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Andreas Malycha / Peter Jochen Winters: Die SED. Geschichte einer deutschen Partei, München: C.H.Beck 2009
Arnd Bauerkämper / Francesco Di Palma (Hgg.): Bruderparteien jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Beziehungen der SED zu den kommunistischen Parteien West- und Südeuropas (1968-1989), Berlin: Ch. Links Verlag 2011
Heike Amos: Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949 - 1963. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2003
Mario Niemann: Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952-1989, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007
Wilfriede Otto: Erich Mielke - Biographie. Aufstieg und Fall eines Tschekisten, Berlin: Karl Dietz 2000
Volker Koop: Rudolf Höß. Der Kommandant von Auschwitz. Eine Biographie, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
Roger Engelmann (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1953. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Das Ereignis
Am 17. Juni 1953, nur vier Jahre nach der Gründung der DDR, des angeblich "besseren Deutschland", kam es zu einer spontanen Volkserhebung. Im Ursprung ging es um die Rücknahme einer Erhöhung der Arbeitsnormen. Doch bald schon forderten tausende von Demonstranten den Rücktritt der SED-Regierung und freie Wahlen. Wie ein Flächenbrand verbreiteten sich, von Ost-Berlin ausgehend, die Proteste über die gesamte DDR. In Ost-Berlin gingen 100.000 Menschen auf die Straße, in Halle waren es 60.000, in Leipzig 40.000. In über 700 Ortschaften kam es zu Protesten, 600 Betriebe wurden bestreikt, 140 Partei- oder Verwaltungsgebäude gestürmt, 1400 Häftlinge aus Gefängnissen befreit. Die verängstigte SED-Führung war von der Wucht der Ereignisse überrascht, sie verdankte ihr politisches Überleben einzig und allein dem Einsatz der sowjetischen Truppen. Der Ausnahmezustand wurde verhängt, über 50 Menschen wurden getötet, mindestens 20 standrechtlich erschossen, über tausend zu teils hohen Zuchthausstrafen verurteilt.
Die Bewegung des 17. Juni 1953 war spontan, weitgehend unorganisiert, führerlos; es dominierten bald politische Parolen gegen die SED-Diktatur. Der Verlauf des Aufstandes, der meist in der Arbeiterschaft begann, sich aber rasch zum Volksaufstand ausweitete, folgte keinem einheitlichen Muster. Der Elan der Bewegung war schnell gebrochen, in manchen Städten dauerte der 17. Juni nur einige Stunden. Das Ergebnis war bitter: Die ostdeutsche Bevölkerung musste unter dem Eindruck der sowjetischen Panzer lernen, "dass die DDR zum politischen Hoheitsgebiet der Sowjetunion zählte und die Moskauer Regierung den deutschen Teilstaat nicht kampflos aufgeben würde". [1] Das galt bis 1989, dann änderte sich alles, und das Ende der DDR war besiegelt.
Der 17. Juni 1953 war die bedeutendste zivilgesellschaftliche Erfahrung "von unten" in der DDR vor 1989. Er steht als das Symbol für Freiheit und Demokratisierung. Anlässlich des 50. Jahrestages des 17. Juni 1953 war das epochale Ereignis in den Massenmedien allgegenwärtig und die Massenmedialisierung beförderte die Erinnerungskultur auf eine neue Stufe. [2] Von der Peripherie wurde das Ereignis in das Zentrum der DDR-Geschichte gerückt. Wenige Daten der deutschen Geschichte sind mittlerweile so gut erforscht wie der 17. Juni. Aus der Flut der Veröffentlichungen werden hier nur einige wichtige Werke herausgegriffen.
Monografien
Thomas Flemming hat mit "Kein Tag der deutschen Einheit" ein eher schmales, aber vorzügliches geschriebenes Buch vorgelegt, das auch durch bislang unbekannte Fotografien besticht. [3] An diesen erkennt man: "Der 17. Juni war offenbar kein Akt schierer Verzweiflung. Fotos und Filme zeigen - vor dem Eingreifen der Panzer - viele entspannte, oft fröhliche Gesichter. Da gingen durchaus selbstbewusste Menschen auf die Straße, die es 'denen da oben' einmal zeigen wollten." (155). Flemming interpretiert den 17. Juni, wie heute meistens, als Freiheitsgeschichte.
