Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 140 S., ISBN 978-3-525-30013-8, EUR 15,90
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Der schmale Band erfüllt mehrere Zwecke: Er ist eine - vorläufige - Zusammenschau der zu erheblicher Breite angewachsenen Einzelforschung zum säkularen Strukturwandel seit den 1970er Jahren. Er ist Ortsbestimmung und provisorische, aber bereits paradigmenbildende Synthese (zumindest für die Zeithistorikerzunft; aus Sicht der Sozialwissenschaften ist vieles bekannt, auch theoretisch verarbeitet). Er skizziert zudem - wenn auch reichlich erratisch-unsystematisch - die Grundzüge eines Forschungsprogramms.
Physiognomie und Profil: "Nach dem Boom" ist, erstens, eine "negative" Ortsbestimmung. Ich sehe dies nicht als Manko, sondern als kluge Selbstbescheidung: Wir stehen ja mitten in den Turbulenzen, sodass Begriffe und Theorie des gegenwärtigen Zeitalters naturgemäß noch zu wenig konturiert sind. Die Studie fokussiert, zweitens, auf die "langen Linien". Dieser synthetisierende Blick ist allemal der gängigen Portionierung der jüngsten Geschichte in Dekaden ("Sechziger", "Siebziger" usw.) vorzuziehen: Denn in diesem Buch werden die arithmetischen Konventionen des Dezimalsystems nicht mit historischen Zäsuren verwechselt. "Nach dem Boom" argumentiert, drittens, nicht monokausal, sondern will die Wechselwirkungen zwischen den Sphären Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur herausarbeiten; unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten sind in Rechnung gestellt. Aufs Ganze gesehen läuft es auf den Primat der politischen Ökonomie hinaus: It's the economy, stupid. Ich halte dies für eine sehr gute Heuristik, solange sie sich nicht dogmatisch verhärtet.
Der "Strukturbruch": Als Ursachen des Übergangs von den demokratisch-keynesianisch-konsensual-neokorporatistisch-nationalstaatlich-westernisierten trente glorieuses in Mittel- und Westeuropa zur Folgeepoche werden die Öl- und die Währungskrisen der 1970er Jahre, der Niedergang der "alten" Industrien, allgemeiner die Transformation der fordistischen Industrie- in die elektronische Dienstleistungsgesellschaft im Zeichen der dritten industriellen Revolution und vor dem Hintergrund der Globalisierung benannt. Zusammen mit den sozialkulturellen Folgewirkungen ist dies mehr als ausreichend Beweismaterial für eine Megazäsur. Allerdings finde ich die Determinanten nicht hinreichend sorgfältig sortiert, gewichtet und "verlinkt". Sind die Ölkrisen und das Ende von "Bretton Woods" zufällig zeitlich koinzident oder gibt es subkutane Zusammenhänge? Probat wäre es, die kurzfristig wirksamen Impulse des Wandels deutlicher von "technologischer Innovation" und "Globalisierung" als den entscheidenden Langfristdeterminanten abzuheben. Ist die elektronische Revolution Ursache, ist die "Entriegelung der Volkswirtschaften" Folge? Oder sind diese beiden Prozesse reziprok gekoppelt? Wie hängen die - kaum explizierte - güterwirtschaftliche Globalisierung und der - überhaupt nicht explizierte - "digitale Finanzmarkt-Kapitalismus" zusammen? Mein Zwischenfazit: Die politische Sozialökonomie des Strukturwandels ist noch zu wenig gründlich begrifflich und theoretisch durchgearbeitet, manches bleibt empirisch-faktografisch zu blass. Es wird beschrieben, aber nicht konsequent und energisch genug erklärt. Kaum Konturen haben die politischen Akteure ("Parteien und Regierungen"); eine eminent wichtige Größe bleibt weit im Hintergrund: Die transnationalen Unternehmen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die wirtschaftshistorische und wirtschaftswissenschaftliche Literatur nur in Ansätzen berücksichtigt wird.
Noch ein Wort zur Globalisierung: Natürlich wäre es unbillig, einer Untersuchung mit Fokus "Wandel in Westeuropa" ein weltumspannendes Bezugssystem abzuverlangen; eine Globalgeschichte der Globalisierung soll es ja nicht sein. Allerdings sind die Vorgänge in Europa ohne den Blick auf die weltwirtschaftlichen Kontexte nur unvollständig zu verstehen. Die Reorganisation der Lohnarbeit in den alten Industrieländern etwa hängt eng mit dem Strukturwandel der internationalen Arbeitsteilung unter dem Druck des globalen Standortwettbewerbs zusammen. Wohl blicken die Autoren aus ihrem westeuropäischen Zimmer nach draußen - aber sozusagen durch die Milchglasscheibe. Ein umgreifendes Koordinatensystem lässt sich in einem schmalen Essay natürlich nicht entfalten; es müsste aber wenigstens, mit schärferem Strich, skizziert werden.
