Rezension über:

Johannes Grabmayer: Europa im späten Mittelalter 1250-1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte (= Kultur und Mentalität), Darmstadt: Primus Verlag 2004, 181 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89678-475-9, EUR 34,90
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Rezension von:
Uwe Israel
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Uwe Israel: Rezension von: Johannes Grabmayer: Europa im späten Mittelalter 1250-1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt: Primus Verlag 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/6166.html


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Johannes Grabmayer: Europa im späten Mittelalter 1250-1500

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Mit der anzuzeigenden Monografie von Johannes Grabmayer liegt der zweite Band einer von Peter Dinzelbacher für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt herausgegebenen Kultur- und Mentalitätsgeschichte vor. Als Eckpunkte für das späte Mittelalter werden traditionell die Jahre 1250 und 1500 gesetzt. Der Herausgeber selbst legte bereits den chronologisch unmittelbar voraufgehenden Teil zum Hochmittelalter vor, die Bände zur Spätantike, zum frühen Mittelalter, zur Frühneuzeit und zum Barock sollen folgen.

Der Herausgeber hat ein weites, der neueren Kulturgeschichte geschuldetes Verständnis von Kultur: "mentale Strukturen" werden nach seinem Vorwort "erst richtig verständlich, wenn man sie eingebettet in die allgemeine kulturelle Situation betrachtet" (7). "Deshalb" beginnt die Darstellung mit zwei längeren Kapiteln zu Gesellschaft (darunter auch Alltag) und Herrschaft (11-59), die immerhin knapp halb so lange sind wie die übrigen Kapitel "Einstellung zum Ich", "Einstellung zum Wir" sowie "Mensch und materielle Umwelt" (61-163).

Diese Gewichtung kommt dem Band durchaus zugute, denn schon in den Anfangskapiteln werden am Beispiel kultureller Hinterlassenschaften in überzeugender Weise Brücken von sozial- zu mentalitätsgeschichtlichen Themen geschlagen. So verweist etwa auf einem Fresko des so genannten "Feiertagschristus" das Ensemble von Arbeitsgeräten, das die Vielzahl der an Feiertagen und nach Feierabend verbotenen Tätigkeiten symbolisiert, auf die in spätmittelalterlicher Zeit gewachsene Differenzierung auch in der ländlichen Gesellschaft (14 f.).

Grabmayer richtet seine Perspektive nicht nur an dieser Stelle, sondern grundsätzlich auf Veränderung: "Was hat sich in den 250 Jahren, die wir Spätmittelalter zu nennen gewohnt sind, klar merkbar verändert, und was sind die besonderen kultur- und mentalitätshistorischen Merkmale dieser Veränderungen?" Für ihn ist "Das Spätmittelalter durch revolutionäre ökonomisch-soziale Umstrukturierungen gekennzeichnet", die er an zahlreichen Beispielen aus Wirtschaft und Gesellschaft verdeutlicht. Bei diesen Umbrüchen gab es nicht nur Gewinner. Grabmayer greift hier einen Gedanken von Hartmut Boockmann auf, der in seiner deutschen Geschichte "Stauferzeit und spätes Mittelalter" zu Recht darauf verwiesen hat [1], dass am Ende des Mittelalters auch in den Städten nicht für alle das "goldene Zeitalter der Lohnarbeit" herrschte (10). Allerdings erweckt Grabmayers Zitierweise den Eindruck, als habe Boockmann diese Formulierung geformt, der sich jedoch gerade von dem ursprünglich von Wilhelm Abel geprägten Wort [2] distanzierte.

Im Titel einer Darstellung aus dem Jahr der EU-Erweiterung darf natürlich das Wort "Europa" nicht fehlen. Allerdings erfüllt die vorliegende knappe Geschichte die mit einem Titel "Europa im späten Mittelalter" geweckten Erwartungen nicht. Schon das Vorwort des Herausgebers räumt ein, dass sich die Darstellung "auf die alltags- und mentalitätsgeschichtliche Situation Europas nördlich der Alpen konzentriert" (7), weil die Mittelmeerwelt "einen eigenen 'Kulturkreis'" darstelle. Lektüre und Ortsregister zeigen, dass offenbar auch England und Skandinavien sowie die mittelosteuropäischen Länder einen eigenen Kulturkreis darstellen, da sie praktisch nicht angesprochen werden. So bleibt von Europa nicht viel mehr als ein schmaler Streifen in der Mitte mit deutlichem Schwerpunkt auf das römisch-deutsche Reich.

