Matthias Hardt / Christian Lübke / Dittmar Schorkowitz (eds.): Inventing the Pasts in North Central Europe. The National Perception of Early Medieval History and Archaeology (= Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel; Bd. 9), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, 345 S., 55 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-50538-0, EUR 56,50
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Dittmar Schorkowitz: Staat und Nationalitäten in Rußland. Der Integrationsprozeß der Burjaten und Kalmücken, 1822-1925, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001
Stephan Krause / Christian Lübke / Dirk Suckow (Hgg.): Der Osten ist eine Kugel. Fußball in Kultur und Geschichte des östlichen Europa, Göttingen: Die Werkstatt 2018
Matthias Hardt: Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend, Berlin: Akademie Verlag 2004
Der vorliegende Band geht zurück auf eine Tagung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) Leipzig im November 2000. Die vom dortigen Arbeitsgebiet Germania Slavica ausgerichtete Konferenz hatte zum Ziel, zwei "revisionsbedürftige" (7) Felder der Forschung zu erhellen: zum einen die historische Erkundung des Ostseeraumes in seinen Entwicklungen und Strukturen, mit Betonung der Gesamtheit des Raumes und in Abgrenzung zu bislang häufig national beschränkter Wissenschaft. Zum anderen sollte der Blick auf die nationalen Historiografien und ihre Vorstellungen von der Entstehung frühmittelalterlicher Gesellschaften und "ihres postulierten Wir-Gefühls, ihrer für quasi frühnational gehaltenen Ethnizität" (7) gelenkt werden.
Der Band ist in vier Sektionen unterteilt, die sich mit "Archaeology and ethnicity", "Symbols of ethnicity and their perception", "Images of the others" sowie "National perceptions of history in the 20th century" beschäftigen. Unter den Autoren überwiegen die Archäologen, was bei einem Schwerpunkt auf dem Frühen Mittelalter nicht überrascht, zumal die Möglichkeiten ethnischer Interpretation archäologischer Kulturen nach wie vor umstritten sind. [1] Gerade der erste Teil spiegelt diesen Diskurs wider - und zeigt die Probleme hervorragend auf: Einerseits wird die ethnische Deutung als solche von Sebastian Brather kritisiert und der Standpunkt vertreten, die Archäologie solle sich für andere Fragestellungen - etwa wirtschafts-, sozial- oder kulturgeschichtliche - freimachen. Andererseits sieht Przemysław Urbańczyk die Beschäftigung mit ethnischen Fragen in der Archäologie als absolut notwendig an, da sonst der Anschluss an die allgemeine anthropologische Forschung in Gefahr sei. Jerzy Gąssowski zeigt (mutmaßlich unfreiwillig) das große Dilemma der Problematik ethnischer Deutung in der Archäologie besonders deutlich. Trotz seiner klaren Statuierung: "Searching for ethnicity in prehistory thus leads to a general failure" (9), vermischt er sämtliche Aspekte ethnischer Identität in archäologischem Zusammenhang, wie sie Brather in seinem Beitrag herausgearbeitet hat. Dadurch ist kaum mehr nachvollziehbar, ob Gąssowski die materielle archäologische Kultur, das sprachliche Konstrukt oder eine "ethnisch", das heißt verwandtschaftlich-rassisch definierte Gruppe meint, wenn er von "Hunnen", "Slawen" oder "Germanen" schreibt. Einig sind sich die Autoren immerhin in ihrer Warnung vor der Übertragung heutiger Verhältnisse und Nationsvorstellungen auf das Frühmittelalter beziehungsweise die Ur- und Frühgeschichte insgesamt.
In der zweiten Sektion der Publikation steht die Wahrnehmung von ethnischer Zugehörigkeit im Zentrum, allerdings sind die Beiträge verschiedenen Zeiten gewidmet. So konzentriert sich Klavs Randsborg darauf, Geschichtsbewusstsein (das wiederum ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl schafft) aus archäologischen Quellen vom Mesolithikum bis zum Frühmittelalter zu rekonstruieren. Arne Schmid-Hecklau referiert über die gegenseitige Wahrnehmung und das Verhältnis ethnischer Gruppen im Meißener Raum im Frühmittelalter sowie über die betreffende Historiografie bis in die 1990er-Jahre. Eine weitere mögliche Sichtweise bietet George Indruszewski, der ausgehend von einem Beispiel der materiellen Kultur, namentlich Schiffsbau und Schifffahrt, die Geschichte ethnischer Interpretation darlegt. Ein praktisches Beispiel für die "Erfindung von Vergangenheiten" wählt Volker Schmidt für seinen Beitrag, indem er die Forschungsgeschichte der so genannten Prillwitzer Idole darlegt, bei denen es sich um höchstwahrscheinlich im 18. Jahrhundert gefälschte "slawische" Götterdarstellungen handelt. Babette Ludowici stellt ihre Neuinterpretation der Grabungsergebnisse auf dem Magdeburger Domplatz vor und kann deutlich aufzeigen, wie der Nationalismus des 19. Jahrhunderts und die deutsche Ostforschung noch auf die jüngere Interpretation archäologischer Befunde einwirken.
