Robert Seidel: Literarische Kommunikation im Territorialstaat. Funktionszusammenhänge des Literaturbetriebs in Hessen-Darmstadt zur Zeit der Spätaufklärung (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 83), Tübingen: Niemeyer 2003, XIV + 729 S., ISBN 978-3-484-36583-4, EUR 98,00
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Regionalhistorische Studien haben in den letzten Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zur Diskussion des Phänomens Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert geleistet. Auf breiter Materialbasis und in großer Detailgenauigkeit haben sie abstrakte Konzepte vom Aufstieg einer bürgerlichen Öffentlichkeit vielfach erst mit Leben erfüllt, oft aber auch in wesentlichen Teilen modifiziert oder revidiert. Erinnert sei nur an eine der ersten Arbeiten dieser Art, Franklin Kopitzschs Darstellung zur Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona (1982), der in der Zwischenzeit zahlreiche weitere Untersuchungen mit ähnlicher Zielsetzung gefolgt sind.
Auch die Studie von Robert Seidel steht in der Tradition quellengesättigter, regionalgeschichtlicher Monografien. Gestützt auf eine stupende Literatur- und Quellengrundlage dokumentiert sie das literarische Leben in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt in den Jahrzehnten zwischen 1740 und 1790. Wer allerdings von dem 700 Seiten starken Werk einen weiteren konventionellen Überblick über Vergesellschaftungsformen, Publikationsorgane oder andere Projekte der Aufklärungsgesellschaft erwartet, wird - angenehm - enttäuscht. Seidel nähert sich den Kommunikationsstrukturen seines Untersuchungsraums auf subtilere Weise. Standardthemen wie literarischer Markt, Zirkelbildung und Volksaufklärung spielen zwar eine Rolle, sind aber in einer umfassenderen Fragestellung aufgehoben.
Dem Autor geht es primär um eine soziologische Betrachtungsweise literarischer Kommunikation, die nach der Funktion von Literatur für den Einzelnen, für verschiedene gesellschaftliche Gruppen oder für die Gemeinschaft als Ganzes fragt. Dabei wird unter Literatur stets 'schöne Literatur' oder der Diskurs über dieselbe verstanden. Im Zentrum der Arbeit, einer germanistischen Habilitationsschrift, stehen daher dichterische Werke in Vers und Prosa sowie ästhetisch-poetologische Abhandlungen, Rezensionen, Berichte über literarische Ereignisse und Briefe. Politische und ökonomische Schriften, religiöse Texte oder gelehrte Werke klammert Seidel dagegen aus.
Entfaltet wird der literatursoziologische Ansatz in sieben Großkapiteln, deren Perspektivenreichtum hier nicht einmal ansatzweise widergegeben werden kann. Der Gegensatz zwischen literarischer Professionalität und Dilettantismus gerät ebenso in den Blick wie der "Mythos vom 'freien Schriftsteller'" (222), Dichtungstheorien oder der weite Bereich der Hofkritik, um nur einige wahllos herausgegriffene Beispiele zu nennen. Bisweilen steht der Leser sogar in der Gefahr, sich in den feinen inhaltlichen Verästelungen zu verlieren. Gleichwohl schälen sich bei genauer Lektüre einige größere Themenkomplexe heraus, die das Bild der Arbeit bestimmen und die hier in notwendigerweise verkürzter Form skizziert seien.
So greifen die beiden Eingangskapitel am Beispiel des schulischen und universitären Unterrichts der deutschen Sprache und Literatur die viel zu selten gestellte Frage nach den Bildungsvoraussetzungen für die Teilnahme am öffentlichen Diskurs auf. In einem Vergleich literaturpädagogischer Texte der Zeit mit der Praxis an den beiden höheren Schulen des Landes sowie der Landesuniversität Gießen kann Seidel eine partielle Umsetzung programmatischer Forderungen nach Abkehr vom rhetorisch-humanistischen Bildungsideal seit den 1760er-Jahren belegen. Von den beiden Komponenten des Reformprogramms, kritischer, selbstdenkender Umgang mit deutscher Literatur und Schulung des sprachlichen Ausdrucks, wurde allerdings nur Letzterer wirklich in den Lehrplänen verankert. Gerade an der Universität Gießen etablierte sich die reflektierte Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunstproduktion eher in einer außeruniversitären, wenngleich universitätsnahen Sphäre, etwa in der von Studenten und Dozenten geformten 'Teutschen Gesellschaft' und ihrer Zeitschrift, wobei selbst in diesem Fall freilich eine "berufsbezogene Propädeutik" (122), die Einübung sprachlicher Fertigkeiten durch die angehenden Pfarrer, Beamten und Lehrer, im Vordergrund stand. Von einer regelrechten Geschmacksbildung kann in Gießen also nicht die Rede sein.
