Julia Angster: Erdbeeren und Piraten. Die Royal Navy und die Ordnung der Welt 1770-1860, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 345 S., ISBN 978-3-525-30037-4, EUR 62,95
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Wer, wie der Rezensent, bei der Royal Navy eher an Patrick O'Brians Jack Aubrey und dessen historisches Vorbild Thomas Cochrane und weniger an einen Erdbeeren pflanzenden William Bligh denkt, wird von der Historikerin Julia Angster in doppelter Hinsicht positiv überrascht. Ihre Tübinger Habilitationsschrift beginnt mit eben jener merkwürdig anmutenden Szene eines gärtnernden William Bligh, der damit allerdings nichts weniger als einen "Beitrag zu einer globalen maritimen Ordnungspolitik" (7) leistet. Diese Ordnungspolitik sowie deren konsequente Durchsetzung stehen im Zentrum von Angsters Untersuchung. In die Tat umgesetzt wurde sie von der größten "Regierungsbehörde Großbritanniens", der Royal Navy, die zudem die "stärkste Kriegsflotte der Welt" (27) darstellte, wie man sie aus Patrick O'Brians Erzählungen kennt. Auch die Feststellung, dass sich die Vormachtsstellung durch die "haushohe Überlegenheit ihrer Mannschaften, vor allem ihrer Kanoniere" (27) begründete, könnte den Romanen um Captain Aubrey entnommen sein. Allerdings macht Julia Angster hier nicht Halt. Noch wichtiger als die Seekriegsführung sind ihr die "soft powers", die bei der Formierung des zweiten britischen Empire, dem Informal Empire, Anwendung fanden: "Handelsbeziehungen und Finanzströme, Netzwerke von Wegen und Stützpunkten, Kommunikationsverbindungen und Einflußsphären, in denen [...] staatliche und gesellschaftliche Kräfte also parallel oder gemeinsam aktiv waren." (9) Somit ist die Royal Navy bei Angster mehr als eine Seestreitmacht, sie ist auch die "größte industrielle Organisation ihrer Zeit", eine "staatliche Institution mit globaler Reichweite" (27), welche die Welt vom Meer her definiert. Ihr Staatsgebiet sind die Weltmeere, die sie ab 1805 unangefochten kontrollieren kann und sie so im britischen Sinn "zum Geltungsgebiet einer liberalen Werte- und Rechtsordnung" (283) macht.
Angster beginnt mit der inneren Ordnung und einer detaillierten Beschreibung der Royal Navy. Sie liefert dem Kenner zwar keine neuen Erkenntnisse, eröffnet aber dem Laien die Welt an Bord der bis zu 1000 Schiffe unterschiedlichster Klassen und Größen. Es gelingt ihr nicht nur die "customs of the sea", jene fast Glaubensgrundsätzen gleichkommenden Traditionen, die das Leben der Seeleute regelten, anschaulich zu erklären, sie räumt auch mit verschiedenen Klischees auf. Brutale Kapitäne wie William Bligh waren eher die Ausnahme. Die Regel waren besonnene Kommandeure, die durch Autorität und Können führten. Hatten sich doch nicht wenige, wie James Cook, selbst durch die Ränge hochgedient. Zumindest bis zum Ende der napoleonischen Kriege galten auf See noch keine Klassenschranken.
Die folgenden drei Kapitel nutzt die Autorin dazu, die "soft powers" des von circa 1783 bis 1860 bestehenden Informal Empire anhand ausgewählter Beispiele näher zu beleuchten: die Entdeckungsfahrten zur Kartierung der Weltmeere und ihrer Küsten, die Katalogisierung und Neuordnung der Natur sowie die Zivilisierung der Weltmeere im Kampf gegen Piraten und den Sklavenhandel. Hierbei greift Julia Angster auf eine beeindruckende Anzahl britischer Archivalien zurück und schildert gekonnt die britische Weltaneignung durch Wissenserwerb (65). Als Beispiele dienen Cooks Entdeckungsfahrten im Pazifik ebenso wie die Suche nach der Nord-West-Passsage und John Franklins Arktis-Expedition. Die entstandenen Seekarten behielt die Admiralität keinesfalls für sich, sondern sorgte für ihre Verbreitung als untrügliches Zeichen britischer Vormacht. Ebenso wie die Zusammenarbeit mit der Royal Society bei der Sammlung von Tieren und Pflanzen aus aller Welt, waren bereits die Entdeckungsfahrten ein gelungenes Beispiel für die staatlich-private Kooperation, die das Informal Empire auszeichnete.
Botaniker wie Sir Joseph Banks konnten in Kooperation mit der Navy ihrer Forschungs- und Sammelleidenschaft frönen - Banks begleitete Cook auf seiner ersten Weltumsegelung - und gleichzeitig zur Neuordnung der Welt beitragen. Das gesammelte Wissen wurde umgesetzt, die Navy wollte aus "der Wildnis einen Garten machen" (170). Hierzu pflanzte William Bligh nicht nur Erdbeeren, er unternahm auch zweimal eine Reise, um die Brotfrucht von Tahiti nach Jamaika zu bringen. Seine erste Fahrt hatte in der berühmten Meuterei geendet. Der Erfolg der zweiten ist bis heute auf Jamaika zu sehen. Abgerundet wird die Darstellung der "Zivilisierungsmission" (261) der Royal Navy durch eine detaillierte Beschreibung des Kampfes gegen Piraterie und den atlantischen Sklavenhandel. Es war nicht immer einfach, die "Polizei der Meere" (261) zu sein: Beim Kampf gegen die griechischen Kléftes, die dem britischen Mittelmeerhandel zusetzten, tat sich die Royal Navy anfangs schwer. Die Kléftes, was Dieb und Patriot bedeutet (269), wurden von griechischen Behörden gefördert. Mit der Einnahme der Festung von Gravusa im Februar 1828 beendete die Navy allerdings die Zeit der griechischen Piraten (277). Ebenso hatte sie, so Angster, bis 1840 die Regeln des Freihandels auf den Meeren verbindlich durchgesetzt und konnte die internationale Ordnung nach eigenen Vorstellungen strukturieren (281).
Erdbeeren und Piraten ist eine hervorragend geschriebene Kulturgeschichte des Freihandels und der Royal Navy, die dem Fachpublikum neue Sichtweisen auf die Geschichte des britischen Empires eröffnet. Sie erschließt ebenso Patrick O'Brian-Lesern die Hintergründe der Freundschaft Jack Aubreys (Kapitän) und Stephen Maturins (Arzt und Naturwissenschaftler) und erklärt Laien schlüssig die Welt der Navy. Dies, und die solide Quellenbasis, machen Erdbeeren und Piraten uneingeschränkt empfehlenswert.
John Andreas Fuchs