Matthias Lentz: Konflikt, Ehre, Ordnung. Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (ca. 1350 bis 1600), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2004, 383 S., ISBN 978-3-7752-6017-6, EUR 38,00
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Den Zugang zu einem ungewohnten Quellenkorpus zu schaffen, hat sich Lentz mit seiner Bielefelder Dissertation vorgenommen. Dieses Vorhaben erfüllt er gleich in doppelter Weise. Einerseits stellt er durch eine überzeugende Analyse der Wahrnehmungs- und Funktionsweisen von Schmähbriefen und Schandbildern seinen Untersuchungsgegenstand erstmals in einen modernen Forschungskontext. Andererseits schafft er in einem Katalog von zweihundert Exemplaren aus nordeuropäischen Bibliotheken und Archiven eine Grundlage zur weiterführenden Auseinandersetzung mit dem Thema. In der Kombination dieser zwei verschiedenen Aspekte liegt eine erste Stärke des Buches, weil es sowohl Quelle als auch Analyse zu ihrem Recht kommen lässt.
Das Verdienst des Verfassers wird besonders deutlich, wenn man sich die Forschungsgeschichte zu Schmähbriefen und Schandbildern vergegenwärtigt (1. Teil). Vor allem praktisch interessierte Rechtsgelehrte, Rechtshistoriker und am Rande Germanisten haben sich mit dem Gegenstand befasst. Seit der ersten systematischen Studie im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts führte die Beschäftigung mit dem Gegenstand jedoch stets von den Quellen weg. Zu Gunsten einer Einordnung in die Systematik geltender Rechtsnormen wurden historische Bedeutung und Gebrauch dieser Bild-Text-Quellen vernachlässigt. Einzelaspekte konnten zwar durchaus erhellt werden, eine Gesamtsicht wurde dadurch jedoch verunmöglicht; Lentz gelingt sie nun hervorragend.
Bezeichnenderweise blieb die Studie des akademischen Außenseiters Otto Hupp bis heute grundlegend; ohne Interesse an juristischer Kategorienbildung und Versuchen dogmatischer Systematisierung ließ sich Hupp in seiner 1930 im Selbstverlag herausgegebenen Sammlung "Scheltbriefe und Schandbilder" von seinem Interesse als Heraldiker und Zeichner leiten. Erst in einer "volkskundlichen Wende" in den 1960er-Jahren begann sich das Interesse von rechtshistorischen Systematisierungsversuchen hin zu Fragen nach der magischen Bedeutung der Quellen zu verschieben. In ihrer Folge nahm sich allmählich auch die Geschichtswissenschaft des Gegenstandes an; das seit den 1990er-Jahren verstärkte Interesse an sozialen Entstehungs- und Gebrauchsbedingungen des eigenen Untersuchungsgegenstandes eröffnete eine neue Perspektive auch auf Schmähbriefe und Schandbilder.
An dieser Stelle setzt der Verfasser denn auch an. In einer rechts-ethnografischen Herangehensweise entwickelt Lentz seinen Gegenstand aus dessen Einbindung in kulturelle und soziale Zusammenhänge. Hierfür wird ein doppelter Zugang notwendig. Zunächst gilt es die juristisch-normative Tradition, Funktion und Argumentation des verhandelten Rechtsstreites zu beleuchten (2. Teil). Dann aber muss, um dem selbst gestellten Anspruch gerecht zu werden, die Kontextualisierung in die sozialen und kulturellen Zusammenhänge erfolgen, wobei insbesondere die Austragungsmodi und die Lösungsmöglichkeiten, also die konkreten Gebrauchsbedingungen der Schmähbriefe und Schandbilder, im Vordergrund stehen. Dabei gruppiert der Verfasser seine Untersuchung um die Trias methodischer Konzepte / Begriffe, die sich in der Frühneuzeitforschung der letzten zwanzig Jahren als taugliche Instrumente erwiesen haben: Konflikt, Ehre und Ordnung.
