und 1936. Diese Phase zeichnete sich vor allem durch die Globalisierung des Wettbewerbs aus. Obwohl die großen europäischen Reifenkonzerne ihre Vormachtstellung auf ihren Heimatmärkten weitgehend behaupten konnten, kam es doch zu einer verstärkten Internationalisierung des Wettbewerbs. Die amerikanischen Konzerne begannen den europäischen Markt zu entdecken und traten dort vermehrt in direkte Konkurrenz zu den europäischen Reifenherstellern. Die Intensität des Wettbewerbs nahm dadurch zu, auch wenn sich beispielsweise die deutsche Reifenindustrie in Form eines Kartells abzusichern versuchte. In der Weltwirtschaftskrise bekamen alle großen Reifenproduzenten massive Probleme, die bis an den Rand der Existenzgefährdung reichten.
Der dritte Abschnitt, der den Zeitraum von 1936 bis 1971 behandelt, ist mit "Reifenindustrie und Staat" übertitelt, wobei der Wettbewerb jedoch eigentlich nur bis in die Nachkriegszeit durch das Verhältnis zum Staat determiniert wurde. Das betraf vor allem Continental, die massiv in die nationalsozialistische Vierjahresplanpolitik eingebunden wurde. Die durch die Autarkiepolitik forcierte Umstellung auf Synthesekautschuk erwies sich für das Unternehmen produktionstechnisch als eine Sackgasse. Nach dem Krieg hatte Continental große Mühe, den Rückstand gegenüber seinen internationalen Konkurrenten wieder aufzuholen. Insofern widerspricht dieses Beispiel der These des durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Technologiesprungs der deutschen Wirtschaft. Nach dem Weltkrieg und im Zuge der nun auch Europa erfassenden Massenmotorisierung erlebte die Reifenindustrie insgesamt einen enormen Aufschwung, der teilweise jedoch strukturelle Probleme der Branche verdeckte. Insbesondere die amerikanischen Reifenproduzenten hatten schon seit den 1960er-Jahren zunehmend einen schweren Stand, weil sie eine entscheidende Neuerung im Reifendesign, den von Michelin entwickelten Radialreifen, falsch einschätzten. Nur Goodyear gelang schließlich wieder der Anschluss, während die anderen großen Konzerne nach und nach aus dem Reifengeschäft herausdiversifizierten. Seit den 1970er-Jahren kam es dann zu einer nochmaligen Verschiebung der Machtverhältnisse auf dem Reifenmarkt. Ursache war vor allem die zunehmende Präsenz der Japaner und der dadurch verschärfte Wettbewerbsdruck. Dies führte schließlich zu einer Neuformierung des Oligopols, wobei Goodyear, Bridgestone und Michelin die Position als weltweit führende Hersteller halten bzw. sich erobern konnten.
In seinem Literaturüberblick zu Anfang des Buches betont Erker, dass eine allgemeine Wettbewerbstheorie nicht existiere - und seine Studie bestätigt letztlich dieses Ergebnis. Die Dominanz eines Faktors, sei es Unternehmensorganisation, Verkaufsstrategien oder technologischer Vorsprung, lässt sich nicht herausdestillieren. Erker beschreibt beispielsweise relativ ausführlich die Reaktion der Unternehmen auf technologische Innovationen. Hierbei kommt er zu dem Ergebnis, dass technische Neuerungen insgesamt nur kurzfristige Monopolgewinne ermöglichten, deren Adaption vielmehr in der Regel rasch und branchenweit erfolgte. Das betrifft sowohl die Reifenkonstruktion, das Material wie auch die Produktionsverfahren. Trotzdem waren für die Großen der Branche enorme F&E-Aufwendungen charakteristisch, allein weil das dadurch gewonnene Wissen selbst wieder unter den Unternehmen (z. B. in Form von Kooperationen wie zwischen Continental und Goodrich/Goodyear nach dem Zweiten Weltkrieg) gehandelt werden konnte bzw. dadurch die Adaptionsfähigkeit erst geschaffen wurde. Zu den durchaus erstaunlichen Ergebnissen der Studie gehört, dass die Oligopolstruktur des Reifenmarktes nicht zu einer Befriedung des Wettbewerbs führte. Die äußerst scharfen Preiskämpfe hatten häufig den Effekt, dass sich diese Strukturen noch verhärteten, weil sie Außenseiter aus dem Markt drängten. Schon die Herausbildung des Oligopols war von fluktuierenden Markteintritts- und Austrittsbewegungen begleitet, in denen neben Fragen der Technologieführerschaft, Verkaufsstrategien etc. ab einem gewissen Zeitpunkt eindeutig auch der Faktor "Größe" eine entscheidende Rolle spielte. Einstiegsinvestitionen, Know-how, Kunden- und Markenbindungen schufen Marktzutrittsbarrieren, die mit der Zeit stetig höher wurden. Nur vereinzelt gelang es einem Außenseiter wie "General Tire", sich eine größere Marktposition zu erobern. Aber diese hohen Marktzutrittsbarrieren führten eben nur teilweise zu einer Vermachtung des Reifenmarkts und schon gar nicht zu einer Befriedung des Wettbewerbs. Insgesamt ist Paul Erker eine fundiert argumentierende und gut lesbare Studie gelungen, die sicherlich in der weiteren wirtschaftshistorischen Diskussion eine wichtige Rolle spielen wird.
Roman Köster