Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 13), München: Oldenbourg 2003, 538 S., ISBN 978-3-486-56676-5, EUR 69,80
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Die westlichen und US-amerikanischen Einflüsse auf den Ideen- und Gedankenhaushalt der bundesdeutschen Arbeiterbewegung in der ersten Nachkriegsdekade sind bisher kaum systematisch untersucht worden. Zwar steht außer Zweifel, dass das Godesberger Programm der SPD von 1959 und das Düsseldorfer Programm des DGB von 1963 einen Bruch mit den marxistischen Traditionen der Arbeiterbewegung markierten. Wie stark jedoch der Ideentransfer zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf der einen und vor allem den US-amerikanischen Gewerkschaften auf der anderen Seite tatsächlich war, untersucht nun Julia Angster in ihrer Dissertation. Die Arbeit ist im Rahmen eines größeren Projektes zur "Westernisierung" an der Universität Tübingen entstanden. Die zentrale Fragestellung der Studie ist, inwieweit das Umdenken in der Sozialdemokratie und im Deutschen Gewerkschaftsbund kulturellen Einflüssen aus anderen Gesellschaften unterlag, wie sich derartige Beeinflussungen auswirkten beziehungsweise vollzogen und welche Protagonisten dabei eine zentrale Rolle spielten (15). Als theoretische Grundlage zur Beantwortung dieser Fragen dient ihr das Konzept der "Westernisierung", welches als Alternative zum gängigen Amerikanisierungskonzept im Tübinger Projekt Anwendung gefunden hat (15f). [1]
Bei der Dissertation handelt es sich um eine sorgfältig recherchierte und facettenreiche Arbeit, die den Sachverhalt kenntnisreich darlegt. Die sechs Kapitel der Studie gliedern sich in die ideengeschichtlichen Hintergründe (Kapitel I), die Entstehung eines transnationalen Netzwerkes nach 1945 (Kapitel II) sowie die Struktur und Arbeitsweise des Netzwerkes zwischen 1952 und 1957 (Kapitel V). Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Politik der westdeutschen und amerikanischen Arbeiterbewegung zwischen 1945 und 1952 (Kapitel III), der Wertewandel, der sich bei den deutschen Reformern von 1925 bis 1949 vollzog (Kapitel IV), sowie schließlich die Erörterung der konkreten Reformprogramme von SPD und DGB aus den Jahren 1959 beziehungsweise 1963 (Kapitel VI).
In Angsters Buch wird insbesondere die Rolle der Emigranten bei dem erfolgten Ideentransfer herausgearbeitet und gewürdigt. Im Mittelpunkt stehen dabei die persönlichen Kontakte und Netzwerke, die sich während der Zeit der Emigration in Großbritannien und den USA zwischen Angehörigen der deutschen und einheimischen Arbeiterbewegung gebildet und auch über das Jahr 1945 hinaus Bestand hatten. Des weiteren macht Julia Angster deutlich, dass besonders von amerikanischer Seite und dem Office of Strategic Services (OSS) bewusst Kontakte zu Gruppen und Einzelpersonen der deutschen Arbeiterbewegung, wie zum Beispiel zur "Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien", im Exil aufgebaut worden sind, um Informationen über die Situation der Arbeiterschaft im "Dritten Reich" und deren Widerstandstätigkeit zu erhalten; außerdem wurden zuverlässige Sozialisten ausgewählt und für zukünftige Aufgaben ausgebildet (253). Die in der Emigration lebenden Angehörigen der deutschen Arbeiterbewegung hatten Interesse an diesen Kontakten, sofern ihre politische Unabhängigkeit nicht angetastet wurde, da ihnen an starken Verbündeten auch im Hinblick auf die deutsche beziehungsweise europäische Nachkriegsordnung gelegen war (254).
Der Einfluss der vielen ehemaligen Emigranten, wie unter anderen Willi Eichler, Max Brauer, Fritz Heine, Erich Ollenhauer, Siggi Neumann, Ludwig Rosenberg, Otto Brenner oder Irmgard und August Enderle, die nach 1945 nach Deutschland zurückkehrten und in Sozialdemokratie und Gewerkschaften schnell in wichtige Positionen gelangten, ist sicherlich bisher unterschätzt worden. Sie waren im Exil vor allem durch die Praxis und die Ideen der Arbeiterbewegung in den Aufnahmeländern geprägt worden. Diese Ideen nahmen sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit nach Deutschland und brachten sie in SPD und Gewerkschaften ein, was für deren weitere Entwicklung von erheblicher Bedeutung sein sollte. Die persönlichen Netzwerke, die sich während der Emigrationszeit mit Funktionären aus der englischen und amerikanischen Arbeiterbewegung gebildet hatten, sowie das Interesse von Amerikanern und Engländern, die westdeutsche Arbeiterbewegung in ein westliches Wertebündnis zu integrieren, haben den Einfluss der ehemaligen Emigranten auf die Veränderungsprozesse in der SPD und den Gewerkschaften sicherlich verstärkt und deren Wirkungsmächtigkeit erhöht. Julia Angster gelingt es sehr detailliert, die vielschichtigen Beziehungsgeflechte, Interessenslagen und Ideentransfers zu rekonstruieren, einzuordnen und zu interpretieren. Sie geht dabei von einer sehr gezielten Umorientierung der bundesdeutschen Arbeiterbewegung auf anglo-amerikanische Vorstellungen aus, die von Westalliierten und Remigranten verfolgt wurde, so dass man sich nicht ganz des Eindrucks eines Masterplans erwehren kann. Demgegenüber werden die Traditionen von deutscher Sozialdemokratie und Gewerkschaften, die bis in die Weimarer Republik zurückreichten und schon Ansätze einer Öffnung und ideologischen Umorientierung beinhalteten, zu wenig berücksichtigt.
Ein anderer, nicht ganz unproblematischer Punkt ist es, die Ergebnisse in ein vorgefertigtes theoretisches Interpretament zu pressen. Grundsätzlich ist ein Ansatz, der sich von dem einseitigen "Amerikanisierungskonzept" verabschiedet, zu begrüßen. Das "Westernisierungskonzept" ist demgegenüber differenzierter und betont keinen einseitigen, sondern einen wechselseitigen Austauschprozess zwischen Deutschland und den USA beziehungsweise Großbritannien. In der Arbeit von Angster wird dann allerdings doch - trotz eines anders formulierten Anspruches - das Hauptaugenmerk auf die amerikanischen Einflüsse gelegt. Dennoch ist ihrem Fazit, welches sie in der Schlussbemerkung formuliert, zuzustimmen: "Englische wie amerikanische Elemente fanden Eingang in das Denken der deutschen Reformer, die darüber hinaus auch die eigenen, deutschen Traditionen nicht einfach abstreiften, sondern sie vielmehr mit Hilfe der neuen Elemente modifizierten. [...] Am Ende dieser multilateralen Transferprozesse lassen sich daher in den Programmen und der Politik von SPD und DGB nicht spezifisch amerikanische, und auch nicht spezifisch englische, Züge erkennen, sondern vielmehr eine 'Mischform', die jedoch ganz eindeutig der westlichen Wertewelt zugehört." (470).
Die wenigen Kritikpunkte schmälern allerdings nicht den zentralen Stellenwert und die neuen Erkenntnisse der Untersuchung von Julia Angster für die (Ideen-)Geschichte der Bundesrepublik und ihrer Arbeiterbewegung sowie den Prozess ihres "langen Wegs nach Westen" (H.A. Winkler).
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu ausführlich Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999.
Daniela Münkel