Peter Winzen: Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung und Dokumentation (= Historische Mitteilungen. Beihefte; Bd. 43), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 369 S., ISBN 978-3-515-08024-8, EUR 88,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Sina Steglich: Zeitort Archiv. Etablierung und Vermittlung geschichtlicher Zeitlichkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2020
Otto von Bismarck: Schriften 1884-1885. Bearbeitet von Ulrich Lappenküper, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011
Otto von Bismarck: Schriften 1890-1898. Bearbeitet von Andrea Hopp, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021
Die Daily-Telegraph-Affäre ist von der Forschung in der Vergangenheit vielfältig behandelt worden, wichtige einschlägige Dokumente sind bereits publiziert. Insofern glaubt man eigentlich, den Gegenstand des vorliegenden Bandes zu kennen, und fragt nach dem Nutzen der kommentierten Dokumentation. Bekanntlich hatte die Londoner Tageszeitung "Daily Telegraph" am 28.10.1908 die zu einem Interview umgestalteten Gespräche Kaiser Wilhelms II. mit dem ihm befreundeten Obersten Sir Edward James Stuart Wortley veröffentlicht, welche im In- und Ausland wegen ihrer als selbstgerecht und herablassend empfundenen Diktion Entrüstung und Befremden auslösten. Das Bekanntwerden der Vorgeschichte des Skandals und das schlechte Krisenmanagement der Regierung Bülow enthüllten schlaglichtartig die problematischen Herrschaftsstrukturen des Wilhelminischen Reiches und beschädigten das Ansehen des Kaisers, aber auch der Reichsregierung nachhaltig. Dennoch gelang es den Gegnern Bülows im Reichstag nicht, die vorübergehende Krise der Reichsführung zu einer echten Parlamentarisierung der Reichsverfassung zu nutzen. So weit in aller Kürze der allgemein anerkannte Forschungsstand. Peter Winzen hat sich jedoch nicht einfach damit begnügt, diesen durch die Zusammenfassung der verfügbaren Quellen gleichsam zu illustrieren, er hat vielmehr wichtiges neues Material erschlossen und so eine präzisere Einordnung der Daily-Telegraph-Affäre in die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs möglich gemacht.
Um es gleich vorwegzunehmen: Peter Winzens Quellenedition genügt höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen, sie enthält neben einem umfassenden darstellenden Teil, der sachkundig und zuverlässig in die Materie einführt, 130 Quellenstücke, überwiegend aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin). Diese erlauben es nunmehr, Vorgeschichte, Verlauf und Folgen der Affäre weitgehend lückenlos nachzuvollziehen. Von besonderer Brisanz hierbei ist, dass Winzen zu der "nahezu hundertprozentig abgesicherten Annahme" (9) kommt, dass Reichskanzler Bülow, anders als er es später vor dem Bundesrat, dem Reichstag, dem preußischen Staatsministerium und der deutschen Öffentlichkeit behauptete, das Manuskript des Wortley-Artikels doch gelesen hat. Die Brisanz des Inhalts muss er demnach entweder verkannt haben oder, in ähnlich gönnerhafter Manier wie der Kaiser selbst, als notwendige Klarstellung der deutschen Position eingeschätzt haben, was beides seinen politischen Fähigkeiten kein sonderlich gutes Zeugnis ausstellt. Als das Kind in den Brunnen gefallen war, versuchte Bülow dann, alle Spuren seiner eigenen Verantwortlichkeit sorgfältig zu verwischen. Winzen hat zahlreiche Hinweise auf die Manipulation der einschlägigen Akten bzw. die Vernichtung belastender Schriftstücke gefunden (11).
