Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart (= Beck'sche Reihe; 1543), München: C.H.Beck 2003, 293 S., ISBN 978-3-406-49472-7, EUR 14,90
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Es ist ein mutiges, ja in mancher Hinsicht kühnes Unterfangen, in einem knappen Taschenbuch die Tendenzen und Richtungen der Geschichtswissenschaft seit der Jahrhundertwende vorzustellen und außerdem die Entwicklung der Institutionen, der Karrierewege der Forscher und der Publikationsformen der Geschichtswissenschaft, also der materiellen Bedingungen historischer Forschung, in die Betrachtung einzubeziehen, und dies im Prinzip in der internationalen Dimension. Überdies wird auch die Rolle der neuen Medien, insbesondere des Films, im Prozess der Vermittlung unseres Wissens über vergangene Wirklichkeiten und die Konstituierung von Geschichtsbildern, behandelt, auch wenn dies in eher kursorischer Form geschieht. Ein erstes, vorläufiges Urteil kommt zu dem Ergebnis, dass dies des Guten etwas zu viel ist. Infolgedessen sind die Darlegungen häufig allzu pauschal ausgefallen. Die Darstellung liest sich daher streckenweise eher als ein trockenes Handbuch, das zahlreiche Sachverhalte kompetent beschreibt, dem aber Farbe und Anschaulichkeit abgehen; auch die eingestreuten Beispiele klassischer Geschichtswerke können dies nur in Grenzen kompensieren.
Zum Zweiten ist der Autor angesichts einer derart umfassenden Fragestellung der Gefahr nicht ganz entgangen, vornehmlich das zu berücksichtigen, was innerhalb seines eigenen "Sehepunktes" besondere Bedeutung besitzt, und demgemäß die Darstellung einseitig zu gewichten. Dies gilt natürlich auch für die der Darstellung zu Grunde gelegte Zäsur um 1900, die dazu führt, dass die klassischen Traditionen der Geschichtswissenschaft ungeachtet ihrer Wirkmächtigkeit weitgehend aus dem Wahrnehmungsfeld herausfallen. Der von Raphael zur Begründung vorgetragene Gesichtspunkt, dass die Geschichtswissenschaft seit 1900 einen bedeutenden Professionalisierungsschub erfahren hat, der auch inhaltlich zu tief greifenden Veränderungen geführt hat, dürfte, was die Geltung der jeweils herrschenden Geschichtsbilder angeht, wohl kaum in dem Maße ins Gewicht fallen, wie Raphael dies anzunehmen geneigt ist. Die Professionalisierung brachte nicht notwendigerweise eine Stärkung des historischen Bewusstseins der modernen Gesellschaften mit sich; im Gegenteil, die Verlagerung der Pflege des Geschichtsbewusstseins beziehungsweise des historischen Wissens in die Verantwortung einer besonderen Berufsgruppe, mit anderen Worten dessen arbeitsteilige Partialisierung begünstigte in der Gesamtgesellschaft eher die Ausbildung eines ahistorischen Bewusstseins.
Raphaels Darstellung will mehr sein als nur eine handliche Übersichtsdarstellung. Sie stellt eine Herausforderung an die herkömmliche Geschichtswissenschaft dar und möchte den Ergebnissen der jüngeren Entwicklungen der Geschichtswissenschaft gleichsam ein definitives Gütesiegel verleihen. Sein Interesse gilt vornehmlich dem Thema der Revision traditioneller Geschichtsbilder und, damit in Verbindung, den emanzipatorischen Strömungen in der neueren Historiografie. Antiquarische Geschichtsschreibung ist nicht seine Sache, und indoktrinierende Geschichtsschreibung, die ihren Lesern bestimmte ideologische Grundmuster zu vermitteln sucht, schon gar nicht. Aber ganz entgeht er der Gefahr, der Geschichtswissenschaft bestimmte politische oder ideologische Vorgaben verordnen zu wollen, denn doch nicht, zumal das Objektivitätspostulat der "älteren" historischen Forschung etwas kavaliersmäßig leichthin als ideologisch motiviert beiseite geschoben wird.