Gegenüber Verlagsankündigungen und Klappentexten ist Vorsicht geboten; schnell und laut tönend wird ein Buch, das bis dahin noch kein Rezensent gelesen hat, zum Standardwerk hochstilisiert. So heißt es bei Hubertus Knabes Buch über den 17. Juni, es handele sich um eine "differenzierte, abschließende (!) Bilanz", um das "maßgebliche Werk" zu einem der größten Tage deutscher Geschichte. Knabe hat tatsächlich ein spannend erzähltes Buch geschrieben, was man von einem guten Kenner der DDR-Geschichte, der gern provokante Themen aufgreift, auch erwarten kann. Aber "abschließend" oder endgültig ist nichts - auch Knabes Bücher sind dies nicht. [4]
Ganz anders als bei Knabe, der auf das Wort setzt, stehen in Guido Knopps Buch eine Vielzahl bislang unbekannter Fotos im Mittelpunkt. [5] Außerdem werden an vielen Stellen Zeitzeugeninterviews eingeflochten, so, wie man das aus der Mainzer "History-Fabrik" kennt. Man hat es hier mit einer Popularisierung von Geschichte zu tun, wie man sie vom "Bestsellerautor Guido Knopp" gewohnt ist: Ziel ist, mit einer packenden Darstellung in einfacher Sprache und garniert mit zahlreichen Bildern sowie mit Zeitzeugeninterviews dem Leser die Ereignisse so nahe zu bringen, dass er glaubt, sie hautnah mitzuerleben.
Volker Koop möchte nicht allein den 17. Juni analysieren, vielmehr ein Gesamtbild der DDR entwerfen. Damit greift er zu hoch. Es sei den Menschen im Juni 1953 weniger um niedrige Normen gegangen als um Freiheit und die Wiedervereinigung Deutschlands, Forderungen, auf deren Verwirklichung sie bis zum Jahr 1989 warten mussten. Schmale Quellenbasis auf der einen Seite, Eindeutigkeit im Urteil auf der anderen Seite kennzeichnen das Buch. [6]
Anders bei Ilko-Sascha Kowalczuk. [7] In seinem Buch sind die vielfältigen Forschungsergebnisse am besten zusammengefasst. Geleitet von der Idee, quellennah die flächendeckende Ausbreitung des Volksaufstandes zu beschreiben, ist ein sehr anschauliches, reichbebildertes - es beinhaltet 130 Fotos - Buch entstanden. Bei den regionalen Fallbeispielen bleibt es allerdings nicht aus, dass sich Ablaufgeschichten eklatant wiederholen. Auch werden nicht immer sauber Nachweise geliefert; vielmehr wird bisweilen etwas als eigene Erkenntnis ausgegeben, was von anderen Autoren erarbeitet worden ist. Im Anhang befindet sich eine Liste mit allen Ortschaften, in denen es nach dem bisherigen Stand zu Streiks, Demonstrationen, Besetzungen von öffentlichen Gebäuden oder Unruhen gekommen war. Schließlich und vor allem: Beigefügt ist eine Audio-CD, auf der sich ein einmaliger Mitschnitt einer Betriebsversammlung im Elektromotorenwerk Wernigerode vom 18. Juni 1953 befindet. Er vermittelt mehr als alle Worte die emotional bewegende Situation, die Wünsche und Forderungen der Beteiligten.
Ein über weite Strecken indiskutables "Enthüllungsbuch" kommt aus der Feder des ehemaligen DDR-Kulturministers und letzten Fernsehintendanten des Landes, Heinz Bentzien. [8] Das Buch warte, so der Verlag, mit "überraschenden Erkenntnissen" auf. Welche? Etwa die Erkenntnis, die wir auf Seite 7 lesen dürfen: "Doch inzwischen sind die Floskeln erstarrt, niemand glaubt mehr an einen faschistischen Putschversuch oder an einen Volksaufstand." Was also geschah damals wirklich? Bentzien entwickelt eine krude Geheimdienststory: Vieles, so lesen wir am Ende, liege noch im Dunkel der Archive, und das werde so bleiben, da die Dinge die Geheimdienste betreffen: "Der entscheidende Punkt für das Eingreifen der Roten Armee, ohne das der Arbeiter-und-Bauern-Staat verloren gegangen wäre, dürfte aber der wertvolle Schatz der DDR, das Uranvorkommen gewesen sein. Im Kalten Krieg der Blöcke gab der Besitz der Atombombe - ohne Uran kann sie nicht funktionieren - den Ausschlag" (169).
