Günther Buchinger et al. (Bearb.): Wien. 1. Bezirk - Innere Stadt (= Dehio - Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs), Horn: Verlag Ferdinand Berger & Söhne 2003, LV + 1095 S., ISBN 978-3-85028-366-3, EUR 83,00
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Mehr als 60 Jahre nach Erscheinen des letzten Dehio-Handbuches mit einem Beitrag zur Wiener Innenstadt (1941) hat das Österreichische Bundesdenkmalamt Wien in einer beeindruckenden wissenschaftlichen Leistung das Dehio-Handbuch Wien, I. Bezirk - Innere Stadt, vorgelegt. Deutlich erkennbar ist eine Steigerung des Anspruchs auf Vollständigkeit gegenüber den bereits erschienenen Bänden zu den ehemaligen Wiener Vorstädten (II.-IX. und XX. Bezirk, 1993) und den ehemaligen Wiener Vororten (X.-XIX. und XXI.-XXIII. Bezirk, 1997). Die Vervielfachung des Umfangs ist nicht allein durch den seit den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts erweiterten Denkmalbegriff bedingt, sondern dokumentiert vor allem eindrucksvoll den enormen Zuwachs an kunst- und bauhistorischem Wissen. Wurde beispielsweise die Wiener Hofburg 1941 auf vier Seiten abgehandelt, so kann sich der Leser jetzt auf 83 Seiten, unterstützt durch mehrere Planzeichnungen, über die komplexe Bau-, Ausstattungs- und Nutzungsgeschichte sowie den aktuellen Zustand dieses Konglomeratbaus informieren.
Während die deutschen Dehio-Handbücher das von Georg Dehio 1905 formulierte Ziel, an Stelle eines flächendeckenden Inventars eine handliche Auswahl an Objekten vorzulegen, beibehalten haben, strebt das Österreichische Bundesdenkmalamt mit den drei Bänden zur Stadt Wien die Erarbeitung eines historisch-topografischen Denkmälerinventars an. Für das "erste und einzige Gesamt-Inventar einer historischen europäischen Großstadt" (VII) wurden ausführliche Objektbeschreibungen mit dem Forschungsstand zur Baugeschichte verknüpft. Insgesamt fünf Register (Künstler, Personen, Ikonographie, Patrozinien und Objekte) erschließen die ungeheure Materialfülle. Von besonderem Wert sind die detaillierten Hinweise auf Restaurierungen, für die der Forscher sich bislang in die Akten des Bundesdenkmalamtes vertiefen musste.
In der architektur- und städtebaulichen Entwicklung der Inneren Stadt zeichnet sich Wien gegenüber anderen europäischen Großstädten durch die weitgehende Bewahrung des historischen Stadtbildes aus. Die seit dem römischen Legionslager und der spätmittelalterlichen Handelsgroßstadt über die kaiserliche Residenzstadt bis hin zur heutigen Wirtschafts-, Touristen- und Regierungscity aufeinander folgenden Phasen des Ausbaus und der Nutzung wurden kontinuierlich übereinander gelegt, was sich in traditionsreichen Straßenzügen und häufigen Um- und Ausbauten niedergeschlagen hat. Die sich wandelnden Funktionen der Straßenzüge und die komplexen Bau-, Umbau- und Ausstattungsgeschichten der Monumentalbauten sind den jeweiligen Einträgen zu entnehmen. Einen wertvollen chronologischen Wegweiser bietet der einführende Beitrag zur Stadtgeschichte und Stadtentwicklung von Günther Buchinger und Christa Farka, der dem Leser unter anderem auch einen groben Überblick über die wichtigsten Bauherren und Bauträger verschafft.
Von der Bautätigkeit des Mittelalters ist dem Stephansdom als wichtigstes und am besten erhaltenes Baudenkmal der breiteste Raum eingeräumt. Auf eine einleitende Würdigung folgen ausführliche Angaben zu Geschichte und Baugeschichte sowie die detaillierte Beschreibung des Äußeren, der Bauskulptur und des Inneren. Die reiche Ausstattung wird durch einen Orientierungsplan (203) erschlossen. Anders als St. Stephan erfuhren die meisten der einst 54 mittelalterlichen Sakralbauten der Wiener Innenstadt (Zusammenstellung auf XVII-XVIII) tiefgreifende Umgestaltungen. Der Inventarcharakter des Werkes bringt es mit sich, dass die jeweils sichtbare Bau- und Ausstattungsphase dominiert, wohingegen die Gestalt der mittelalterlichen Ursprungsbauten kaum eine Rolle spielt. Dies hat beispielsweise zur Folge, dass die Chorlösungen der beiden wichtigsten Mendikantenniederlassungen der Stadt (Franziskaner 1224, Dominikaner 1226) nicht zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Eine für das Dehio-Handbuch vorgenommene Bestandsaufnahme der Fundamente und Keller des I. Bezirks erbrachte, dass sich diese in Profanbauten ab der Zeit um 1200 erhalten haben (ausführliche Darstellung der unter der Leitung von Mario Schwarz durch eine universitäre Forschungsgruppe erzielten Ergebnisse in Band 56, Jahrgang 2002, der Österreichischen Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege).