Diese Überlegungen bleiben bei Lentz keine Trockenübungen, sondern werden anhand dreier Fallbeispiele exemplarisch und unmittelbar am reichen Quellenmaterial vorgeführt (3. Teil). Damit vollzieht Lentz den Schritt von einer Dogmengeschichte des Rechts oder einer Rechtsgattung hin zu einer Geschichte der Rechtspraktiken in vormodernen Gesellschaften. Die Beispiele sind dabei nicht zufällig gewählt. So fiel die Wahl auf Fälle, die sich für einen solchen Zugang auch eignen, das heißt bei denen sich auch Informationen über Umstände, Protagonisten, Kontexte und Ausgang des Rechtskonfliktes Genaueres oder Weiterführendes erhalten haben - alles Angaben, die sich aus den Quellen selbst kaum oder allenfalls nur rudimentär erschließen.
Gerne hätten wir häufiger so umfangreiche Angaben zu den Rechtshändeln, wie sie uns Lentz vom Streit zwischen dem Grafen Erwin von Gleichen und dem hessischen Ritter Werner von Hanstein im Jahre 1468 berichtet (87-101). Nachdem Erwin, um auf den Schuldner Druck auszuüben, wiederholt dessen sechs Bürgen ins Einlager (Verköstigung der Gläubiger in einem Gasthaus auf Kosten des Schuldners) einberufen, diese jedoch hierauf nicht reagiert hatten, verfasste er einen Schandbrief folgenden Inhalts: "[...] wir mahnen dich, rotbärtiger, roter Ritter, lügenhafter Schalck und Bösewicht, dass du von Stund an ohne jegliche Verzögerung nach Mülhausen in das Wirtshaus mit dem Namen Stockleib einreitest, und dort solange nicht hinausgehst, bis uns das Hauptgeld, die Zinsen und der Schaden gänzlich entrichtet worden sind. Hättest du dein Siegel einer Mähre vor ihre Fotze gedrückt, wäre dir solches viel nutzbringender gewesen, als dass du uns damit betrogen und uns das unsere abgeluchst hast". Gewissermaßen als 'attachment' beigelegt war ein dazugehöriges Schandbild, das die im Text vorgeschlagene Verwendung des Siegels, mit welchem die Bürgschaft besiegelt worden war, recht drastisch illustriert.
Dieses Fallbeispiel, bei dem es um ausstehende Kreditzahlungen Landgraf Ludwigs I. von Hessen an den Grafen Erwin von Gleichen ging, ist für die Frage nach den Konstellationen, Konfliktstrategien, Funktionsmechanismen sowie Austragungs- und Lösungsmodi vormoderner Rechtskultur höchst interessant. Nicht nur das wirtschaftliche Verhältnis zwischen Kreditgeber und Schuldner tritt zu Tage, sondern noch deutlicher die für die Vormoderne ja bezeichnende Überlagerung solcher Beziehungen durch Sozialbindungen und deren gleichzeitige Sicherung hierdurch. Das Interesse Werners, für den Landgrafen zu bürgen, erklärt sich nur aus der "sozialen Dimension rechtlicher Übereinkünfte, die auf Wechselseitigkeit und Vertrauten gründete" (92); der Landgraf stand mit anderen Worten in des Ritters 'symbolischer' Schuld, dieser hingegen nahm das Risiko auf sich, als Bürge für den Kredit belangt zu werden. Nachdem die Bürgen der mehrfachen Aufforderung, ins Einlager einzureiten, nicht nachgekommen waren, sandte Erwin zunächst Schandbriefe an sie. Aber auch diese bewirkten zunächst nichts; offensichtlich schlug Werners soziales Kalkül noch zu Gunsten des Landgrafen aus. Erst als der zitierte Schmähbrief mit dazugehörigem Bild 'öffentlich' verbreitet wurde und damit die Ehre des Ritters gefährdet war, erklärte er sich zum Ritt ins Einlager bereit, womit er den Schuldner unter Druck setzte, denn dieser hatte ja hierfür die Kosten zu tragen.
