Rezension über:

Eberhard Schmitt / Thomas Beck (Hgg.): Das Leben in den Kolonien (= Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion; Bd. 5), Wiesbaden: Harrassowitz 2003, XVI + 546 S., ISBN 978-3-447-04828-6, EUR 68,00
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Rezension von:
Claudia Schnurmann
Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Zimmerer
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Schnurmann: Rezension von: Eberhard Schmitt / Thomas Beck (Hgg.): Das Leben in den Kolonien, Wiesbaden: Harrassowitz 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/5371.html


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Eberhard Schmitt / Thomas Beck (Hgg.): Das Leben in den Kolonien

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Nach 15 Jahren liegt nun der fünfte Band der Reihe "Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion" vor. Das ehrgeizige Werk hat seine Meriten: So überzeugt die Mehrheit der Einführungsessays zu den insgesamt fünf Kapiteln, denen 54 Quellen zugeordnet sind. Auch die kurzen Erläuterungen zu den einzelnen Quellen bieten wichtige Informationen. Viel Literatur ist zusammengetragen worden, jedoch vermisst man eine thematische Auffächerung, die den Zugang erleichtert hätte. In einigen Bereichen wäre es ratsam, ältere Darstellungen durch neuere Studien zu ersetzen, die den aktuellen Forschungsstand bieten: Sicherlich haben die Arbeiten etwa von Charles McLean Andrews von 1934-38 ihren Wert, aber es wäre ratsam, auch wichtige neue Standardwerke, wie die mehrbändige Reihe zur Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart (Münster 2000 ff.) von Norbert Finzsch, Hermann Wellenreuther und Ursula Lehmkuhl zu nennen. Ein ausführlicher Anhang beendet das Werk. Er beinhaltet neben Hinweisen auf Nachschlagewerke, Registern und Quellennachweisen für die Abbildungen et cetera eine umfangreiche Zeittafel (479-495), die deutlich das iberische Kolonialelement betont, während niederländische, englische, französische, schwedische und dänische Kolonien / Kolonialereignisse ebenso an den Rand gerückt werden wie der Anteil autochthoner Bevölkerungen am Leben in den Kolonien.

Das eigentliche Problem der vorliegenden Quellensammlung erwächst daraus, dass sich die Herausgeber zu viel vorgenommen haben. Ausgewählt wurden Quellen, die Zustände in drei Kontinenten (Süd- und Nordamerika, Afrika und Asien - Australien hingegen wird ignoriert) und über einen Untersuchungszeitraum von 1531 bis 1876 wiedergeben. Unterschiedliche Textarten offizieller und inoffizieller Natur (Berichte, Briefe, Urteile et cetera) werfen reizvolle Schlaglichter auf "Das Leben in den Kolonien".

Wie definieren die Herausgeber "Das Leben"? Folgt man den Kapiteleinteilungen, dann führten Kolonisten und Kolonisierte, die aber eher am Rande des Untersuchungsfeldes gerückt werden, oftmals relativ trübe Existenzen unter häufig bedrückenden Umständen. Diesen Eindruck vermitteln manche der Texte in Kapitel 1 "Das tägliche Brot- Sozialbeziehungen und materielle Grundlagen des Alltags" (1-128), Kapitel 2 "Familie, Erziehungen, Ausbildung" (129-193); Kapitel 3 "Der Weg nach oben: beruflicher und sozialer Aufstieg" (194-287), Kapitel 4 "Die Dinge jenseits des reinen Broterwerbs - Religiosität, Gottesdienst und Festkalender" (288-395) und Kapitel 5 "Die hässlichen Seiten des Lebens - Diskriminierung, Gewalt und Verbrechen" (396-477).

Quellen zu Themen, die unabhängig von Kulturen, Nationen und Ethnien zum menschlichen Leben gehören, wie Geburt, Kindheit, Jugend, Alter, Krankheiten, Sexualität in all ihren Ausformungen, Gruppenkonflikte, weltliche Festivitäten, Kriege zwischen Kolonien einer europäischen Macht oder mehrerer Mächte, Kommunikation und Medien, Infrastruktur oder Umweltkatastrophen sucht man vergebens. Einige dieser Aspekte werden im Vorwort (V-VI) als "irgendgeartet anthropologisch geprägte Gesamtsicht des Lebens" ins Abseits gestellt und finden keine Beachtung.

Nicht nur, dass die Lebenswelten in engen Grenzen gehalten werden. Auch bei den Positionen der Protagonisten in den Quellen, jenen, die beschreiben und ihre Sicht der Dinge liefern, dominieren bestimmte Perspektiven: 29 der 54 Quellen sind südamerikanisch-iberischer Provenienz - Nordamerika bringt es mit 22 Quellentexten auf Platz zwei. Weit abgeschlagen folgen Asien mit 7 und Afrika mit zwei Quellenvertretern; es überwiegen Quellen männlich-weißer Verfasser, während Frauen nur dreimal als Berichterstatterinnen auftreten und ansonsten Frauen sinnigerweise als Vertreterinnen solch unterschiedlicher, kaum für die Kolonialwelten repräsentativer Berufs- und Tätigkeitsgruppen wie die der Prostituierten, der Nonne, als deutsche Generalsgattin, batavische 'Luxusweibchen' oder wohlhabende Pflanzersfrau (zum Beispiel Nummer 11, 31, 32, 33, 38,) in Erscheinung treten. Kinder, Angehörige indigener Völker in Amerika und der Karibik, Schwarze, Kreolen oder gar Asiaten finden kaum Beachtung oder kommen nicht selbst zu Wort. Angesichts der Betonung eurozentrischer und europäischer Sichtweisen und Aufnahme solcher Texte aus der Sicht der Kolonisten im Stile obsoleter "Übersee-, Kolonial- und Expansionsgeschichte" fragt man sich, warum nach Meinung der Herausgeber die Quellenauswahl "für bestimmte Konstellationen und Zusammenhänge auch durch und durch repräsentativ" sei (VI).

An dieser Stelle soll nicht kleinlich auf gelegentliche ungeschickte thematische Verkürzungen und kuriose Verbindungen von Text und dem reichlichen Bildmaterial (60 Abbildungen, drei Karten, eine Grafik, zwei Tabellen) eingegangen werden, die falsche Vorstellungen bei den Lesern erwecken könnten. Mit dem Verweis auf die Leser ist das entscheidende Stichwort für die eigentliche Gretchenfrage dieses Unternehmens gefallen: An welche Zielgruppe richtet sich diese aufwändig gestaltete, umfangreiche Edition in die deutsche Sprache übersetzter Quellen? Fachleuten bietet sie zu wenig, da diese stets auf die Originale beziehungsweise auf Editionen der Quellen in deren Originalsprache zurückgreifen werden. Dem Laien bietet sie zu viel - er wird verloren vor dieser Fülle stehen und nicht wissen, wie er die Teile zu einem faszinierenden Bild zusammensetzen soll.

Claudia Schnurmann