Raphael ist es darum zu tun, das Untersuchungsfeld über die Historiografie der westlichen Gesellschaften hinaus auszuweiten und auch die Geschichtsschreibung beziehungsweise die Geschichtsbilder der nichteuropäischen Gesellschaften in seine Darstellung einzubeziehen. Ganz kann es freilich nicht gelingen, die bislang dominanten eurozentrischen beziehungsweise westlich inspirierten Interpretationen der jüngeren neueren Geschichte zu überwinden, einfach deshalb, weil das professionelle Gefälle zwischen der westlichen Geschichtsschreibung und jener der nicht-westlichen Welt vielfach immer noch sehr hoch ist. Raphaels diesbezügliche Bemühungen sind in hohem Maße zu begrüßen, zumal die Schwierigkeiten, vor die er sich in dieser Hinsicht gestellt sah, groß sind; denn vorläufig gibt es namentlich im deutschsprachigen Raum nur wenige befriedigende Untersuchungen über die Entwicklung des geschichtlichen Denkens in den Ländern der so genannten "Dritten Welt", insbesondere im arabischen Raum; was greifbar ist, hat Raphael getreulich zusammengetragen.
Raphael wendet sich mit besonderer Verve gegen das, was er als den "Pakt zwischen Staat, Nation und Geschichtswissenschaft" bezeichnet, der bereits im 19. Jahrhundert geschlossen worden sei. Er führt die Präponderanz nationalstaatlich orientierter Geschichtsschreibung, deren Überwindung erforderlich sei, unter anderem darauf zurück, dass die "meisten europäischen Historikerfelder" eng mit der Tradition der jeweiligen offiziellen Staatshistoriografie verknüpft gewesen seien. Einheitsstiftende Großerzählungen über kollektive Akteure wie Völker und Nationen sowie nationale "Meistererzählungen", die zumeist "schlicht das Ergebnis politisch-administrativen Zwangs" gewesen seien (was übrigens schwerlich zutrifft), sind das hauptsächliche Ziel seiner Kritik, und die "Zerstörung von [nationalen] Geschichtsmythen" betrachtet er als eines der wichtigsten Arbeitsgebiete der internationalen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Eine genauere Analyse der Entstehung von Nation und Nationalbewusstsein, die heute gemeinhin als artifizielle Konstrukte von Intellektuelleneliten angesehen werden, würde allerdings zeigen, dass es mit dem behaupteten engen Zusammenhang von Staat und nationaler Geschichtsschreibung nicht eben weit her ist; im früheren 19. Jahrhundert lief die Konstruktion von nationalen Geschichtsbildern der Gründung der Nationalstaaten voraus, und auch späterhin war nationale Geschichtsschreibung und Staatsloyalität nicht so stark miteinander verklammert, wie Raphael dem Leser suggeriert. Davon abgesehen ist die Tendenz zur Schaffung von Geschichtsbildern, welche die kollektive Identität von sozialen Großgruppen begründen beziehungsweise begründen sollen, auch in unserer Gegenwart ungebrochen, gleichviel ob diese mit der Bezeichnung "national" etikettiert wird oder nicht. Wie Raphael bei der Analyse der Entwicklung der Geschichtsschreibung in zahlreichen Ländern der nichtwestlichen Welt selbst feststellen muss, kommt es auch dort in vielfältigen Formen zur Ausbildung von "nationalen Geschichtskulturen", die auf die Schaffung von politischer Integration sozialer Großgruppen abzielen.
Raphaels Geheimrezept gegen das Übergewicht staatszentrierter Geschichtsschreibung ist die Sozialgeschichte und genereller die neue Kulturgeschichtsschreibung seit der Jahrhundertwende, die in Frankreich von der Revue de synthèse historique, in den USA von Charles Beard und in Deutschland von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Werner Sombart und Max Weber einerseits, Karl Lamprecht andererseits repräsentiert wird und dann späterhin vor allem durch die Schule der Annales in Frankreich großen Einfluss gewonnen hat, in der Entgegensetzung zu und der Herausforderung an die insbesondere in Frankreich dominante traditionalistische, politische Geschichtsschreibung.