Das "Image" im Thema der dritten Sektion bezieht sich in Stine Wiells Beitrag wörtlich auf Bildquellen von 1850 bis 1998, anhand deren sie den Bezug teils zur momentanen politisch-gesellschaftlichen Situation, teils zu aktuellen archäologischen Interpretationen herstellt. Auch Christian Lübke nimmt die "Bilder" wörtlich und behandelt die Historiografie zum deutschen Landesausbau des Mittelalters sowie die Darstellungen der Slawen in zeitgenössischen Quellen. Matthias Hardt fasst sie in seiner Beschäftigung mit der deutschen historisch-geografischen Forschung zur slawischen Siedlung des Mittelalters hingegen stärker im übertragenen Sinne auf.
In der letzten Sektion steht der Einfluss nationaler Zugehörigkeiten und Vorstellungen auf die Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert im Mittelpunkt; besonders der Nordosten und Osten des Ostseeraums kommen hier zur Sprache. Elaine Smollin stellt die Dokumentation archäologischer Fundorte und Ausgrabungen litauischer Altertumswissenschaftler von 1900 bis 1918 vor, die sie unter der Fragestellung untersucht hat, welche Auswirkung die nationale Zugehörigkeit der Forscher auf die Wahrnehmung der Denkmäler hatte. In Derek Fewsters Beitrag werden Vorstellungen der durch den finnisch-schwedischen Konflikt beeinflussten mediävistischen Historiografie im Finnland der 1920er und 1930er-Jahre aufgearbeitet. Der Autor vertritt die These, dass die gesamte Geschichte Finnlands vor 1300 auf Grundlage des Quellenmaterials neu bearbeitet werden sollte, da die bisherigen Geschichtsbücher noch zu deutlich im nationalen Geist stünden. Leszek Paweł Słupecki vergleicht die Schaffung nationaler oder ethnischer Identität mit der Entstehung von Mythen und beschäftigt sich mit der Mythologieforschung Polens. Seiner Auffassung nach wurde die vorchristliche Religion im polnischen Gebiet von der Forschung im frühen 20. Jahrhundert vernachlässigt, da hiermit Argumente für panslawistische Bestrebungen hätten geliefert werden können. Dies habe aber nicht im Interesse der polnischen Forscher gelegen, die sich von Russland abgrenzen und durch die Konzentration auf die Christianisierung nach Westen orientieren wollten, was durch eine bessere Quellenlage nur gefördert wurde. Mit dem späteren 20. Jahrhundert beschäftigt sich Dittmar Schorkowitz, der die Historiografie zur Herkunft der Ostslawen und der Entstehung der Kiewer Rus' vor allem zur Zeit von Glasnosť und Perestrojka behandelt. Unterschiedliche Interessen und Fragestellungen der einzelnen postsowjetischen Staaten sowie Russlands an die Historiografie werden hier sehr deutlich.
Der Plural in "Inventing the pasts" ist sicher gut gewählt, da in den Beiträgen häufig ersichtlich wird, dass ein und dasselbe Quellenmaterial für unterschiedliche Vorstellungen von Vergangenheit, wenn nicht gar für unterschiedliche Zwecke genutzt werden kann. Die nationale Abhängigkeit der Historiografie sowie die Schaffung einer ethnisch definierten exklusiven Gruppe aus Vorstellungen über frühmittelalterliche Verhältnisse werden in den meisten Beiträgen klar herausgestellt. Der Prozess, in dem Vergangenheit "erfunden" - oder abgeschwächt: geschaffen - wurde, wird leider nicht in jedem Beitrag so stark thematisiert, wie man auf Grund des Titels erwarten könnte.
Satz und Layout der Publikation sind ein wenig lieblos, die Abbildungen teils von nachlässiger Qualität, die Sonderzeichen zum Teil in anderer Schriftart gehalten. Vor allem die englischsprachigen Beiträge sind sprachlich manchmal nicht einwandfrei und hätten stärker redigiert werden können. Abgesehen von diesen kleineren Mängeln gibt der Band einen guten Einblick in archäologische und historische Sichtweisen des Problems ethnischer Interpretation. Deutlich wird auch, dass die beiden Disziplinen sich gerade in dieser Frage nicht aus den Augen verlieren dürfen, da dem Problem eine starke Verflechtung und Vermischung archäologischer und historischer - und ebenso sprachwissenschaftlicher - Konzepte zu Grunde liegt.
Anmerkung:
[1] Vergleiche Sebastian Brather: Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen, Berlin u.a. 2004.
Wiebke Rohrer