Robert Seidel / Regina Toepfer (Hgg.): Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (= Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit; Bd. 14 (2010). Heft 1/2), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2010, 418 S., ISBN 978-3-465-04085-9, EUR 40,00
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Marion Gindhart / Hanspeter Marti / Robert Seidel (Hgg.): Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Robert Seidel: Literarische Kommunikation im Territorialstaat. Funktionszusammenhänge des Literaturbetriebs in Hessen-Darmstadt zur Zeit der Spätaufklärung, Tübingen: Niemeyer 2003
Regina Toepfer: Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter, Stuttgart: J.B. Metzler 2020
Der neue Band der "Zeitsprünge" ist ein Heimspiel für die Herausgeber, denn die "Frankfurter Forschungen zur Frühen Neuzeit" nehmen ihre eigene Stadt im Zeitraum von 1400 bis 1700 in den Blick. Dabei geht es nicht nur darum, neue Ansätze zur regionalen Literaturgeschichtsschreibung zu bieten. Vor allem soll das komplexe Themenfeld der städtischen Literatur der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, religiöser sowie politischer Formungen neu aufbereitet werden. Frankfurt als eher konservativ regierte Reichsstadt ohne Universität (bis ins 20. Jahrhundert) und als Messestadt ohne exponierte literarische Genies vor Goethes Zeit ist dabei hinreichend besonders, um die Einzelbetrachtungen zu rechtfertigen. Zugleich ist das Beispiel aber auch ausreichend gewöhnlich, um verallgemeinerbare Ergebnisse der Analysen zu gewährleisten.
Das Buch versammelt 18 Aufsätze vor allem von Germanisten, aber auch von Historikern, die mehrheitlich aus einer 2008 veranstalteten Tagung hervorgegangen sind. Der ausgezeichnete, aber zu wenig ausführliche einleitende Beitrag der Herausgeber Robert Seidel und Regina Toepfer verortet das Projekt im Zusammenhang einer regionalen Literaturgeschichte der "mittleren deutschen Literatur". Es wird die maßgebliche Forschung (Ruh, Peters, Janota, Williams-Krapp, Kleinschmidt) erwähnt, ohne dass allerdings wertend ins Detail gegangen würde. Dies wäre jedoch zu wünschen, denn das Projekt will explizit an die Vorgänger anknüpfen, sich jedoch auch von ihnen absetzen. So wird in der Einleitung das Moment der diskursiven Verflechtung als Signum und Herausforderung frühneuzeitlicher Texte hervorgehoben, das sich auch in der wissenschaftlichen Erforschung spiegeln soll. Seidel und Toepfer betonen deshalb, dass es ihrer Sammlung bewusst um die Pluralität möglicher Verstehensansätze zu tun ist, die nicht künstlich homogenisiert werden sollen.
Unter vier thematischen Schwerpunkten ("Literaturrezeption: Leser und Besitzer", "Aufführungstradition: Spiel und Drama", "Literaturproduktion: Messe und Buchdruck" sowie "Literarische Repräsentation: Selbst- und Fremdbilder") werden zum Teil hervorragende Einzelstudien geboten: So gelingt es Klaus Wolf in seinem Beitrag zum literarischen Leben Frankfurts im späten Mittelalter (in Analogie zu den Studien zu Augsburg), die literarische Landschaft zwischen den Polen von "Frömmigkeitstheologie" und "patrizischer Repräsentation" zu kartieren (51) und so den Rahmen literarischen Schaffens der Zeit grundlegend aufzuzeigen. Regina Toepfer arbeitet Brüche und Kontinuitäten zwischen dem Frankfurter Passionsspiel und dem reformatorischen Drama mit großer Sorgfalt heraus; sie bedient sich der besonders auch von Jan-Dirk Müller betonten Verortung beider Textsorten zwischen Theater und Kult und macht sie produktiv nutzbar: So wird zum Beispiel das spezifisch gottesdienstliche Verständnis des Dramas in den Blick gerückt (160). Der Beitrag von Klaus Kipf hebt die Bedeutung der Druckgeschichte für die Literaturgeschichte