Über die reiche Literatur zur Geschichte des Ersten Weltkrieges und die grundlegenden Veränderungen der hier angewandten Methoden und präferierten Themen erfahren wir hingegen nichts. Über die Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit vermag Raphael ebenfalls nichts Gutes zu vermelden; diese habe sich überwiegend mit der Aufarbeitung der durch den Ersten Weltkrieg ungemein verschärften Mächtegegensätze beschäftigt. Weder Otto Hintze, dessen systematische Analysen der Verfassungsordnungen bahnbrechend gewesen sind, noch Friedrich Meinecke, der mit seinem Werk über "Die Probleme der Staatsräson" einen neuen Weg suchte, der über traditionelle machtpolitische Perspektiven hinausführen sollte, werden einer Erwähnung für würdig erachtet. Franz Schnabels europäisch und föderalistisch orientierte Bemühungen um eine Neubewertung der deutschen Nationalgeschichte geraten ganz außer Sicht, und der breite Strom der Bismarckforschung ebenfalls. Die Diversität der Tendenzen der politischen Geschichtsschreibung jener Jahre, in der kleindeutsch-preußische, großdeutsche und demokratische Richtungen miteinander stritten, wird nicht gewürdigt; dieses weite Feld von keineswegs nur traditionalistischen Deutungen der deutschen und europäischen Geschichte wird durch die Bezugnahme auf die seinerzeitige Polemik von Eckart Kehr gewiss nicht zureichend charakterisiert. Dafür wird vergleichsweise breit über die "Volksgeschichte" referiert, die mittels der Kreierung der Theorie eines deutschen "Volksbodens" in scharfer Entgegensetzung zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen der deutschen Hegemonie in Ostmitteleuropa eine neue Legitimierung zu verschaffen suchte. Ihre methodologische Neuerung wird über Gebühr herausgestellt, obwohl ihre Ausstrahlung auf die historische Disziplin als Ganzes nicht sonderlich hoch war. Die Nationalsozialisten beziehungsweise die italienischen Faschisten bedurften solcher historiografischer Rechtfertigungsstrategien für ihre Gewaltpolitik überhaupt nicht. Die wohl wichtigste Neuerung der Zwischenkriegszeit, nämlich die Entwicklung der mittelalterlichen Landesgeschichte, wird hingegen überhaupt nicht in den Blick genommen, es sei denn, dass die problematische Verbuchung Otto Brunners als eines Repräsentanten der "Volksgeschichte" dafür gelten soll.
Die Partialität des von Raphael gezeichneten Bildes der Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit findet eine Fortsetzung darin, dass in der Folge vier Varianten des geschichtswissenschaftlichen Denkens detailliert vorgestellt werden, die Schule der Annales, die verschiedenen Varianten einer marxistischen Geschichtswissenschaft, die neueren Tendenzen auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen sowie die Mentalitätsgeschichte und ihrer Derivate, die einer neuen Kulturgeschichte die Wege gebahnt haben. Sehr kenntnisreich wird insbesondere der Neuansatz der französischen Annales vorgestellt. Raphael weist allerdings darauf hin, dass sich der Charakter der Annales im Verlauf der Zeit so stark verändert habe, dass von einer einheitlichen Schule nicht ohne weiteres gesprochen werden könne. Die Signalwirkung von Epoche machenden Werken wie jenen von Fernand Braudel, der nicht die zumeist repetitiven Ereignisse der "histoire des événements", sondern die Tiefenstrukturen des historischen Prozesses zur Darstellung bringen wollte, und dies an Gegenstandsbereichen von universalhistorischem Zuschnitt, war und ist auch heute noch groß. Aber die französische Variante einer politikfernen Geschichte sozialer Strukturen und Mentalitäten hat außerhalb Frankreichs dann doch nicht universale Anerkennung, geschweige denn unmittelbare Nachfolge gefunden.