Vielleicht hätte man eine auf ganz Europa gerichtete Erwartung erst gar nicht zu wecken brauchen, denn auch und gerade aus bescheidenerer Perspektive lassen sich treffliche Erkenntnisse über mentalitätsgeschichtliche Phänomene gewinnen, die verallgemeinerungsfähig sind. Der Autor und Klagenfurter Historiker belegt dies fortwährend, indem er überzeugende Beispiele aus der Kärntner Geschichte anführt, für die er auch sonst besonders ausgewiesen ist, und zahlreiche bislang kaum gesehene Bildquellen aus dem Alpenraum präsentiert. Die vielen Abbildungen sind hervorragend reproduziert und durchweg nicht als bloße Illustration beigegeben, sondern häufig auch in die textliche Argumentation mit einbezogen. Wermutstropfen sind allerdings Fotos wie das einer Replik der Uhr des Giovanni di Dondi von 1380 (147) oder der Jubiläumsuhr des Luis Zimmer von 1930 an einem immerhin mittelalterlichen Turm bei Antwerpen, wo unter anderem der amerikanische Kontinent zu sehen ist (148). Hier hätten sich doch sicher auch authentischere Beispiele finden lassen.

Positiv fallen an vielen Stellen prägnante Begriffserklärungen und etymologische Ableitungen auf, negativ dagegen manche stilistische Entgleisung, Anachronismen und Widersprüchlichkeiten. So steht das "feudale Sozial- und Wirtschaftssystem" während des ausgehenden Mittelalters "auf dem Prüfstand und erliegt den neuen sozioökonomischen Anforderungen" (9), so gelten "Heteropaare in einem Bett" prinzipiell als anrüchig (82), so ist die "intensive Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tod eine der großen anthropologischen Konstanten", während ihn gleichzeitig "die meisten von uns verdrängen" (94), so ist "die Schlafkammer der vielen wohl eher eine Kühlbox der Gefühle" (125).

Manche Einschätzung ist, wie leider häufiger in mentalitätsgeschichtlichen Arbeiten, sehr pauschal; so wird das Spätmittelalter ein Zeitalter genannt, "in dem die Gefühlswelt der Menschen durch Affektivität und Spontaneität gekennzeichnet ist, in der sexuelle Enthemmung durch übermäßigen Alkoholgenuß von Männern und Frauen, Kindern wie Halbwüchsigen zusätzlich gefördert wird [...]. Sogar Kinder sind vor sexuellen Übergriffen nicht gefeit" (75). Wann wären sie das je gewesen? muss man hier fragen. Als ersten Beleg führt Grabmayer an, dass die Baseler Annalen zu 1277 festhalten, dass ein siebenjähriges Mädchen einen Knaben geboren hätte. Darf man das wirklich glauben? Das "Stadtbürgertum" habe im Spätmittelalter "Begriffe wie 'Ehre' oder 'Loyalität'" im Gegensatz zum Adel durch "'Kalkül' und 'Gier' ersetzt" (109). Gab es denn unter den Bürgern keine Ehrenmänner und unter den Adeligen keine Gierschlünde? Die "gesamte Identität" eines Menschen habe sich über den Körper definiert (110). Dachte man denn nicht wenigstens manchmal auch an seine Seele?

Ohne Zusammenfassung oder Resümee endet der Text etwas abrupt mit der Betrachtung symbolischer Räume des Unterkapitels "Mensch, Zeit und Raum" (168). Der Anhang bietet neben den Anmerkungen ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister, während auf Sachbegriffe leider nicht verwiesen wird.

Trotz der angeführten Kritikpunkte ist Grabmayer eine gut lesbare und üppig bebilderte Darstellung gelungen, die an zumeist überzeugenden Beispielen in wesentliche Aspekte der spätmittelalterlichen Mentalität einführt.


Anmerkungen:

[1] Hartmut Boockmann: Stauferzeit und spätes Mittelalter. Deutschland 1125-1517, Berlin 1987, 238.

[2] "das Spätmittelalter war das 'goldene' Zeitalter des Handwerks"; Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, 3., neubearb. und erw. Aufl. Hamburg [u.a.] 1978, 67.

Uwe Israel