Ein wirklich gutes Buch hingegen legt Torsten Diedrich vor. Es handelt sich um eine konzise Gesamtdarstellung unter besonderer Berücksichtigung der militärhistorischen Aspekte. [9] Diedrich untersucht die Aufrüstung und Militarisierung der DDR-Gesellschaft ab 1952 als eine wesentliche Ursache für die wirtschaftliche, aber auch politische Krise des SED-Staates. Mithilfe neuer Dokumente werden der Einsatz sowjetischer Streitkräfte, der kasernierten Volkspolizei und der Polizei der DDR gegen die Protestierenden beschrieben und analysiert. In der Summe zeigt die Darstellung, wie das SED-Regime nach dem 17. Juni 1953 gegen das eigene Volk mobil machte und damit die Grundlage dafür schuf, dass sich die DDR zu einer durchherrschten und militarisierten Gesellschaft entwickelte.
Auch das Buch von Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann über die Staatsicherheit im Bezug auf den 17. Juni, dem zwanzig Dokumente beigefügt sind, ist sehr lesenswert. [10] Der Aufstand traf die Stasi unvorbereitet. In der Vorstellung der "Tschekisten" konnte eine ernsthafte Gefährdung der SED-Herrschaft nur von westlichen Subversionsaktivitäten ausgehen. "Die Geschichte", so die beiden Autoren, "neigt gelegentlich zu dialektischer Ironie. Indem die SED ihre Putsch-Legende vom 'Tag X' in die Welt setzte, manövrierte sie die Staatssicherheit in ein auswegloses Dilemma, insoweit sie von ihr forderte, die westlichen Organisatoren und Drahtzieher des 17. Juni zu entlarven und unschädlich zu machen, von deren Nichtexistenz sie - die Staatssicherheit - auf Grund ihrer eigenen Ermittlungen eigentlich hätte überzeugt sein müssen" (26).
Quellenbände
Der Band von Wilfriede Otto präsentiert interne Dokumente der SED aus dem Jahr 1953; es sind 80 an der Zahl, meist die bekannten und oft benutzten Schlüsseldokumente, die hier versammelt sind. [11] Sie bieten einen Blick in die Abgründe einer stalinisierten Partei. Die Dokumente erlauben es, den sowjetischen Kurswechsel seit Stalins Tod am 5. März 1953 nachzuvollziehen, und sie dokumentieren darüber hinaus, jedenfalls zum Teil, das Krisenjahr 1953 für den gesamten Ostblock. Die Dramatik, die bis zum 16. Juni entstand, wird sichtbar: "Die SED ist pleite!" - darin bündelte sich der öffentliche Eindruck. Sehr differenziert informieren die Dokumente über die Zeit zwischen dem 17. und dem 21. Juni, um schließlich die Machtkämpfe innerhalb der SED, die innerparteilichen Disziplinierungen und die Justizverbrechen einzufangen. Insgesamt handelt es sich um einen guten Dokumentenband. Aber: "Wer sich künftig über den 17. Juni kompetent äußern möchte und diesen Dokumentenband nicht zur Kenntnis genommen hat", so liest man auf der Rückseite von Wilfriede Ottos Buch, "wird kaum der Gefahr entgehen können, sich zu kompromittieren." Heilige Einfalt! Wer hat sich denn da verkünstelt?