Die Überzeugungskraft der verschiedenen Varianten marxistischer Geschichtsschreibung war von vornherein belastet durch deren Verschränkung mit den jeweils herrschenden politischen Tendenzen in der marxistisch-lenistischen Staatenwelt und den beständig wechselnden politischen Verhältnissen; deshalb ist von ihren positiven Leistungen nur relativ wenig geblieben. Es ist übrigens zweifelhaft, ob man die bedeutenden Historiker des linken Lagers im Westen, namentlich Eric Hobsbawm, Charles Rudé und E. P. Thompson, unterschiedslos als marxistische Historiker bezeichnen sollte; sie betrieben eigentlich eine ganz andere Art von Historiografie, nämlich die Geschichte von marginalisierten Gruppen der Gesellschaft, wie beispielsweise der Sozialrebellen des frühen 19. Jahrhunderts oder des Emanzipationsprozesses der industriellen Arbeiterschaft aus der Perspektive von unten. Dabei ging es ihnen vor allem um die Begründung beziehungsweise Stärkung eines eigenständigen politischen Bewusstseins als Bedingung der Möglichkeit der Emanzipation der Arbeiterschaft und ihrer Verbündeten in den anderen Klassen, insbesondere der Intellektuellen, innerhalb der bestehenden Sozialordnung, nicht um deren Veränderung auf revolutionärem Wege.
Besonders schwer tut sich Raphael mit der Behandlung der Geschichte der internationalen Beziehungen, der er ohnehin eine Neigung zu einem positivistisch verkürzten Objektivitätsdenken unterstellt. Mit einigem Recht verweist er darauf, dass die Historiografie der internationalen Beziehungen schon im 19. Jahrhundert eine Tendenz zu einer Präferenz nationalstaatlicher Sichtweisen an den Tag gelegt habe, welche erst in jüngster Zeit durch die Rückkehr zu internationalen Perspektiven überwunden worden sei. Dem wird man allerdings entgegenhalten müssen, dass die Debatte über diese Gegenstandsbereiche, namentlich die Verursachung von Kriegen, speziell des Ersten Weltkriegs, immer schon auf internationalem Felde geführt worden ist, mit Ausnahme der Zeit des Nationalsozialismus. Weshalb Raphael in diesem Zusammenhang die Edition der deutschen Akten zur Auswärtigen Politik nach dem Ersten Weltkrieg pauschal als tendenziös abwertet, ist unerfindlich; tatsächlich repräsentierte diese ungeachtet relativ starker Beschränkungen der Arbeit der Editoren einen bedeutsamen Fortschritt in der Objektivierung der strittigen Probleme.
Unter der Rubrik der "Internationalen Beziehungen" wird ein wenig überraschend dann auch die "Internationale Geschichte" verhandelt, die der Sache nach etwas weit Umfassenderes meint, nämlich das Verhältnis der westlichen Gesellschaften zur außereuropäischen Welt. Dieses wird unter dem Stichwort des Imperialismus beziehungsweise der Dekolonisation angesprochen. Diese namentlich in der deutschsprachigen Welt bislang stark vernachlässigte Dimension historischer Forschung, welche nicht nur die politischen und wirtschaftlichen, sondern auch die kulturellen Beziehungen der westlichen Gesellschaften zur so genannten "Dritten Welt" umfasst, wird auch hier ein wenig stiefmütterlich behandelt. Die herkömmliche, überaus reiche Historiografie der "Landnahme" der westlichen Mächte in der kolonialen Welt beziehungsweise des Aufbaus von Kolonialreichen und Imperien ist inzwischen durch die universelle Aufnahme auch der peripheren Perspektive, welche die Interessen und das Handeln der indigenen Gesellschaften in den Blick nimmt, grundlegend verändert worden. Die älteren, teilweise marxistisch beeinflussten Deutungen der Träger des Imperialismus in den Metropolen ebenso wie in den indigenen Gesellschaften haben weit differenzierteren Deutungen Platz gemacht, welche für die Entstehung der Geschichtsdeutungen der nichtwestlichen Welt von einiger Bedeutung sind. John Gallagher und Ronald Robinson haben einem Skalenmodell, das sich von "paramountcy" über informelle bis zu formeller Kolonialherrschaft erstreckt, zur Durchsetzung verholfen, und damit sind die Konturen, die den Zustand des Kolonialismus von jenem der Dekolonisation trennen, wieder undeutlicher geworden. Wir können uns heute nicht mehr so sicher sein, in einer post-kolonialistischen Epoche zu leben.
