Cay-Rüdiger Prüll: Medizin am Toten oder am Lebenden? Pathologie in Berlin und London, 1900-1945 (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 5), Basel: Schwabe 2003, 563 S., ISBN 978-3-7965-1931-4, EUR 68,50
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Die beiden englischen Pathologen James Henry Dible und Thomas Benjamin Davie beschrieben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts "Pathologie" als "the grammar of medicine and surgery". Ihre deutschen Kollegen hätten dieser Definition wahrscheinlich zugestimmt. Trotz dieses Konsenses bei der Begriffsbestimmung entwickelte sich das Fach Pathologie in England anders als in Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt Cay-Rüdiger Prüll in seiner Freiburger Habilitationsschrift aus dem Jahre 1999, die er ergänzte und im Rahmen der "Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte" drucken ließ.
Prüll interessiert sich für Organisation, Fortschritt und Stellenwert der Pathologie besonders in Berlin und London. Anhand der beiden Hauptstädte sucht er nach den nationalen Unterschieden innerhalb der Disziplin. Dabei geht er von der Annahme aus, dass die Metropolen "zentraler Orientierungspunkt für die Fachentwicklung" (426) waren. Obwohl der Vergleich im Vordergrund seiner Arbeit steht, geht es Prüll letztlich um eine Geschichte des Faches Pathologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die Geschichte der modernen Pathologie begann in Berlin. Im Jahre 1865 richtete die Berliner Universität einen ordentlichen Lehrstuhl für Pathologie an der Charité ein und ließ ihn mit Rudolf Virchow besetzen. Rasch war das Fach an den Hochschulen etabliert. Die Pathologie erhielt zwischen 1849 und 1876 an allen deutschen Universitäten Lehrstühle und avancierte zu einer selbstständigen Disziplin innerhalb der Medizinischen Fakultät. Alle Prosekturen an den Krankenanstalten oder Pathologischen Abteilungen an den städtischen Krankenhäusern richteten die Berliner fortan auf das Pathologische Institut der Charité aus. Dieses Vorgehen zog zwei Folgen nach sich, die letztlich auch auf das Fach in Deutschland wirkten. Zum einen beherrschten Professoren die Pathologie. Die Organisation der Berliner Pathologie, so stellt Prüll fest, entsprach der preußischen Ordinarienuniversität. Zum anderen gab es neben diesem hierarchischen Zug noch eine zweite Besonderheit: "Es läßt sich an der Organisation des Charité-Institutes und der Prosekturen erkennen, daß die Berliner Pathologen ihr Selbstverständnis aus der Untersuchung und Forschung an der Leiche zogen, die in eigenen Institutionen vorgenommen wurden [...] Pathologie war für die Berliner Pathologen pathologische Anatomie" (156).
Dagegen verlief in London die Entwicklung dezentral. Die Strukturen des Faches waren nicht wie in Deutschland autokratisch, sondern offener. Der pathologische Unterricht fand in Krankenhäusern oder Medizinschulen statt. In London etablierte sich die Pathologie an Einrichtungen, an denen Kranke behandelt, zugleich aber auch Studenten unterrichtet wurden. Damit gewann die praktische Ausbildung der Mediziner stärkeres Gewicht als in Berlin. Die Londoner Pathologen untersuchten Patienten und weniger Leichen.
Gesundheitspolitische Voten gaben in England nicht Ordinarien ab, sondern Gremien und Ausschüsse an den Kliniken und Hospitälern. Entscheidungen fielen dadurch zwar langsamer, zeichneten sich - so Prüll - aber durch höhere Transparenz aus. Die Londoner Pathologen hielten Tuchfühlung mit den Kliniken und betrieben "Medizin am Lebenden", ihre Berliner Kollegen dagegen betrachteten die Krankheiten weniger praktisch als theoretisch. Sie zogen den Sektionssaal der Krankenstation vor und betrieben, zugespitzt formuliert, "Medizin am Toten".
Im 20. Jahrhundert erwies sich für die deutschen Mediziner das Erbe Virchows als Last. "Virchow war eine selbständige Krankenbehandlung unter Berücksichtigung der Zellularpathologie als Prinzip nicht gelungen" (428) bewertet Prüll das Wirken des Mediziners. Die Folge war, dass die englische Pathologie effektiver, zeitgemäßer und moderner wurde als die deutsche: "Die klinische Pathologie in London bündelte Laboratorium und klinischen Zugang in einem breit gefaßten Krankheitsbegriff" (443). Eine Entwicklung, so schließt Prüll, die heute noch dazu führe, dass "viele deutsche Medizinstudenten im 'praktischen Jahr' über den Kanal" (443) strebten, "da sie sich dort eine patientenorientierte Anleitung erhoffen" (443).
Prüll legt eine auf Quellen sowohl aus deutschen als auch aus englischen Archiven basierende, kenntnisreiche Geschichte der Pathologie vor. Das Buch enthält neben umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnissen ein Personen- und ein Sachregister. Es ist daher auch als Nachschlagewerk zu benutzen.
Bei der Lektüre wird deutlich, dass Medizin allgemein und deren Disziplinen im Besonderen von politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und letztlich historischen Gegebenheiten abhängen. Insofern ist die Geschichte sowohl Lehrmeisterin als auch Dienerin der Medizin.
Michael Maaser