Rezension über:

Olaf Mertelsmann (ed.): The Sovietization of the Baltic States, 1940-1956, Tartu: Verlag Kleio 2003, 252 S., ISBN 978-9985-9304-1-0, EUR 25,00
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Rezension von:
Ruth Büttner
Deutscher Akademischer Austauschdienst, Eriwan
Redaktionelle Betreuung:
Marco Wauker
Empfohlene Zitierweise:
Ruth Büttner: Rezension von: Olaf Mertelsmann (ed.): The Sovietization of the Baltic States, 1940-1956, Tartu: Verlag Kleio 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/6633.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Olaf Mertelsmann (ed.): The Sovietization of the Baltic States, 1940-1956

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Die sowjetische Zeit der baltischen Staaten ist kaum 15 Jahre vergangen, ruft aber bereits reges Forschungsinteresse hervor, und das sowohl unter ausländischen, zumeist westlichen, als auch unter estnischen, lettischen und litauischen Historikern. In Estland befasst sich eine staatliche Forschungskommission eigens mit den Ereignissen und Entwicklungen der so genannten Okkupationszeit 1940-1991. Der Markt der Memoirenliteratur ist bereits kaum mehr zu überblicken. Traditionell wurde die sowjetische Zeit vor allem aus dem Blickwinkel politischer Ereignisse betrachtet. Der Schwerpunkt lag auf der Untersuchung der politischen Akteure, der Täter. In jüngster Zeit aber wird zunehmend versucht, das Alltagsleben, die Kultur- und Bildungssphäre, Migrationsprozesse, wirtschaftliche Entwicklungen in die Betrachtung mit einzubeziehen. Dieses Ziel setzte sich auch ein internationaler Workshop, der im Mai 2003 in Haapsalu, einer Kleinstadt an der estnischen Westküste, stattfand. Die Ergebnisse wurden nun in dem vorliegenden Sammelband veröffentlicht.

Seinem selbstgesetzten Ziel, Schattierungen sichtbar zu machen anstatt Schwarz-Weiß-Bilder zu präsentieren, wird der Band in vielen Beiträgen gerecht. Anu-Mai Kolls Text zur Verfolgung der Kulaken in Süd-Estland macht die Mischung aus Widerstand und Gehorsam der Betroffenen und der lokalen Bevölkerung sichtbar. Rüdiger Ritter legt am Beispiel der Vilnius-Region dar, wie sich das mental mapping von Polen, Litauern und Weißrussen nicht erst seit 1991 überschneidet. Die sowjetischen Machtorgane waren kaum in der Lage, eine Geschichtsdarstellung zu konstruieren, die diese Überschneidungen aufgelöst hätte. Im Gegenteil: sie zerstörten sie durch die Art und Weise, wie sie in einer Mischung aus Gewalt und Angebot den Litauern Identifizierung vermitteln wollten, bis Ende der 1940er-Jahre jegliches Vertrauen in die neue Macht. Stalins konservatives Nationskonzept sah keine multiethnischen Gebiete vor und war ein schlechtes Rüstzeug für die Wirklichkeit der Vilnius-Region.

Viele Autoren betonen, dass die größeren Freiheiten, die die baltischen Republiken im kulturellen Bereich genossen, auf vielfältige Weise das Überleben der relativ kleinen baltischen Gesellschaften als Nationen zu sichern helfen. Walter Clemens stellt unter Zuhilfenahme der Theorie komplexer Systeme und der Semiotik die These auf, dass im Fall der Balten die Kultur, die nationalen Symbole und die Mythen die ausschlaggebende Rolle für das 'nationale Überleben' gegeben haben. Er impliziert zugleich, dass bei einem längeren Fortbestehen der Sowjetunion dieses Überleben nicht mehr gesichert gewesen wäre, da die "Fitness", der soziale Zusammenhalt der baltischen Bevölkerungen, bis 1991 in manchem doch erodiert gewesen sei.

Die meisten Beiträge zur sowjetischen Nationalitätenpolitik legen den Schluss nahe, dass die Versuche zur Steuerung nationaler Empfindungen ein voller Misserfolg waren. Timofej Agarin erklärt das Scheitern sowjetischer Nationalitätenpolitik in Litauen aus der Tatsache heraus, dass die Republik in der Auffassung des Zentrums kaum mehr war als eine Kolonie ohne eigene ausgeprägte Identität. Olaf Mertelsmann überprüft in seinem Beitrag am Beispiel Estlands die propagandistische Behauptung, dass die Sowjetisierung einen Industrialisierungsschub mit sich gebracht habe. Er bestätigt, was der Augenschein schon lange zeigt, was aber angesichts einer Fülle voneinander abweichender Plandaten ein schwieriges Unterfangen ist: Im behandelten Zeitraum fand keine Industrialisierung, sondern eine eher schlechte Rekonstruktion der estnischen Industrie der Vorkriegsjahre statt. Typisch für das erste Nachkriegsjahrzehnt war eine sehr niedrige Bildungsrate selbst in den Führungsetagen der Industriebetriebe und unter den Ingenieuren. Ein niedriges Bildungsniveau beschreibt auch Irene Saleniece in ihrem Beitrag zur sowjetischen Bildungspolitik in Lettland am Beispiel der Schulen von Daugavpils. Der lettische Lehrkörper wurde nach 1944 weitgehend gesäubert, die Neubesetzungen aus Russland hatten, soweit die Autorin nachweisen konnte, in keinem Fall Hochschulbildung.

Der Band ist von einem estnischen Verlag liebevoll gestaltet, alle Beiträge sind in englischer Sprache verfasst, und eine Übersicht über die Autoren am Schluss des Bandes ermöglicht es dem Leser, sich ein Bild von den Verfassern der Beiträge zu machen. Insgesamt handelt es sich hier um einen sehr gelungenen und lesenswerten Band.

Ruth Büttner