Eine in ihrer Geschlossenheit einmalige Sammlung geheimer Chef-Berichte der Volkspolizei legen Torsten Dietrich und Hans-Hermann Hertle vor: Insgesamt 20 Dokumente aus verschiedenen Bezirken der DDR, in denen das Ausmaß, der Verlauf und die Forderungen der Protestierenden, das Einsatzverhalten der Polizei beschrieben und das Versagen der Sicherheitskräfte bemäntelt wird. [12] "Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der gewalttätigen Volksproteste gegen die SED-Herrschaft geschrieben, entsteht eine in ihrer Geschlossenheit einmalige Sammlung streng geheimer Berichte über die Schwerpunkte der Juni-Ereignisse in allen Bezirken der DDR aus volkspolizeilicher Sicht. Mit weiteren Unterlagen über den 17. Juni 1953 zu drei Aktenbündeln geschnürt, handschriftlich mit dem Vermerk 'Putsch-Versuch des Klassengegners' versehen, landet das brisante Material im Archiv des DDR-Innenministeriums" (9).
Ein ganzes Land befand sich in der Krise. Mit dem Blick auf Brandenburg beschreiben dies die Dokumente von Burghard Ciesla. Über Brandenburg war das Wissen bislang oft nur fragmentarisch. [13] Was geschah genau? In welchen Orten geschah es? Welche Maßnahmen ergriffen einzelne Behörden? 68 bislang unveröffentlichte Dokumente - Stimmungsberichte, Verhörprotokolle, Gerichtsurteile, Fotos - geben nun darüber Aufschluss.
Regionalstudien
Das Zentrum des Arbeiteraufstandes, so Hans-Peter Löhn, lag in einer alten Hochburg der Arbeiterbewegung, im mitteldeutschen Industriegebiet. [14] Dabei spielte die Großstadt Halle eine besondere Rolle, weil hier die Erhebung die Züge eines Volksaufstandes annahm. Fotos sind dem Band beigegeben, vor allem aber benennt Löhn viele der mutigen Aufständischen mit Namen. Das gilt auch für das nur 63 Seiten umfassende Büchlein von Klaus Schwabe, der den Ursachen, dem Verlauf und den Ergebnissen des 17. Juni in Mecklenburg-Vorpommern nachgeht. [15]
Der Wunsch nach Wiederherstellung der deutschen Einheit sei das Zentrum der Forderungen im Chemiedreieck Bitterfeld gewesen, so die Beiträger im Sammelband von Stefanie Wahl und Paul Werner Wagner. [16] Es geht hier aber auch um den Ort des 17. Juni im internationalen Systemkonflikt und insgesamt um eine Verbindung von Lokal- und Regionalstudien mit übergreifenden Einschätzungen.
Sammelbände
Die Ereignisse in Ost-Berlin waren schon vor dem Jubiläumsjahr 2003 gut erforscht. Nun treten vermehrt auch Regionalstudien hinzu. Dabei sticht der Sammelband von Hermann-Josef Rupieper, der 17 Beiträge umfasst, hervor. [17] Das mitteldeutsche Industrierevier - die Regionen Bitterfeld/Wolfen, Halle/Merseburg und Magdeburg - mit den Großbetrieben der chemischen Industrie und des Schwermaschinenbaus war ein Zentrum des Aufstandes. Das Buch bietet Lokalstudien zu Institutionen und Betrieben (Trägerschichten, Ablauf der Proteste, Fragen der Konfliktregelung), darüber hinaus Einblicke in Einzelschicksale (biografische Studien) und drei Zeitzeugenberichte. In den politischen Diskursen der Zeit, so Rupieper im einleitenden Überblick, war die Forderung nach einer Wiederherstellung der Einheit Deutschlands allgegenwärtig und selbstverständlich; sie kann nicht überraschen. "Das Singen der ersten Strophe des Deutschlandliedes 'Deutschland, Deutschland über alles' war daher kein Ausbruch nationalistischer Gefühle, sondern sollte als höherwertiges Gut im Vergleich zur Teilung Deutschlands in zwei Staaten verstanden werden" (10). Die Massendemonstrationen wirkten als Ventil für die aufgestaute Unzufriedenheit, die bisher von Staat, Partei und Gewerkschaften nicht ernst genommen worden war. Das Ausmaß der Systemkrise und der verbreiteten Unzufriedenheit überraschten alle.
