Frank Zadach-Buchmeier: Integrieren und Ausschließen. Prozesse gesellschaftlicher Disziplinierung: Die Arbeits- und Besserungsanstalt Bevern im Herzogtum Braunschweig auf dem Weg zur Fürsorgeerziehungsanstalt (1834 bis 1870) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Bd. 212), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2003, 544 S., EUR 48,00
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Mit seiner im Mai 2001 an der Universität Hannover angenommenen, für den Druck leicht gekürzten Dissertation greift Frank Zadach-Buchmeier ein bisher vernachlässigtes Thema an der Schnittstelle von Armuts- und Kriminalitätsgeschichte auf. Während ihre frühneuzeitlichen Vorläuferinstitutionen als vergleichsweise gut untersucht gelten können, liegen zu den Arbeitshäusern des 19. Jahrhunderts nur ganz vereinzelte Fallstudien vor. Auch die Historiografie zur Jugendfürsorge hat die Arbeitshäuser, von denen viele zugleich als Erziehungsanstalten für delinquente Kinder fungierten, nur selten beachtet. Zadach-Buchmeier stößt somit in eine echte Forschungslücke.
Ausgehend von dem seitens der Forschung zur frühneuzeitlichen Armenfürsorge breit diskutierten Konzept der Sozialdisziplinierung und vor allem von Michel Foucaults Überlegungen zu Disziplinarinstitutionen will Zadach-Buchmeier exemplarisch die auf der Mikroebene einer geschlossenen Institution konkret erprobten Disziplinartechniken herausarbeiten. Dabei betont er einleitend, dass Disziplinierungsprozesse nicht nur als repressiv zu verstehen seien, sondern auch produktiv bei der Verarbeitung von gesellschaftlichem Wandel wirken könnten, sofern sie denn effektiv verliefen. Seine zentrale Frage lautet, ob die von der Arbeitsanstalt angestrebte 'Besserung' der Eingewiesenen erfolgreich war und zu ihrer Integration in die Gesellschaft führte oder ob sie scheiterte, aufgegeben wurde und in die Ausschließung der 'Unverbesserlichen' mündete.
Die Studie ist folglich auf die innere Funktionsweise der Arbeits- und Besserungsanstalt Bevern fokussiert. Der erste Hauptteil wendet sich jedoch zunächst den "Kontexten" zu, wobei das Schwergewicht auf den Gründungsjahren liegt: Zadach-Buchmeier zeichnet die politischen und sozioökonomischen Entwicklungen sowie die Entscheidungsprozesse nach, die 1834 zur Einrichtung der Anstalt in dem ehemaligen Schloss Bevern führten. Die revolutionären Unruhen von 1830, welche Ängste vor dem 'Pöbel', aber auch eine verstärkte Sensibilität für die Armutsproblematik geweckt hatten, bildeten den entscheidenden Hintergrund. Bevern war ein Reformprojekt der neuen Regierung des Herzogtums Braunschweig, das sich explizit an der Gefängnisreformliteratur orientierte und anfänglich von dem optimistischen Glauben an die Erziehbarkeit der Armen getragen wurde.
Der zweite, mit "Insassen" überschriebene Hauptteil wertet die Anstaltspopulation nach Kriterien wie lokaler Herkunft, Haftdauer, Geschlecht, Alter, Familienstand und Beruf aus. Während im ersten Teil der rechtliche Kontext etwas nebulös bleibt, wird hier nun auch deutlich, welche Arten von Fehlverhalten überhaupt zur Zwangseinweisung in die Anstalt führten, wobei Bettel und Vagabondage überraschenderweise nicht an erster Stelle standen. Zadach-Buchmeier verarbeitet teils zeitgenössische Statistiken, teils auch die recht gut überlieferten Insassenregister und Einzelfallakten, bleibt jedoch unter Verweis auf den beschränkten Gehalt dieser Quellen weitgehend bei quantifizierenden und allgemeinen Aussagen, die er nur punktuell mit Ausschnitten aus individuellen Lebensgeschichten illustriert. Die wichtigsten Veränderungen der Belegungsstruktur im Untersuchungszeitraum waren einerseits die schon früh rückläufige Gesamtzahl der Insassen, andererseits die Verschiebung von den Erwachsenen hin zu den Kindern. Der Autor macht plausibel, dass die schrumpfende Gruppe der Erwachsenen fast nur noch aus extrem randständigen Menschen bestand, welche die Anstaltsleitung mehrheitlich als hoffnungslose Fälle einstufte, während sie ihre Besserungsbemühungen zunehmend auf die Kinder konzentrierte. Faktisch habe sich Bevern somit schon um die Jahrhundertmitte zur Jugenderziehungsanstalt gewandelt.