Die gegenreformatorische Bautätigkeit, die die Vorstädte mit einer wahren Klosteroffensive überrollte, schlug sich in der Inneren Stadt außer im Neubau der Jesuitenkirche in den drei Platzanlagen des Jesuiten-, des Franziskaner- und des Michaelerplatzes sowie in Umbauten bestehender Kirchen nieder. In der Ausstattung dieser innerstädtischen Kirchenbauten findet sich eine Fülle von nicht allgemein bekannten Denkmälern vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Hier erweist sich das Dehio-Handbuch als Fundus für zukünftige Forschungen. Als Neuerung gegenüber den Bänden von 1993 und 1997 wird beispielsweise im Personenregister auf Familiengrablegen, Einzelgrabmäler und Epitaphien hingewiesen. Welche Orte der im Bannkreis des Kaiserhofs versammelte Adel für seine Wiener Begräbnisstätten wählte und welche Gestaltungsmöglichkeiten auf Grund des gesellschaftlichen Standes akzeptiert wurden, gehört zu den bislang kaum erforschten, aber durchaus ergiebigen Fragestellungen zum Wiener Barock.
Von großem Wert sind auch die Angaben zur inneren Ausgestaltung der Stadtpalais. Die wenigsten dieser in Barock, Klassizismus und 19. Jahrhundert reich ausgestatteten Bauten sind frei zugänglich. Dies hat dazu beigetragen, dass der für das Verständnis der hochadligen Bautätigkeit in Wien wichtige Bereich der Innenausstattung zu den vernachlässigten Forschungsgebieten gehört. Hier wird das Dehio-Handbuch künftige Forschungen erleichtern. Freilich konnten die Bearbeiter nicht jedem der bei der Begehung der Palais als "bemerkenswert" eingestuften Kunstgegenstände nachgehen. Ergänzend sei deshalb erwähnt, dass es sich bei den vier Ruinenlandschaften im Palais Questenberg (561) um vier der von Marcantonio Chiarini für das Erdgeschoss des Oberen Belvedere gemalten Ruinenstücke handelt (Besitz des Kunsthistorischen Museums). Im Stadtpalais des Prinzen Eugen dürfte der Angabe, das gegenwärtige, wohl in der Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene Deckengemälde im Goldkabinett stamme von Francesco Solimena (557), eine Verwechslung mit dem Goldkabinett des Oberen Belvedere zu Grunde liegen, für das Solimena das 1950 verbrannte Deckengemälde von Aurora und Kephalus gemalt hat.
Die Bau- und Ausstattungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts, dem der I. Bezirk die Ringstraße verdankt, nehmen ihrer guten Erhaltung und Dokumentation entsprechend breiten Raum ein. Von der neueren Architektur sind die durch die Postmoderne gesetzten Akzente, etwa die fantasievollen Ladeneingänge der 'Freizone Dorotheergasse' oder das knapp als Bau im Straßenverband abgehandelte Haas-Haus, ebenso vertreten wie die jüngsten Erneuerungen der Eingangsbereiche des Museums für Angewandte Kunst und der Albertina. Erfreulich ist, dass auch wenig bekannte Kunstwerke der Moderne, wie etwa im Ringturm am Schottenring, dem Sitz der Wiener Städtischen Versicherung, Erwähnung finden.
Insgesamt ist aus dem ursprünglichen Reisebegleiter im Sinne Georg Dehios ein Nachschlagewerk für die kunst- und bauhistorische Handbibliothek geworden, das aber alleine schon wegen des kulturellen Stellenwerts und auch der Schönheit seines Gegenstands eine Verbreitung über Spezialistenkreise hinaus verdient. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, warum das übersichtlich gestaltete Werk mit klarem Schriftbild und gut lesbarer Schrift bislang nicht auf dem üblichen Vertriebsweg des deutschen Buchhandels erhältlich ist.
Ulrike Seeger