Die Beiträge in dem von Ulrich Mählert zusammengeführten Sammelband dokumentieren erneut, dass streikende Arbeiter der Motor der Bewegung waren. [18] Ihre schiere Zahl und die in den Betrieben fortwirkenden gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Traditionen lieferten die kritische Masse für die Durchschlagskraft der Aktionen. Das Buch beschreibt den Aufstand in seinen lokalen und regionalen Ausprägungen. Biografische Skizzen lokaler Akteure ergänzen die sozialgeschichtliche Perspektive.
Das von Heiner Timmermann herausgegebene Buch kommt mit einem merkwürdig gewundenen Titel daher und befasst sich vornehmlich mit den außenpolitischen Aspekten des 17. Juni. [19] Das Datum war, so schreibt der Herausgeber nicht gerade verständlich, "eine Funktion im Kalten Krieg, er bedeutete für viele Menschen eine Katastrophe, er bewirkte eine Kartharsis im Sinne von Jammern und Schaudern, aber auch der durch die Tragödie bewirkten Affekte in 'tugendhafte Fertigkeiten', indem die Machthaber von 1989 die repressiven Vorgänge von 1953 nicht wiederholten." Eruiert werden erstens das Internationale Umfeld, zweitens die Reaktionen in den Staaten der vier Siegermächte, drittens die Reaktionen in den neutralen Ländern und viertens das Problem der deutschen Einheit. In einem Teil findet sich auch ein Beitrag zu China: Chinesische Reaktionen auf den 17. Juni - das wirkt exotisch und interessant, man ist gespannt; aber dann geht der Beitrag völlig am Thema vorbei; man hätte sich sparen können, die Seiten zu bedrucken. Denn, so das Ergebnis, "grundsätzlich" sei der Aufstand in China überhaupt nicht rezipiert worden. Die besten Beiträge des Bandes sind bereits anderer Stelle veröffentlicht worden, so Hermann Wentkers klug abwägende vergleichende Analyse von 1953 und 1989.
Was bleibt?
Der Gegenstand ist gut erforscht. Das zeigt sich daran, dass die markantesten Zitate, die einschlägigsten Dokumente in allen Veröffentlichungen auftauchen. So ähneln sich viele Bücher. Die einen Autoren können etwas packender schreiben, die anderen präsentieren mehr Anmerkungen, Dokumente und Fotos, das eine Buch ist eher für die breite Öffentlichkeit, das andere für Fachkollegen gedacht - doch an einem Befund kommt man nicht vorbei: Sämtliche Gesamtdarstellungen zum 17. Juni folgen einem einheitlichen Muster. Zuerst werden die Ursachen des Aufstandes analysiert, die Vorgeschichte, der Weg in die Krise, also der verordnete "Aufbau des Sozialismus" seit der SED-Parteikonferenz 1952, die Zunahme des Terrors, die Wirtschafts- und Versorgungskrise, Stalins Tod und Moskaus "neuer Kurs". Danach folgt der Anlass, die Frage, wie der Stein langsam ins Rollen kam. Anschließend beschreitet man den Weg vom Streik der Bauarbeiter auf der Stalinallee zum Aufstand des Volkes, wobei nun heute ganz differenziert nach Orten und sozialen Schichten vorgegangen wird; zunächst widmen sich die Autoren dem Zentrum des Aufstandes - Ost-Berlin -, um dann den Flächenbrand bis an die Peripherie der DDR nachzuzeichnen. Schwerpunkte bilden immer Görlitz, Halle, Bitterfeld, Magdeburg, Leipzig, Dresden; beschrieben wird die Revolte der Bauern, die Reaktion der Kirchen, das Verhalten der Intellektuellen. Sodann kommt die Niederschlagung, das Eingreifen der Sowjets, die die DDR-Führung retteten, die Haltung bzw. das Nichtstun des Westens, der Weg zur Konsolidierung der SED-Führung mittels verschärfter Repression. Am Ende - in Wahrheit jedoch im Mittelpunkt aller Untersuchungen - steht das "Vermächtnis" des 17. Juni 1953 für die Deutschen, für alle Deutschen in Ost und West.