Wenig befriedigend ist schließlich auch die Klassifizierung sehr unterschiedlicher historiografischer Tendenzen unter der Bezeichnung "Mentalitäten, Begriff und politische Sprachen". Die Bestrebungen der klassischen Ideengeschichte, die kultursoziologischen Bestrebungen der Durkheim-Schule sowie die Wissenssoziologie Karl Mannheims haben miteinander wenig gemein, und beide sind völlig unvereinbar mit spezifisch mentalitätsgeschichtlichen Ansätzen, wie sie sich in den 1950er- und 60er-Jahren herausbildeten, teilweise mit dem Ziel, kulturelle Massenphänomene zu untersuchen und die Ausbildung von kollektiven Weltbildern zu thematisieren. Die von Koselleck und neuerdings auch von Quentin A. Skinner betriebene Untersuchung der politischen Semantik der Führungseliten, namentlich in Situationen des politischen Umbruchs wie der Französischen Revolution, wird man eher als eine Variante einer historistischen Sozialgeschichte einstufen müssen, und nicht als eine besondere Spielart der Mentalitätengeschichte. Sie suchten einen Ausweg aus dem Dilemma des klassischen Historismus zu finden, der über die Beschreibung von immer währendem Wandel und demgemäß der beständigen Relativierung aller Ideale und Werte hinausführen soll.
Bei der Behandlung des, wie es heißt, "Aufstiegs der Sozialgeschichte" seit 1960 ist Raphael in seinem Element. Ihr wird lobend attestiert, dass sie mit den Traditionen der älteren, staatszentrierten Geschichtsschreibung gebrochen und der historischen Forschung mit Erfolg eine ganz neue Ebene erschlossen hat. Aber es erweist sich als schwierig, die Gemeinsamkeit dieser neuen Forschungsansätze präzis zu benennen, abgesehen davon, dass sie sich durchweg überwiegend der Untersuchung der Rolle der unteren Schichten der Gesellschaft zugewandt haben. Im Vordergrund steht das Bemühen um die Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien auf die historischen Tatbestände sowie der neueren quantitativen Forschungsmethoden, wie sie die Sozialwissenschaften vorgelegt haben. Jedoch haben sich die Sozialwissenschaften und insbesondere die Soziologie immer mehr von vergleichbaren Fragestellungen entfernt. Die anfängliche Euphorie hinsichtlich der Anwendbarkeit ökonometrischer Methoden wich bald einer gewissen Ernüchterung, und Gleiches galt auch für den Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Theorien. Die Sozialhistoriker gingen am Ende vielfach dazu über, anstelle von aus den Sozialwissenschaften entlehnten und als solcher gut beglaubigten Theorien eigene Ansätze "mittlerer Reichweise" zu entwickeln und damit den eigenen Anspruch einer streng sozialwissenschaftlichen Methode partiell zurückzunehmen. Dennoch war der Siegeszug der Sozialgeschichte, zumal in ihrer deutschen Variante als politische Sozialgeschichte in kritischer Absicht, zunächst ungebrochen. Sie konnte sich neben den verschiedenen Varianten der politischen Geschichtsschreibung behaupten und zeitweilig eine Hegemonialstellung begründen.