Der dritte, mit "Vollzug" betitelte Teil analysiert die räumliche Organisation der Anstalt, die Hierarchie und Kompetenzen des Personals, das Aufnahmeprozedere, die Regulierung des Tagesablaufs, Arbeits-, Lehr- und Schulbetrieb sowie das Sanktionssystem. Zadach-Buchmeier differenziert wiederum zwischen dem restriktiven, das ursprüngliche Besserungsziel zurückstellenden Regime für die Erwachsenen und einer zuwendungsorientierten, schon sozialpädagogische Züge zeigenden Betreuung der Kinder. Ein Kapitel zur Entlassenenfürsorge, das zumindest ansatzweise das weitere Schicksal der Insassen jenseits des Anstaltsaufenthalts greifbar werden lässt, unterstreicht diese Differenzierung: Während die soziale Integration der entlassenen Jugendlichen mit viel Engagement betrieben wurde und nach Einschätzung des Autors auch ziemlich erfolgreich verlief, verlagerten sich die Anstrengungen hinsichtlich der Erwachsenen bald auf die Förderung ihrer Auswanderung nach Übersee, also auf ihre definitive Entfernung aus dem Herzogtum.
Zadach-Buchmeier stützt sich überwiegend auf Dokumente aus der Feder der Anstaltsleitung und rekonstruiert folglich primär deren Perspektive. Die Erfahrungen und Deutungen der Insassen bleiben mangels einschlägiger Quellen weitestgehend ausgeblendet. Nur ein Kapitel des dritten Teils versucht, die Blickrichtung umzukehren: Es analysiert Hintergründe und Verlauf einer Anstaltsrevolte im Jahr 1839 unter Rückgriff auf einen rechtfertigenden Bericht, den ihr Anstifter anschließend in der Untersuchungshaft verfasste. Eine "Gefangenenperspektive" (369) reflektiert dieses Dokument dennoch nur bedingt. Denn der Verfasser war zwar ein ehemaliger Korrigend; zum Zeitpunkt, als er die Revolte anzettelte, befand er sich aber freiwillig als Angestellter in der Anstalt. Obwohl Zadach-Buchmeiers Rückschlüsse von seiner Rechtfertigungsschrift auf die Haltungen und Motive der Beteiligten nicht in jeder Hinsicht überzeugen, bieten das Kapitel sowie der im Anhang vollständig wiedergegebene Quellentext doch lebendige Einblicke in das Anstaltsleben und somit eine willkommene Ergänzung zu der ansonsten etwas spröden Studie.
Abschließend unternimmt Zadach-Buchmeier einen knappen Ausblick auf die weitere Geschichte von Bevern nach der formellen Umwandlung in eine Jugenderziehungsanstalt Anfang der 1870er-Jahre. Er sieht diese Umwandlung nicht als Zäsur, sondern als Fortführung der schon in den 1840er-Jahren eingeleiteten Entwicklung und plädiert denn auch dafür, die Grundlegung der modernen Fürsorgeerziehung nicht erst auf das Kaiserreich zu datieren. Nachdem der Autor über weite Strecken die positiven Leistungen der Anstalt zu Gunsten der ihr überwiesenen Kinder betont hat, kommt er nun, an die neuere Historiografie zur Jugendfürsorge anknüpfend, doch zu einem eher negativen Fazit: In der Epoche des Pauperismus verwurzelt, sei sie längerfristig den Problemen der entwickelten Industriegesellschaft nicht gewachsen gewesen, und das Ausschließen der als unverbesserlich qualifizierten Zöglinge sei letztlich die dem Besserungsprojekt von Anfang an immanente Konsequenz gewesen. Eine entsprechende perspektivische Einordnung hinsichtlich der Arbeitshausunterbringung von Erwachsenen, die nach 1870 von Bevern nach Wolfenbüttel verlagert wurde, versucht Zadach-Buchmeier nicht. Der für das Herzogtum Braunschweig suggerierte Bedeutungsverlust bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts sollte jedenfalls nicht als allgemeiner Trend missverstanden werden.
Bemängeln lassen sich an dem Buch einige Formalia. So fehlt ein Register, was zusammen mit der nicht durchweg stringenten Gliederung das gezielte Auffinden von Informationen erschwert. Irritierend wirken die vielen Einrückungen von Absätzen, die sich keineswegs auf Quellenzitate beschränken. Während das Buch ansonsten optisch ansprechend gestaltet ist, durch sorgfältig erarbeitete Tabellen und gut reproduzierte Pläne ergänzt wird, weist der Text etliche Tipp- und Kommafehler, auch einige Verwechslungen von Namen und Daten auf, die sich leicht hätten ausräumen lassen. Doch das sind Details. Insgesamt handelt es sich um eine lesenswerte, detaillierte Quellenarbeit mit theoretischer Fundierung verbindende Studie, die unsere noch viel zu geringen Kenntnisse über die Arbeitsanstalten des 19. Jahrhunderts wesentlich erweitert.
Beate Althammer