Stets gibt es zentrale Achsen: Die Frage nach der Einheit der Nation, danach, ob es um Wiedervereinigung ging oder "nur" um Freiheit? Dann die immer noch diskutierte Frage, ob der 17. Juni eine Revolution war oder eine gescheiterte Revolution oder eine abgeschnittene Revolution. Sehr kritisch reflektiert wird die Rolle der Westalliierten, genauer: ihr Nicht-Eingreifen. Hier kommt es nicht selten zur Anklage. Aber geht das nicht an der Wirklichkeit vorbei? Müssen Historiker nicht stärker den zeitlichen Kontext beachten, dürfen sie - vom Aufstand enthusiasmiert - etwas verlangen, was damals schlechterdings undenkbar war? Warum hätten die Westalliierten sich für die Deutschen und eine deutsche Wiedervereinigung in die Bresche werfen, für sie gar einen Krieg riskieren sollen? Diese hatten vor nicht wenigen Jahren den gesamten europäischen Kontinent in Schutt und Asche gelegt und den Holocaust verübt. Das Deutschlandbild in den europäischen Ländern, die bis vor wenigen Jahren von Deutschen besetzt und unterdrückt worden waren, glänzte beileibe nicht in hellen Farben, sondern war äußerst trübe. Die Deutschen waren auf Grund der jüngsten Vergangenheit noch die Parias der Weltgemeinschaft, galten als Nazis, als gefährlich, man glaubte, sie weiterhin kontrollieren zu müssen.
"Überhaupt", so schreibt Hubertus Knabe in seinem Buch zum 17. Juni, "war das demonstrative Verständnis für das brutale Verhalten der sowjetischen Besatzungsmacht vor allem bei den Briten erschreckend groß." (434) Kann das tatsächlich verwundern? Verlangt der nachgeborene Historiker hier nicht zu viel von den Zeitgenossen? Noch 1989 warnte die britische Premierministerin Margaret Thatcher vor einer neuen, aggressiven "teutonischen Hegemonie" in Europa und lehnte deshalb unverblümt eine deutsche Wiedervereinigung ab. 1989 schien uns das skandalös, vielen Briten jedoch verständlich. Doch 1953 waren solche Ansichten, täuschen wir uns nicht, allen Beteuerungen gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen zum Trotz, absolut vorherrschend.
Eine dritte zentrale Achse bildet die Frage nach dem Vermächtnis des 17. Juni für ganz Deutschland, ja für Europa. Die DDR-Geschichte, so sämtliche Autorinnen und Autoren, müsse in die gesamte deutsche Geschichte integriert werden; sie zähle zur Vergangenheit aller in Deutschland lebenden Menschen. Mit Blick auf die EU-Osterweiterung wird argumentiert, man müsse die Geschichte des europäischen Totalitarismus - Kommunismus und Nationalsozialismus - in seiner Gesamtheit zur Kenntnis nehmen und keine Hierarchie der Opfer vornehmen. Aber werden damit nicht Unterschiede verwischt?
Und hatten wir das nicht bereits? Die Totalitarismus-Theorie bewirkte seit dem Ende der 50er-Jahre eine Parallelisierung des 17. Juni 1953 und des 20. Juli 1944, und zusammen ergab dies den Beweis für die antitotalitäre und freiheitsliebende Gesinnung aller Schichten der Deutschen, hier die Bewegung aus der Mitte des Volkes, dort das Attentat aristokratischer und bürgerlicher Eliten. Es besteht kein Zweifel: Der 17. Juni hellte das nach dem Krieg überaus dunkle Image der Deutschen in der Welt auf. Auch heute, da so viel von den Deutschen als Opfer der Geschichte die Rede ist, da die Deutschen ihre Opfergeschichte entdecken - und die Nur-Täter-Geschichte zurückweisen -, scheinen Heldenerzählungen Konjunktur zu haben.