Naturgemäß sagen die von Lentz untersuchten Quellen nichts über den Ausgang des Konfliktes aus - dies wohl nicht zuletzt ein Grund ihrer langen Vernachlässigung -, sondern ermöglichen nur, die Modi zu rekonstruieren, nach welchen vormoderne Gesellschaften Rechtshändel austrugen. Dass hierfür das oben erwähnte Konzept der Ehre einen umfassenderen Zugriff bietet als rechtsdogmatische Zugänge, hat die Forschung längst erkannt.
In zwei weiteren Beispielen führt der Verfasser die Tauglichkeit seines Zugangs für anders gelagerte Rechtshändel vor. Handelte es sich bei dem oben geschilderten Fall um einen Konflikt zwischen zwei (rangverschiedenen) Adligen, wird anderswo (69-86) der Händel zwischen einem Adligen und einem Gemeinwesen im Jahre 1444 und zum Dritten (102-125) derjenige zwischen einem Kanonikerstift und einem Ritter um 1490 geschildert. Die unterschiedlichen Konstellationen dieser Beispiele verweisen auf die individuellen Möglichkeiten, mit denen die Kontrahenten in Konflikten jeweils agierten. Damit breitet der Verfasser einerseits die Vielfalt rechtspraktischen Konfliktverhaltens aus, andererseits legt er die strukturellen Momente dieser Verhaltensmodi frei - beides gelingt ihm überzeugend.
Für die Funktion der Quellen lautet das Fazit denn auch: Nicht die gescholtene Ehre ist das Ziel, also letztlich der definitive Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft, sondern die über den 'Hebel' vormoderner Ehrkonzepte in Gang gebrachte Wiederherstellung ordentlicher Rechtsverhältnisse oder der Ordnung schlechthin (117). Die hier untersuchten Schmähbriefe und Schandbilder entstanden - im Unterschied zur italienischen 'pittura infamante' - nicht aus politischen Konflikten, sie waren ebenso wenig Medien sozial (vertikal) kodierter Konflikte, sondern bezogen sich stets auf den Bruch vertraglicher Zusagen und damit auf 'Unordnung'.
Abschließend beschreibt der Autor die Einbindung dieser schimpflichen Medien in die Institution und Systematik frühneuzeitlicher Staatswerdung (4. Teil). Die Strategien außergerichtlicher Konfliktlösung standen durchaus in einem Konkurrenzverhältnis zu obrigkeitlichen Verfahrensregelungen. Obwohl Kaiser Maximilian II. mit der Reichspoliceyordnung von 1572 Schmähbriefe und Schandbilder verbieten ließ, verschwanden diese nicht unmittelbar, waren sie doch Manifestationen eines Rechtssystems, als dessen Basis das Ehrenwort galt. Nicht ein ausgereiftes, verschriftlichtes Gesetzesgebäude, sondern die Ehre regelte die gesellschaftlichen Kontakte auch und gerade in Konfliktsituationen. Das zeigt sich auch, wenn die Quellen vor die obrigkeitlichen Gerichte getragen wurden. Anhand eines weiteren Fallbeispiels aus den Jahren 1570 bis 1585 erläutert Lentz den Gebrauch von Schmähbriefen und Schandbildern vor dem Reichskammergericht. Die Funktion des Gerichts war es letztlich weniger, ein Urteil im Rechtsstreit selbst zu fällen, als den Rechtsfrieden durch "verfahrensregulierende Konsensbildung" (146) zu erhalten.
Den umfangreichen zweiten Teil des Buches bildet der Katalog der zweihundert Schmähbriefe und Schandbilder, die der Verfasser für die Jahre zwischen 1350 bis 1600 zusammengestellt hat: eine eindrückliche Schau auf eine beinahe unbekannte Quellengattung und Basis für künftige Forschung zugleich.
Lucas Burkart