Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart (= Beck'sche Reihe; 1543), München: C.H.Beck 2003, 293 S., ISBN 978-3-406-49472-7, EUR 14,90
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An einführender Literatur zu Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, an Überblicken über die historische Entwicklung des Faches mit seinen "Schulen" und Kontroversen herrscht derzeit kein Mangel. Fast alle einschlägigen Verlage haben dieses Segment in den letzten Jahren bedient. Muss man das neue Buch von Lutz Raphael auch noch besitzen oder gar gelesen haben?
Die Antwort ist ein uneingeschränktes Ja, denn die Darstellung des Trierer Historikers ragt heraus und ist auf ihre Weise einzigartig. Sie besticht durch die Klarheit der Sprache und der Problemerfassung ebenso wie durch die Souveränität, mit der ein ganzes Jahrhundert geschichtswissenschaftlicher Entwicklung nicht in nationalgeschichtlicher Beschränkung, sondern in globaler Perspektive durchdrungen wird. Das Konzept des Bandes geht auf eine Vorlesung zurück, und im ganz positiven Sinne prägt das seinen Duktus: Hier wird präzise erklärt, werden Grundlagen des Wissens geschaffen, wird exemplarisch verdeutlicht. Der "didaktische" Ansatz ist besonders in den "Zwei Beispielen" greifbar, mit denen die meisten Kapitel jeweils enden, einer Kurzvorstellung und kritischen Diskussion repräsentativer Werke bestimmter Forschungstraditionen, sei es der "Annales"-Schule, der Mentalitätsgeschichte oder der neuen "global history". Der Letzteren ist auch diese Historiografiegeschichte verpflichtet. Es ist schlichtweg beeindruckend, wie Raphael eben nicht einfach Frankreich nimmt, ein bisschen England, Deutschland und Amerika dazutut und das für die Weltgeschichte der Geschichtswissenschaft hält. Afrikanische und asiatische Entwicklungen sind konsequent mit dabei, ohne nur als angeklebte Marginalie zu fungieren.
So demonstriert Raphael zugleich im Vollzug seines eigenen Schreibens seine wichtigste These: Die Geschichtswissenschaft habe sich im 20. Jahrhundert zunächst in Abhängigkeit von der Nation entfaltet, in nationalen Räumen und Kommunikationsmustern ausgeprägt. Der National-(staats-)bezug der modernen Geschichtswissenschaft ist demnach kein Relikt des 19. Jahrhunderts, sondern erreichte in der professionalisierten Historie des 20. Jahrhunderts erst seinen Höhepunkt. Doch zugleich lässt sich das Fach zu keiner Zeit ohne seine internationalen Verflechtungen denken, und gegen Ende des letzten Jahrhunderts, so der zweite Teil der These, habe die Internationalisierung von Leitfragen, Methoden, von professionellen Referenzpunkten jeder Art die Oberhand über den alten nationalgeschichtlichen Rahmen gewonnen. Im Schlusskapitel bringt Raphael diese Einsicht in das schöne Bild einer ganz neuen historischen Handbibliothek internationaler Referenzwerke, über die das Fach inzwischen über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verfüge (269). Auch das reflektiert einen Gewinn dieses Buches: Die Geschichtswissenschaft ist in ihm nicht nur ein intellektuelles Phänomen, ein Pool verschiedener Theorien, Methodologien und Interpretationen, sondern wird als zunehmende institutionelle Verdichtung von zunehmend professionalisierter Kommunikation über Vergangenheit verstanden, einschließlich der organisatorischen Substrate wie Lehrstühle, Zeitschriften und Forschungsinstitute.
Ein bisschen optimistische "Fortschrittsgeschichte" ist also durchaus der Grundzug. Damit ist jedoch ganz dezidiert nicht der Fortschritt geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisweisen im Sinne der einstmals viel diskutierten "Paradigmata" gemeint. Es gibt nicht immer neue Sieger, die triumphierend die Schule der Vorgängergeneration zur Strecke bringen. Viel typischer sind verschiedene "Denkstile" mit ihren Aufbrüchen und Sackgassen, Überlagerungen und Verflechtungen; viel typischer ist die Pluralisierung eines Faches, das sich dennoch immer wieder durch eine bemerkenswerte Integrationskraft seiner zentralen Fragestellungen auszeichnet. Wenn es überhaupt ein Zentrum gibt, dann ist es für Lutz Raphael im 20. Jahrhundert die französische Geschichtsschreibung der "Annales", deren intimer Kenner und maßgeblicher Interpret er selber ist.
Dennoch: Auch ein hervorragendes Buch muss sich kritisieren lassen, und dieser konzise Überblick lädt in vielfacher Weise zur streitbaren Auseinandersetzung ein. Beginnen mag man, wie so häufig unter Historikern, mit der Frage nach der Periodisierung und Epochenbildung. Der von Hobsbawm entliehene Titel, das "Zeitalter der Extreme", wirkt eben doch ausgeliehen. Jedenfalls wird derjenige enttäuscht sein, der das Spannungsverhältnis von Demokratie und Diktatur, Prosperität und äußerster Not, individualisierter Freiheit und Vernichtungslager als Leitfaden der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert wieder finden will. Auch leuchtet die Konsequenz nicht ein, mit der Raphael das 19. Jahrhundert "abkoppelt", also die Jahrhundertwende zur entscheidenden Zäsur für seine eigene Fragestellung erklärt. In vielen Aspekten reicht die Professionalisierung des Faches - seiner Denkweisen, aber auch seiner Institutionen - ja doch einige Jahrzehnte weiter zurück.