Am Ende möchte ich mir einige Fragen erlauben, auf die ich gerne Antworten hätte. Erstens: Warum gab es einen deutschen Volksaufstand gegen den Kommunismus, und warum keinen deutschen Volksaufstand gegen den Nationalsozialismus? Wie können wir das heute erklären? Zweitens: Kann man wirklich von einem "Untergang auf Raten" sprechen, davon also, dass der 17. Juni 1953 den Anfang vom langen Ende der DDR bedeutete, oder werden mit dieser Interpretation, die politisch vertretbar, wissenschaftlich jedoch eher zweifelhaft ist, nicht neue Sichtblenden eingezogen? Gibt es einen 36 Jahre dauernden Untergang? Drittens: Was wäre gewesen, wenn der 17. Juni zeitlich nicht so eng begrenzt gewesen wäre? Zugeben, dies ist eine kontrafaktische Frage. Doch wir sehen an den Revolutionen, mit denen der 17. Juni mittlerweile so umstandslos gleichgesetzt wird - vor allem 1848/49 oder 1918/19 -, dass solche Ereignisse mit der Länge ihrer Dauer ihr Gesicht zum Teil dramatisch veränderten, dass sich andere Inhalte, Konzepte, Ideen, Personen und Gruppen in den Vordergrund schoben, sodass die Anfänge der Revolutionen später kaum mehr erkennbar waren. Beim 17. Juni kennen wir nur die Anfänge, denn er wurde sofort niedergeschlagen. Was wäre aus dem Volksaufstand in der DDR geworden, hätte er Wochen oder Monate gedauert? Gibt es Hinweise, dass er sich womöglich verändert, vielleicht radikalisiert hätte, dass die lauteren, untadeligen demokratischen Ideen umgeschlagen, verdorben worden wären?
Solche Fragen sind unbequem, aber Historiker sind nicht für Bequemlichkeit zuständig. Es ist schon auffallend, wie etwa Hubertus Knabe die in der Tat hehren Ziele der Aufständischen würdigt: "Mit der zentralen Forderung nach freien und geheimen Wahlen zielte der Protest [...] auf die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie. Damit unterschied er sich positiv von den Vorstellungen mancher Widerstandsgruppen im Nationalsozialismus". Es sticht Paradoxes ins Auge: Hunderttausendfacher ostdeutscher Einsatz für die parlamentarische Demokratie, während 1953 die Demokratie in der Bundesrepublik noch gar nicht richtig gefestigt war, dem Parlamentarismus noch das Weimarer Vorurteil von "Parteienmisswirtschaft" anhaftete, in Umfragen Hitler noch als einer der größten deutschen Staatsmänner galt und allgemein an der Demokratie - die im Geruch stand, ein "Westimport" zu sein - gezweifelt wurde. Der große demokratische Schub stand dem Westen erst noch bevor: Das "Wirtschaftswunder" machte aus den Deutschen im Westen gute Demokraten, da seither die Gleichung stimmte: Demokratie ist Wohlstand und Konsum. Was damit angedeutet werden soll: Es verblüfft vor diesem Hintergrund wenige Jahre nach dem Untergang des "Großdeutschen Reiches" und in einer Zeit, als die alten NS-Ideen noch nicht durchgängig abgestreift worden waren, die Demokratie im Westen gerade einmal vier Jahre alt war und die erste deutsche parlamentarische Demokratie, die Weimarer Republik, zwanzig Jahre zurück lag, dass die Ostdeutschen so viel aufgeklärter, zivilgesellschaftlicher gewesen sein sollen als die Westdeutschen. Sie hatten offenbar die Freiheit und die Demokratie so verinnerlicht oder konserviert oder neu entdeckt, dass sie unter Einsatz ihres Lebens eine Revolution, die auf ein demokratisches Deutschland zielte, vom Zaun brachen. Wie ist das, nur acht Jahre nach dem Nationalsozialismus, zu erklären?
Anmerkungen:
[1] Ilko-Sascha Kowalczuk: Die gescheiterte Revolution - "17. Juni 1953". Forschungsstand, Forschungskontroversen und Forschungsperspektiven, in: AfS 44 (2004), 606-664, hier 610.
[2] Vgl. Edgar Wolfrum: Neue Erinnerungskultur? Die Massenmedialisierung des 17. Juni 1953, in: APuZ B 40-41/2003, 33-39.
[3] Thomas Flemming: Kein Tag der deutschen Einheit - 17. Juni 1953. Berlin: be.bra Verlag 2003, 168 S., ISBN 3-89809-038-8, EUR 19.90.