Raphael sieht freilich nicht, dass es vor allem die Überdehnung des Theorieanspruchs der Sozialgeschichte, unter gleichzeitiger Abwertung der unmittelbaren Anschauung, gewesen ist, welche den Anstoß zum Aufstieg der "neuen Kulturgeschichte" gegeben hat. Die These Raphaels, dass die Geschwindigkeit dieses Prozesses auf die unzulängliche institutionelle Absicherung der Sozialgeschichte zurückzuführen sei (182), ist nicht plausibel; vielmehr war es das Unbehagen mit der übermäßigen Betonung des Theorieanspruchs, welches bei den Sozialhistorikern zu Einbrüchen führte. Dazu trug auch der Umstand bei, dass die Modernisierungstheorie, welche das Rückgrat der These vom "deutschen Sonderweg" abgegeben hatte, ihrerseits an Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte; Blackbourn und Eley vermochten zu zeigen, dass das britische Entwicklungsmodell, das dieser These als Gegenmodell gedient hatte, sozialhistorisch unzutreffend und analytisch nicht tragfähig sei. Wichtiger waren tief liegende Veränderungen der historischen Paradigmata, insbesondere hinsichtlich des Zugriffs auf die historische Wirklichkeit. Alf Lüdtke und Hans Medick beriefen sich auf die neuere ethnografische Forschung, insbesondere auf Clifford Geertz' Formel der "immediate inspection", um einen neuen, nicht primär theorieorientierten Zugriff auf die historische Realität ins Spiel zu bringen, der eine unmittelbarere Form der Wirklichkeitserfahrung ermöglichte. Grundlegend aber wurde, dass sich im Zuge einer Veränderung der mentalen Einstellungen in den westlichen Gesellschaften zunehmend die Ansicht durchsetzte, dass spezifische Mentalitäten beziehungsweise kulturell geprägte Lebensformen und nicht ökonomische oder sozialökonomische Sachverhalte das Sozialverhalten der Individuen maßgeblich bestimmen; erstere aber erschließen sich vorzugsweise mit den lange verpönten Methoden des "Verstehens" beziehungsweise der "unmittelbaren Inspektion". Dazu passt, dass prominente Autoren der Sozialgeschichte ihrerseits die Wiedergeburt der Narration, die lange als überwundene Darstellungsform der Historiografie galt, verkündeten.
Diese Wendung, die sich seit geraumer Zeit vollzogen hat, zwang die Sozialhistoriker im engeren Sinne, ihre Methoden und ihre Ziele den neueren Verhältnissen anzupassen. Daneben entwickelte sich eine neue Form der Mentalitätengeschichte, welche in immer höherem Maße bestrebt ist, die Befindlichkeiten und Einstellungen der unmittelbar betroffenen Individuen und Gruppen mit den Mitteln begleitender Beobachtung oder einfühlenden Verstehens zu rekonstruieren. In diesen Kontext gehören denn auch die großen Pionierleistungen der Mikrohistoriografie, namentlich die Arbeiten von Natalie Davis oder die eindringlichen Studien Carlo Ginzburgs.
Raphael verbucht diese Entwicklungen unter dem Titel einer "neuen Kulturgeschichte". Offenbar ist es einstweilen nicht möglich, die Vielfalt der neueren Strömungen in der Geschichtswissenschaft, die sich mit dem Begriff der "Postmoderne" verbinden, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Raphael ist darin zuzustimmen, wenn er diese unter anderem auf eine "Radikalisierung der Fortschrittsskepsis" zurückführt (235). Mit dem Verlust des Vertrauens in den Sinn der Geschichte als eines universalen Prozesses wird zunehmend auch die Aussagekraft von historischen Theorien in Zweifel gezogen. An deren Stelle tritt die Beobachtung desaggregierter Gegenstandsbereiche, welche sich mithilfe der Einfühlung oder der "unmittelbaren Inspektion" erschließen, und ebenso die Erforschung von Formen symbolischer Repräsentation, beispielsweise von Sprachen, Ritualen oder Verhaltensmustern, und nicht zuletzt die steigende Bedeutung, die visuellen oder literarischen Ausdrucksformen zugestanden wird, welche personale Erfahrungen, mentale Dispositionen, Emotionen wie Trauer und Furcht zu artikulieren vermögen. Für das Bemühen, derartige Sachverhalte in übergreifende Zusammenhänge einzuordnen und zugleich die zu Grunde liegenden sozialen Komponenten zu berücksichtigen, ohne doch allgemeine Entwicklungsschemata in Anspruch zu nehmen, ist jüngsthin vielfach der auf Foucault zurückgehende Begriff des Diskurses aufgegriffen worden. Im Übrigen hat der "linguistic turn" die Geschichtswissenschaft nicht unberührt gelassen, obschon die radikale Gleichbehandlung von Quellen aller Art sowie von historischen Untersuchungen und Darstellungen, denen gleichermaßen nur der Status von Texten zugestanden wird, die ausschließlich subjektiver Interpretation zugänglich sind, nicht allgemein akzeptiert worden ist.