hervor. Am Beispiel der Frankfurter Drucke von Johannes Paulis "Schimpf und Ernst" zeigt Kipf eindrucksvoll die Entwicklung von einer moralisierenden Exempelsammlung (205) in Richtung des Schwankbuches auf. Der "Buchtyp Erzählsammlung" (220) wird durch die Frankfurter Drucker Christian Egenolff und Hermann Gülfferich in ihren Bearbeitungen der Sammlung Paulis befördert. Dieses Ergebnis kann Kipf zum Anlass nehmen, für eine umfassendere Einbeziehung der mediengeschichlichen Umbrüche in die Literaturgeschichte zu plädieren. Der Beitrag von Jörg Schwarz zur Stadtgeschichte Frankfurts macht die Bedeutung von Tagebuchaufzeichnungen anhand des Beispiels von Johann Heyse deutlich. Schwarz vermag, ausgehend von der These Pierre Monets zur Stadtgeschichte als Familiengeschichte, aufzuzeigen, welche "Umwälzung" (323) auch Heyses Tagebuchaufzeichnungen für die Historiographie bedeuten. Die Textsorte Tagebuch wird lesbar im Hinblick auf einen besonderen Protagonisten - die Stadt selbst (323). Robert Seidels Beitrag zur satirischen Gelegenheitsdichtung will eine bislang wenig beachtete Quellengattung (mit problematischer Überlieferung und schwer rekonstruierbaren Produktions- und Rezeptionsbedingungen (359)) für die Erforschung städtischer Literaturgeschichte nutzbar machen und eröffnet so ebenfalls neue Perspektiven der Forschung.
Die Stärke des Bandes liegt nicht nur in diesen Einzelstudien, sondern kommt besonders dann zum Tragen, wenn die einzelnen Beiträge tatsächlich, wie von den Herausgebern intendiert, ein ganzes Prisma an Deutungsmöglichkeiten einzelner Themen eröffnen - beispielhaft kann hierfür die Beleuchtung des Frankfurter Passionsspiels besonders durch Elke Ukena-Best und Regina Toepfer stehen. Ukena-Bests Betonung der intellektuellen Rezipientenlenkung im Passionsspiel (135) steht neben Toepfers Fokus auf der emotionalen Affizierung des Publikums. So werden Reibungsflächen der Interpretationen aufgezeigt, die der Leser produktiv nutzbar machen kann.
Problematisch wird die bisweilen geringe Integration der Beiträge in den Band, die in der Einleitung als programmatische Setzung anklingt (9), hingegen dann, wenn es den Beiträgern eher um beschreibende Darstellung als um die Diskussion von Thesen auf der Basis des zusammengetragenen Materials zu tun ist. Beschreibungen wie die Bernhard Wirths zu Frankfurter Drucken um 1500 oder Tina Terrahes zum Aufstieg Frankfurts zur Druckermetropole bleiben aufgrund ihres eher deskriptiven Überblickscharakters in der Sammlung blass. Ähnliches gilt auch für den Beitrag von Andreas Lehnardt, der knapp sein Projekt der Edition eines neu aufgefundenen Frankfurter Purim-Spiels referiert, die wichtigen Schlussfolgerungen jedoch seiner Monographie vorbehält. Die beiden Seiten des Bandes scheinen in der Kombination der Studien dann nicht zueinander zu passen, es fehlt der rote Faden eines einheitlichen Anspruchs an die Quellen.
Somit bleibt festzuhalten: Der Band changiert zwischen einer wegweisenden Sammlung neuer Forschungsansätze zur städtischen Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit (deren programmatische Basis in der Einleitung durchaus hätte umfangreicher positioniert werden können) und einer deskriptiv-informativen Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen. Die Gratwanderung gelingt nicht immer, doch überwiegt der Eindruck, es hier mit wichtigen und gewichtigen Beiträgen zu tun zu haben, die neue Wege beschreiten, neue Perspektiven eröffnen und neue Quellen sichten. Es bleibt zu hoffen, dass diese Arbeit durch zukünftige Studien ergänzt wird, die ihre Prämissen und Ziele noch deutlicher offen legen. Das vorliegende Buch leistet hierfür, bisweilen tastend, oft mutig, wichtige und grundlegende Arbeit.
Stefan Seeber