Christian Jansen (Hg.): Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert. Ein internationaler Vergleich (= Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung; Bd. 3), Essen: Klartext 2004, 314 S., ISBN 978-3-89861-299-9, EUR 16,90
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Der vorliegende Band beinhaltet die erweiterten und überarbeiteten Fassungen von Referaten, die 2002 auf der Jahrestagung des "Arbeitskreises Historische Friedensforschung" gehalten wurden. Herausgeber und Autoren grenzen sich von der älteren historischen Forschung ab, die dem bürgerlichen Nationalismus eine ursprünglich friedliche und kosmopolitische Ausrichtung zusprach und demgegenüber eine Kontinuität des preußischen, von der Aristokratie getragenen Militarismus vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg betonte, unter dessen Einfluss sich die bürgerlichen Ideale im Sinne eines "rechten", militaristischen Nationalismus radikalisiert hätten. Im Unterschied dazu weisen sie darauf hin, dass jene von Anfang an ambivalent gewesen seien: Es sei folglich nicht einfach möglich, zwischen einer "progressiven" und "reaktionären" Phase zu unterscheiden, vielmehr ziehe sich ein spezifisch bürgerlicher, liberaler und sogar demokratischer Militarismus durch das gesamte 19. Jahrhundert, der sich von dem aristokratisch geprägten zwar teilweise unterscheide, sich mit diesem aber auch vielfältig amalgamiert habe.
Der Sammelband gliedert sich nach einem einleitenden Forschungsüberblick des Herausgebers in zwei Abschnitte: Der erste widmet sich in vier Beiträgen den "bürgerlich-militärischen Diskursen": So informiert Thomas Kater (Paderborn) über Tendenzen der Militarisierung der Gesellschaft schon in der preußischen und schottischen Aufklärung (Immanuel Kant, Adam Smith, Adam Ferguson), Wolfgang Kruse (Hagen) über die Entstehung des modernen Militarismus in der Französischen Revolution, Rudolf Jaun (Zürich) beleuchtet den Sonderfall des Schweizer Milizsystems und Jörn Leonhard (Oxford, München) die Diskussion um den Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und den USA seit den 1860er-Jahren. Der zweite Abschnitt behandelt in sieben Beiträgen die "gesellschaftliche Verankerung des Bürgersoldaten": Bernhard Schmitt (Trier) untersucht hierbei vergleichend die Wehrpflicht in der preußischen Rheinprovinz und im habsburgischen Norditalien, Michael Krüger (Münster) den Stellenwert von Nationalismus und Militarismus in der deutschen und US-amerikanischen Turnbewegung des 19. Jahrhunderts, Frank Becker (Münster) Militärpolitik und Militarismus in Deutschland und Frankreich zwischen 1870 und 1914, Christa Hämmerle (Wien) die Allgemeine Wehrpflicht in der österreichisch-ungarischen Monarchie, Corinna Hauswedell (Mannheim, Köln) die Radikalisierung und Militarisierung nationaler, sozialer und konfessioneller Gegensätze im Irland des 19. Jahrhunderts, Sonja Levsen (Tübingen) den Militarismus in englischen Colleges und deutschen Studentenverbindungen und Marie-Louise Goergen (Paris) militärische und militaristische Einstellungen in der deutschen und französischen Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Abschließend bietet der Sammelband noch einen Literaturbericht zu neuen Forschungsergebnissen zum Ersten Weltkrieg (Benoît Majerus) sowie zwei Rezensionen von Christa Hämmerle: "Die kasernierte Nation" von Ute Frevert und "Militär und Geschlecht in Israel" von Uta Klein.
Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, die durchweg gelungenen Beiträge auch nur ansatzweise in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Es seien beispielhaft deshalb lediglich zwei Beiträge hervorgehoben, die bisher zu Unrecht wenig beachtete Aspekte der Militarismusforschung auf innovative Weise beleuchten: So zeigt Christa Hämmerles gelungener "Werkstattbericht" aus dem Wiener Projekt "Die Allgemeine Wehrpflicht zwischen Akzeptanz und Verweigerung: Militär und Männlichkeit/en in der Habsburgermonarchie 1868-1914/18" die Problematik einer Allgemeinen Wehrpflicht in einem Vielvölkerstaat, wo diese ihre staatsintegrative Funktion angesichts der zentrifugalen Tendenzen der einzelnen Völker nur eingeschränkt ausfüllen konnte. Zwar war die nach der Niederlage von 1866 in beiden Reichsteilen eingeführte Wehrpflicht in gewisser Weise ein Erfolg des 1867 von Kaiser Franz-Joseph ernannten, im Kern deutschliberal-zentralistisch orientierten Bürgerministeriums, doch war diese Errungenschaft in mehrfacher Hinsicht zwiespältig: Die gemeinsame k. (u.) k. Armee blieb zwar erhalten, was auch der Erwartungshaltung der Dynastie entsprach - ein im Übrigen von Hämmerle ein wenig vernachlässigter Aspekt -, doch musste man dem ungarischen Nationalismus dadurch Rechnung tragen, dass das Königreich eine eigene Landwehr - die königlich ungarische Honvéd - erhielt, die in der Folgezeit immer mehr die nicht vorhandene ungarische Nationalarmee substituierte. Kompliziert waren auch die in den Ausgleichsverhandlungen mit Budapest gefundenen Mechanismen zur Finanzierung der gemeinsamen Armee. Unter diesen Auspizien musste langfristig der Versuch misslingen, die Streitkräfte nach west- und mitteleuropäischem sozialmilitaristischem Vorbild zu einer wirklichen Schule des dynastieorientierten Reichspatriotismus zu machen, wenngleich der potenzielle Zugriff des Staates auf die männliche Bevölkerung im Sinne einer ansatzweisen Homogenisierung der Untertanen natürlich nicht zu leugnen ist.
Zweitens sei verwiesen auf die interessanten Ergebnisse von Sonja Levsen, deren Aufsatz Teilergebnis eines umfangreicheren Dissertationsprojekts im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereichs "Kriegserfahrungen" ist. Die Autorin vermag am lokalen Beispiel der Universitäten Tübingen und Cambridge nachzuweisen, dass es zwar in Form und Intensität militarisierter Verhaltensformen Unterschiede zwischen englischen und deutschen Studenten gab, College- und Verbindungsstudenten jedoch das Selbstbild gemeinsam war, dass sie gerade als Studenten eine besondere patriotische Pflicht ihrem jeweiligen Vaterland gegenüber zu erfüllen hätten, Maßnahmen zur Wehrertüchtigung und den Kriegseinsatz eingeschlossen. Vergleichbar war auch die aus dem, soldatischer Männlichkeit verpflichteten, Wehrgedanken resultierende tendenzielle Ablehnung der gleichberechtigten Öffnung der Universitäten für Frauen. Diese Geisteshaltung korrespondierte mit dem Eliteverständnis sowohl der deutschen wie der englischen Studenten im Sinne des Anspruchs, die gesellschaftliche Führung in ihren Ländern zu begründen und zu erhalten. Die Autorin korrigiert insofern erheblich die ältere Forschung, die den deutschen Studentenverbindungen eine im europäischen Vergleich singuläre Rolle bei der Militarisierung von Universität und akademischen Eliten zusprach. Der Beitrag stellt außerdem einen schlagenden Beweis dafür dar, dass studentengeschichtliche Themen und Fragestellungen - und hierbei insbesondere die Untersuchung der verbindungsstudentischen Subkultur im europäischen Vergleich - zu Unrecht vielfach vernachlässigte Forschungsfelder der Geschichtswissenschaft sind.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Band eine gelungene Bestandsaufnahme aktueller Tendenzen der Militarismusforschung darstellt, die die künftige Forschung zweifellos bereichern und befruchten werden.
Matthias Stickler