Im Übrigen wird von Raphael mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass diese grundlegenden Verschiebungen der Paradigmata historischer Forschung dazu beigetragen haben, die "Eigenzeitlichkeit fremder Kulturen und Zivilisationen" wieder neu zu entdecken, statt sie in umfassende teleologische Entwicklungsschemata einzuordnen. Obschon die "postmoderne Position eines radikalen Kulturrelativismus" nur von einer Minderheit der Historiker vertreten wird, hat das Modell der Modernisierung - als der im Westen lange allgemein anerkannten idealen Zielvorstellung gesellschaftlicher Entwicklungen -, wie Raphael mit Recht andeutet, heute viel von seiner Überzeugungskraft verloren. Am Ende entdeckt Raphael ungeachtet seiner Kritik an der "markanten Staatsfrömmigkeit und der apriorischen Parteinahme für die Figur des Nationalstaats" der traditionellen Historiografie dann doch die Vorzüge von fortschrittlich und emanzipatorisch ausgerichteten nationalgeschichtlichen Synthesen, für die die Namen von Hans-Ulrich Wehler, Thomas Nipperdey und Ruggiero Romano stehen. Gleichwohl beschwört er die Überschreitung des Nationalen und die Internationalisierung der Geschichtswissenschaft als entscheidende Perspektive der Zukunft.
Insgesamt handelt es sich um eine bemerkenswert umfassende Darstellung der neueren methodischen Ansätze der internationalen Geschichtswissenschaft. Allerdings werden sich viele Historiker, wie Raphael anfänglich selbst andeutet, darin nur mit Schwierigkeiten wieder finden. Der Hauptstrom der historischen Forschung, soweit dieser nicht mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel einhergegangen ist, ist ohnedies weitgehend ausgelassen. Namentlich die großen Leistungen auf dem Gebiet der politischen Geschichte, beispielsweise die Erforschung der großen ideologischen Systeme und der von ihnen herbeigeführten Katastrophen oder die zunehmend differenziertere Analyse der Kriege, die Analyse der unterschiedlichen Herrschaftssysteme in der Geschichte, die Beschreibung der sozialen Lage, insbesondere der Unterschichten und der verschiedenen sozialpolitischen Systeme, oder die heute bemerkenswert vorangeschrittene Analyse der Epochen der wirtschaftlichen Entwicklung, werden hier nicht oder allenfalls im Vorbeigehen angesprochen. Zugestandenermaßen wäre es zu viel verlangt, all dies im Rahmen einer knappen Darstellung wie der hier vorliegenden zu leisten. Als Präsentation der Methodendiskussionen der Geschichtswissenschaft ist die hier vorzustellende Untersuchung äußerst informativ und anregend, als Handbuch zur Einführung in ihre Themen und Gegenstandsbereiche lässt sie hingegen viel zu wünschen übrig.
Anmerkung der Redaktion:
Wolfgang J. Mommsen übermittelte diesen Beitrag unserem Journal kurze Zeit vor seinem Tod im Sommer 2004.
Wolfgang J. Mommsen (†)