Ein zentraler Einwand, weil er die Kernthese Raphaels betrifft, richtet sich gegen die teils freilich nur implizite Vorstellung von der Minderwertigkeit und prinzipiellen ideologischen Befangenheit einer Geschichtswissenschaft im Rahmen der "Nation". Dass auch eine von solch vermeintlicher Verblendung zu Internationalität befreite Historie nicht frei von Interessen, Machtstrukturen und Begrenzungen sein kann, gerät dabei allzu leicht in Vergessenheit. Auffällig ist, dass dem sonst so sorgfältig Vorzüge und Grenzen abwägenden Autor zu "seiner" Annales-Historiografie (Kap. VI) nicht ein einziger ernsthafter Kritikpunkt einfällt und ihm nicht zuletzt entgeht, dass trotz internationaler Rezeption die nationale Identitätsstiftung Frankreichs eine wesentliche Absicht, in jedem Fall aber eine nachhaltige Wirkung dieser Geschichtsschreibung war. Die Vorstellung, dass Staat, Nation und Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert einen "Pakt" geschlossen hätten (49), führt wie manch andere Formulierung auf das Glatteis einer Verschwörungstheorie, nach der die Historie in ein Komplott zur Befestigung des Nationalstaats und seiner herrschenden Eliten hineingezogen worden sei. Die "Affinität" (44) von Historikern zu den Interessen von Staat und Nation war doch häufig sehr ambivalent, und eine Affinität zu einem nationalgeschichtlichen Bezugsrahmen oder "master narrative" war noch lange nicht mit Affirmation identisch. Nur einmal, in der Kritik an der "Volksgeschichte", blitzt auf, dass der Nationsbegriff der Historiker auch etwas mit "politischem Vertragsgedanken" und "modernem Gesellschaftsbild" (85) zu tun hatte.
Damit hängt ein eigentümliches Bild zusammen, das Lutz Raphael von dem Verhältnis zwischen professionalisierter Fachwissenschaft einerseits, von sie umgebender Politik, Gesellschaft, Öffentlichkeit andererseits entwirft. Ihm zufolge gibt es eine "Autonomie" der Wissenschaft, welche durch politisches Engagement nur verunreinigt werden kann. Geschichtswissenschaft ist im 20. Jahrhundert "hochpolitisch" gewesen, weil und insofern diese Autonomie "durch politische Tagesinteressen von Machthabern" gefährdet worden sei, für die Historiker sich "anfällig" gezeigt hätten. Natürlich ist die professionelle Autonomie ein zentraler Gesichtspunkt, aber die Abschottung des Faches gegen Politik, auch gegen "Tagesinteressen", war schon immer eine Illusion. Oft genug sind die erstaunlich verächtlich so genannten "Machthaber" doch demokratische Politiker gewesen, die, um nur deutsche Beispiele zu nennen, einen Fritz Stern in das Plenum des Bundestags eingeladen oder mit der Fachwissenschaft um die öffentliche Repräsentation des Holocaust in Berlin gerungen haben. Für diese unabweisbar politischen Funktionen des Faches fehlt Raphael das Verständnis. Das zeigt sich auch an der einzigen wirklichen thematischen Leerstelle dieses sonst so gut durchdachten Buches: Ein Kapitel über die "public history" und ihre enorm gewachsene Bedeutung, über "Erinnerungsgeschichte" im Spannungsfeld von Fachwissenschaft und Öffentlichkeit fehlt. Und die Internationale Geschichte hat ja keinen Grund zu glauben, ausgerechnet sie sei vom "Zeitgeist", von politischen Strömungen, von politisch-kulturellen Moden unabhängig.
Das führt zu einem weiteren Punkt. Das Spannungsfeld der Internationalisierung im 20. Jahrhundert ist klar bezeichnet. Aber welche Rolle spielt die westliche Wissenschaftskultur in ihr jenseits der unbestreitbaren Kolonisierung nichteuropäischer Kulturtraditionen und Erinnerungsformen? Das ist nicht nur eine politische, sondern eine zentrale methodologische Frage, und um die Antwort drückt Raphael sich ein wenig herum. Einerseits hat der "Export westlicher Modelle des historischen Wissens" authochthone Wissensformen verdrängt, und deshalb bedarf es unter anderem der "Kolonialismuskritik" (22). Aber was wäre denn andererseits die Alternative, wenn etwa die islamische Tradition der Geschichtsschreibung keinen eigenen Ansatz zu einer "historisch-kritischen Methode", zu der ja auch die für den Westen typische, radikale Selbstrelativierung gehört, gefunden hat (28)? Auch die "subaltern studies" halten sich schließlich an die westliche Fußnotentechnologie, und das ist weit mehr als eine Äußerlichkeit.
Wir werden sehen, könnte man antworten, denn die Geschichte, die Raphael schreibt, ist noch nicht zu Ende. Seine Darstellung läuft nicht auf irgendeinen Schlusspunkt oder dramatischen Wendepunkt zu, sondern auf jene spannende Offenheit, teils auch Diffusität, welche die Geschichtswissenschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnet. Ohne die scharfsichtige Zwischenbilanz von Lutz Raphael kann man diese Situation und ihre Ursprünge viel schwerer verstehen.
Paul Nolte