Besonders verdienstvoll an Winzens Arbeitsweise ist vor allem, dass er die Daily-Telegraph-Problematik, welche in Deutschland bisher überwiegend vor dem Hintergrund der innenpolitischen Strukturdefizite des Kaiserreichs analysiert wurde, auch im Hinblick auf deren außenpolitische Folgewirkungen untersucht hat. In diesem Zusammenhang kommt dem Hale-Interview vom 19.7.1908 eine besondere Rolle zu, dessen drei überlieferte Versionen in Appendices dokumentiert sind. In diesem hatte sich Wilhelm II. gegenüber dem amerikanischen Journalisten William Bayard Hale auf seiner Jacht "Hohenzollern" vor dem norwegischen Bergen scharf militant und antienglisch geäußert und dabei u.a. die englischen Politiker als Trottel bezeichnet und von der Perfidie Albions gesprochen. Zwar wurde das Interview nie gedruckt, weil das Auswärtige Amt, dem Hale den Text vorgelegt hatte, das Imprimatur verweigerte und keine der großen amerikanischen oder britischen Zeitungen (The Times, Morning Post, Daily Mail, New York Times) es wagte, den Text zu veröffentlichen; hierfür verantwortlich war auch gezielter Druck der Administrationen in Washington und London, die vom Inhalt des Interviews erfahren hatten - Hale selbst hatte den Originaltext dem US-Botschafter in Berlin gezeigt - und um Schadensbegrenzung bemüht waren. Doch entfaltete gerade das unveröffentlichte Interview eine gefährliche Wirkung, weil es das Ansehen Wilhelms II. bei der englischen Führung und im Ausland insgesamt beschädigte: Der Kaiser war durch seine leichtfertigen Äußerungen gegenüber Hale diskreditiert, man glaubte ihm nicht mehr, und dieses Misstrauen übertrug sich, da Wilhelm als maßgeblicher Faktor der außenpolitischen Willensbildung Berlins eingeschätzt wurde, auf die Beurteilung der Reichsregierung bzw. des gesamten Reichs - mit verheerenden Folgen für dessen außenpolitische Glaubwürdigkeit. Dieser Umstand erklärt auch die ausnahmslos negative Reaktion der britischen Presse und der Regierung in London auf die vordergründig englandfreundlichen Passagen des Daily-Telegraph-Interviews.
Bülow waren diese Zusammenhänge allerdings nicht klar, weil sowohl der Kaiser als auch das Auswärtige Amt ihm gegenüber die Bedeutung des Hale-Interviews herunterspielten, als dessen Existenz in der deutschen Presse bekannt wurde. Befremdlich war hierbei die Tatsache, dass Bülow, obgleich er vom deutschen Botschafter in London und von König Gustav V. von Schweden auf die Brisanz des Hale-Interviews hingewiesen wurde, sich entschloss, der Sache nicht weiter nachzugehen: zwei deutliche Indizien für die schwache Stellung des Kanzlers, welche einmal mehr ein bezeichnendes Licht auf den bereits von der älteren Forschung kritisierten Regierungsstil des Wilhelminischen Systems wirft.
Im Ergebnis erkennt Winzen in den in- und ausländischen Reaktionen auf die beiden Kaiserinterviews "Kristallisationskerne für die Katastrophe von 1914 und den Umsturz von 1918" (91): In Deutschland das aus der "Inkompetenz, Ineffizienz und Orientierungslosigkeit der damaligen Führung" (10) resultierende Verblassen der monarchischen Idee und die aus dem Unbehagen über die "Einkreisung" erwachsene Bereitschaft in allen Gesellschaftsschichten, in einer militärischen Lösung den Befreiungsschlag zu suchen, im Ausland die Furcht vor dem unberechenbaren deutschen Nachbarn, welcher sich damals "endgültig als verlässlicher und vertrauenswürdiger Partner aus dem Kreis der Mächte" verabschiedet habe (90). Das sind starker Worte, die, ähnlich wie der Buchtitel selbst, in ihrer polemischen Zuspitzung problematisch vereinfachend, ein geradezu unabwendbares Zulaufen der deutschen Außenpolitik auf den Kriegseintritt 1914 suggerieren. Überhaupt bedient sich Winzen vielfach einer unnötig scharfen, geradezu verbal diskreditierenden Wortwahl, wenn er etwa vom "Hohenzollernregime" (10) spricht, eine Begrifflichkeit, die weder dem Buchstaben der Verfassung des Kaiserreichs noch dessen politischer Wirklichkeit gerecht wird.
Doch sollen diese kritischen Anmerkungen den großen Wert des vorliegenden Bandes nicht mindern. Peter Winzen hat eine überaus wichtige und verdienstvolle Quellenedition vorgelegt, die zweifellos sowohl für die diplomatiegeschichtliche Forschung als auch für die Analyse der Innenpolitik des Wilhelminischen Kaiserreichs bleibenden Wert behalten wird.
Matthias Stickler