"Nach dem Boom" ist eine Niedergangsgeschichte aus der Perspektive der europäischen Wohlstandszone; insofern ist der Essay übrigens auch ein aufschlussreiches Zeitdokument. Das entfesselte, weltweit agierende Kapital, das dem nationalen Sozialstaat seine Grenzen zeigt, macht dem Volksheim den Garaus: Diese Sicht ist keineswegs falsch, sie verkürzt aber doch komplexe und ambivalente Sachverhalte zu arg auf die gängigen globalisierungskritischen Topoi. Der Abbau grenzüberschreitender Kapitalkontrollen und die Schleifung der Barrieren im internationalen Handel produzieren in den alten Industrieländern nicht ausschließlich Verlierer. Die Gewinn-Verlust-Bilanzen sind unübersichtlich und komplex - eine intrikate Problematik, die differenziert nach Volkswirtschaften, Branchen und Arbeitsmarktsegmenten durchzukonjugieren wäre. Für meine Begriffe wird auch die europäische Integration zu voreilig als neo- und marktliberales Unternehmen abgebürstet. Und wieder gilt hier: Eine Studie im Reclamformat kann die nötigen Differenzierungen nicht ausarbeiten, sie müsste aber doch ihr Problembewusstsein deutlicher markieren.
Noch einmal nachdenken sollte man über die tragenden Begriffe "Strukturbruch" und "revolutionär". Die Wandelphänomene finde ich, aufs Ganze gesehen, in der Studie zu deutlich markiert, die Kontinuitäten zu schwach. Am ehesten greifbar ist der Umschwung noch in der Wirtschaftstheorie, wesentlich behutsamer verläuft er in der Wirtschaftspolitik. Sicherlich: Längerfristig und insgesamt hat es bedeutende Verschiebungen gegeben. Trotzdem kann man "den Keynesianismus" nicht so hart gegen "den Neoliberalismus" absetzen, das fordistische Produktionsregime und der "rheinische Kapitalismus" sind nicht obsolet. Und zur - auch von den Autoren zu Protokoll genommenen - ziemlich erstaunlichen Beharrungskraft des Wohlfahrtsstaats passt die Rede vom "Bruch" ohnehin nicht.
"Nach dem Boom" ist eine west- und mitteleuropäische Meistererzählung - sozusagen der Blick auf Europa von der merowingisch-karolingischen Warte aus. Man könnte auch sagen: Hier enden die Horizonte an der Zonengrenze. Der Osten Europas kommt nicht vor, der Zerfall des Ostblocks ist lediglich "Begleiterscheinung" des Übergangs. Nun waren die Industriegesellschaften des europäischen Westens und die im staatssozialistischen Ostmittel- und Osteuropa seit den frühen 1970er Jahren offensichtlich mit identischen Herausforderungen - Globalisierung und dritte industrielle Revolution - konfrontiert. Lediglich die Antworten waren, systembedingt, unterschiedlich. Weil im Staatssozialismus die Anpassung an den technologischen Wandel misslang und die Einpassung in die Weltwirtschaft "auf Augenhöhe mit dem Westen" verfehlt wurde, mündete der "östliche Pfad" in die Agonie, letztlich in den Bruch von 1989. "Der Westen" war kurz- und mittelfristig erfolgreicher. Ob dieser Erfolg von Dauer ist, wird sich zeigen; die kritischen Stimmen jedenfalls mehren sich. Wie dem auch sei, essenziell ist: Der Strukturwandel der europäischen Industriegesellschaften seit den 1970er Jahren war und ist ein säkularer und krisenhafter Wandel in West und Ost. Eine komplexe Analyse müsste dies in Rechnung stellen. Die Halbierung der Komplexität mag aus Gründen der Arbeitsökonomie durchgehen. Allerdings gibt man damit ein starkes Argument für die Epochenschwelle des späten 20. Jahrhunderts aus der Hand: Von welthistorischer Bedeutung ist diese auch und gerade aufgrund ihrer systemübergreifenden Relevanz.
Was bleibt zu tun? Man müsste die jüngste Zeitgeschichte in die längeren Linien einordnen: Etwa in den Bogen, der sich von der ersten zur zweiten Globalisierung spannt. Vermutlich werden in dieser längerfristigen Perspektive eher die trente glorieuses als eine - eben gloriose - Ausnahmeerscheinung figurieren. Angesichts der Offenheit der Epoche nach vorne bleiben solche Theorien des gegenwärtigen Zeitalters jedoch vorerst hochspekulativ.
Christoph Boyer