[4] Hubertus Knabe: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, Berlin / München: Propyläen 2003, 486 S., 45 Abb., ISBN 3-549-07182-5, EUR 25.00.
[5] Guido Knopp: Der Aufstand. 17. Juni 1953. Dokumentation: Patrick Obrusnik, Hamburg: Hoffmann und Campe 2003, 303 S., zahlr. Abb., ISBN 3-455-09389-2, EUR 24.90.
[6] Volker Koop: Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit, Berlin: Siedler 2003, 428 S., 40 s/w-Abb., ISBN 3-88680-748-7, EUR 24.90.
[7] Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953 - Volksaufstand in der DDR. Ursachen - Abläufe - Folgen. Unter Mitarbeit von Gudrun Weber. Mit einem Vorwort von Marianne Birthler, Bremen: Edition Temmen 2003, 311 S., 130 Duo Ton-Abb., 1 CD-ROM, ISBN 3-86108-385-x, EUR 19.90.
[8] Hans Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte - Verlauf - Hintergründe, Berlin: edition ost 2003, 214 S., ISBN 3-360-01042-6, EUR 12.90.
[9] Torsten Diedrich: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni in der DDR, München: Oldenbourg 2003, 259 S., zahlr. Abb., 2 Karten, ISBN 3-486-56735-7, EUR 19.80.
[10] Karl-Wilhelm Fricke / Roger Engelmann: Der "Tag X" und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953 - Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat (= Analysen und Dokumente, Bd. 24), Bremen: Edition Temmen 2003, 346 S., ISBN 3-86108-386-8, EUR 17.90.
[11] Wilfriede Otto (Hg.): Die SED im Juni 1953. Interne Dokumente, Berlin: Karl Dietz 2003, 304 S., ISBN 3-320-02045-5, EUR 14.90.
[12] Torsten Diedrich / Hans-Hermann Hertle (Hg.): Alarmstufe "Hornisse". Die geheimen Chef-Berichte der Volkspolizei über den 17. Juni 1953, Berlin: Metropol 2003, 464 S., ISBN 3-936411-27-1, EUR 21.00.
[13] Burghard Ciesla (Hg.): Freiheit wollen wir! Der 17. Juni 1953 in Brandenburg. Eine Dokumentenedition, Berlin: Christoph Links Verlag 2003, 255 S., ISBN 3-86153-288-3, EUR 19.90.
[14] Hans-Peter Löhn: Spitzbart, Bauch und Brille - sind nicht des Volkes Wille! Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale (= Analysen und Dokumente, Bd. 22), Bremen: Edition Temmen 2003, 211 S., ISBN 3-86108-373-6, EUR 10.90.
[15] Klaus Schwabe: Aufstand an der Küste. Ursachen, Verlauf und Ergebnisse des 17. Juni 1953, Schwerin: Thomas Helms Verlag 2003, 63 S., ISBN 3-935749-21-x.
[16] Stefanie Wahl / Paul Werner Wagner (Hg.): Der Bitterfelder Aufstand. Der 17. Juni 1953 und die Deutschlandpolitik. Ereignisse, Zeitzeugen, Analysen, Leipzig: Forum Verlag Leipzig 2003, 223 S., ISBN 3-931801-30-6, EUR 13.90.
[17] Hermann-Josef Rupieper (Hg.): "... und das wichtigste ist doch die Einheit.". Der 17. Juni 1953 in den Bezirken Halle und Magdeburg (= Forschungen zur Neuesten Geschichte, Bd. 1), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2003, 423 S., ISBN 3-8258-6775-7, EUR 29.90.
[18] Ulrich Mählert (Hg.): Der 17. Juni 1953. Ein Aufstand für Einheit, Recht und Freiheit, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2003, 280 S., 70 Abb., ISBN 3-8012-4133-5, EUR 19.90.
[19] Heiner Timmermann (Hg.): Juni 1953 in Deutschland. Der Aufstand im Fadenkreuz von Kaltem Krieg, Katastrophe und Katharsis (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 110), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2003, 283 S., ISBN 3-8258-6890-7, EUR 29.90.
Edgar Wolfrum