Galt Seidels Interesse in diesen beiden wie auch im dritten Kapitel, das sich eher knapp mit dem in Darmstadt von Matthias Claudius begründeten Einsatz literarischer Formen zur Vermittlung volksaufklärerischer Ideen befasst, institutionellen Kontexten, so verschiebt das vierte Kapitel, in vielerlei Hinsicht das Zentrum des Buchs, den Schwerpunkt der Untersuchung in Richtung einer Funktionalisierung von Literatur für das Individuum. Am Beispiel Johann Heinrich Mercks, des Kriegsrats, Schriftstellers, Kunstberaters des Weimarer Hofes, Freundes Goethes und Briefpartners Wielands, legt Seidel jene Mechanismen offen, die Literatur einem bürgerlichen Intellektuellen zur Bewältigung seiner beruflich (geringe Aufstiegschancen in der staatlichen Bürokratie) wie privat (geistige Isolation in der Provinz) beengten Lebensverhältnisse zur Verfügung stellte. Mit sozialpsychologischem Instrumentarium analysiert der Autor Mercks heterogenes literarisches Oeuvre, die Rezensionen für den 'Teutschen Merkur', den Briefwechsel mit Wieland sowie die Selbstverlagsprojekte und Redaktionstätigkeit als exemplarische Versuche, die eigene gesellschaftliche Position zu bestimmen und durch den Nachweis fachlicher Kompetenz auf dem Gebiet der Literatur, der bildenden Künste und der Naturwissenschaften die soziale Integration in die überregionale 'res publica litteraria' sowie in höfische Zirkel zu erreichen. Auch wenn die Repräsentativität des Modells 'Merck' für andere beamtete Literaten der Zeit erst noch nachgewiesen werden müsste - die im Anschluss behandelten Biografien anderer hessischer Schriftsteller können diesen Nachweis mangels ausreichender Quellen oft nicht führen - hat Seidel doch eine "idealtypische Konstruktion" (229) identitätsstiftenden Umgangs mit Literatur entwickelt, die eine interessante Ergänzung zu Michael Maurers und Rebekka Habermas' Studien zum geistigen Haushalt des Bürgertums darstellt.
Einen ganz anderen Stellenwert besaß die Literatur dagegen für den Adel. Die "Notwendigkeit einer fundierten sprachlich-rhetorischen Ausbildung" (402) spielte im Rahmen seiner Erziehung und seiner Lesegewohnheiten, wie Seidel am Beispiel von Mitgliedern des Hauses Hessen-Darmstadt zeigt, zwar durchaus eine wichtige Rolle. Daraus aber eine herausgehobene Stellung der zeitgenössischen deutschen Literatur oder auch nur eine Schwerpunktverlagerung vom Französischen zum Deutschen in der sprachlichen Erziehung ableiten zu wollen wäre freilich verfehlt. Die französische Hofkultur blieb bis zum Ende des Untersuchungszeitraums dominant. Kann dieser Befund kaum überraschen, so lassen Seidels Bemerkungen über das höfische Theater eher aufhorchen, widerlegt er doch, zumindest für den hessen-darmstädtischen Hof, geläufige Vorstellungen von einer Dichotomie bürgerlicher und adliger Kultur. Vielmehr fand im sozialen Gefüge des Hoftheaters ein von beiden Seiten ernst genommener, ständeübergreifender Diskurs über und durch Literatur statt.
Gegen lieb gewordene Klischees tritt Seidel auch in seinem etwas zu lang geratenen Kapitel über die literarische Sozialisation bürgerlicher Frauen an, wenn er die Vorstellung eines Übergangs vom 'gelehrten' zum 'empfindsamen' Frauenideal in der Jahrhundertmitte als zu einschichtig charakterisiert und an programmatischen Stellungnahmen zur literarischen Bildung des weiblichen Geschlechts sowie insbesondere am Briefwechsel zwischen Herder und seiner Verlobten Caroline Flachsland ein differenzierteres Bild zeichnet. Demnach sollte die Frau in der zweiten Jahrhunderthälfte vielleicht nicht mehr gelehrt sein, hatte sich aber einer solch anspruchsvollen literarisch-künstlerischen Bildung zu befleißigen, dass sie einen aktiven und bisweilen sogar annähernd gleichberechtigten Part in der literarischen Kommunikation übernehmen konnte.
Mythen zerstört Seidel schließlich auch im abschließenden Kapitel über den Darmstädter Kreis der Empfindsamen. Nachdem er bereits in einem früheren Kapitel die Vorstellung von einem Darmstädter Musenhof als unbegründet zurückgewiesen hatte, wendet er sich mit dem empfindsamen Zirkel einer weiteren Ikone lokalpatriotischer Forschung zu. In einer eingehenden Kritik älterer Studien zur literarischen Produktion und personellen Zusammensetzung des vermeintlichen Kreises dekonstruiert er die verbreitete "Klassifizierung der 'Darmstädter Empfindsamen' als 'Gruppe' im soziologischen Sinne" (647). Stattdessen arbeitet er die individuellen Motivationen für die einzelnen empfindsamen Aktivitäten (zum Beispiel gemeinsame Lektüre, Landpartien et cetera) heraus, die "jeweils zwar in einem Bezug zum 'Kreis', aber keineswegs in dessen Dienst standen" (636), und leistet so einen Beitrag zur anhaltenden Diskussion um die Formen und Funktionen aufgeklärter Geselligkeit.
Seidels Studie, die sich streckenweise wie eine Folge in sich geschlossener Abhandlungen liest, bietet der Forschung also auch über das regionale Beispiel hinaus eine Reihe von Anregungen, die zu weiterführenden Untersuchungen Anlass geben. Vor allem aber liegt mit der Arbeit eine umfassende Dokumentation zum literarischen Leben Hessen-Darmstadts vor, die in einer durchaus positivistischen Weise, zu der sich Seidel sympathischerweise bekennt (14), eine Vielzahl minder bekannter Schriftsteller erstmals erschließt, zugleich aber auch zahllose, gleichsam en passant vorgenommene Neubewertungen von Werken berühmter Autoren wie Goethe oder Herder enthält (vergleiche zum Beispiel 153-159, 359-366, 533-555, 604-627). Auch wenn die ausschließliche Fokussierung auf die 'schönen Wissenschaften' angesichts der Verflechtung ästhetischer, religiöser und politischer Diskurse im 18. Jahrhundert artifiziell wirkt, kann an der Bedeutung dieser Arbeit für die Erforschung der aufgeklärten Öffentlichkeit in den Territorien des Reichs kein Zweifel bestehen.
Michael Schaich