Enn Tarvel / Tõnu Tannberg (Hgg.): Sõja ja rahu vahel. Koguteos, 1. kd.: Eesti julgeolekupoliitika 1940. aastani. [Zwischen Krieg und Frieden. Sammelwerk. Bd. 1: Die estnische Sicherheitspolitik bis zum Jahr 1940], Tallinn: MTÜ S-Keskus, Rahvusarhiiv 2004, 566 S., ISBN 978-9985-9520-1-6
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Bernhart Jähnig / Klaus Militzer (Hgg.): Aus der Geschichte Alt-Livlands. Festschrift für Heinz von zur Mühlen zum 90. Geburtstag, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004
Jobst Knigge: Kontinuität deutscher Kriegsziele im Baltikum. Deutsche Baltikum-Politik 1918/19 und das Kontinuitätsproblem, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2003
Tālavs Jundzis (ed.): The Baltic States at Historical Crossroads. Political, economic, and legal problems and opportunities in the context of international co-operation at the beginning of the 21st century. A collection of scolary articles. Published in memory of Senator August Loeber and on the occasion of the 75th birthday of Professor Dietrich André Loeber, 2., durchges. und erw. Auflage, Riga: Latvian Academy of Sciences 2001
Unter der Federführung von Tõnu Tannberg ist der erste Teil einer auf zehn Bände konzipierten und von Enn Tarvel herausgegebenen Reihe über die Geschichte Estlands zwischen 1939 und 1956 vorgelegt worden, wobei der zehnte Band eine Zusammenfassung aller Teile in englischer Sprache bieten soll. Thematisch hat man sich bei diesem ehrgeizigen Vorhaben auf Aspekte der politischen und militärischen Geschichte konzentriert, wobei die kommenden Bände zeigen werden, wie fruchtbar dieser vor allem für die Zeit nach 1944 beschränkende Ansatz umgesetzt werden kann. In diesem ersten Band geht es in drei Teilen um den außenpolitischen Hintergrund des Hitler-Stalin-Pakts, das estnische Militärwesen und die Vorgeschichte der sowjetischen Okkupation. Jeder Abschnitt wird durch umfangreiches Fotomaterial illustriert und durch einen über 100 Seiten umfassenden Dokumentenanhang ergänzt (wobei kurioserweise der Pakt vom 23.8.1939 aus den russischen "Dokumenty vnešnej politiki" und sein Zusatzprotokoll aus den "Documents of German Foreign Policy" übersetzt wurden).
Magnus Ilmjärv, dessen knapp 1000 Seiten umfassende Dissertation zur "stummen Unterwerfung" Estlands 1939/40 gerade Furore gemacht hat [1] und welche die nahezu wörtlich übereinstimmende Grundlage für den hier veröffentlichten Beitrag bildet, beschreibt anhand von umfangreichem, aber leider unkommentiertem Quellenmaterial (zum Beispiel aus der sowjetischen Botschaft in Tallinn), wie sich Estland vor allem durch seine offene Sympathie zu Berlin Ende der 1930er-Jahre in eine ausweglose außenpolitische Lage manövriert habe. Dabei sei es vor allem die "Clique" um Oberbefehlshaber Johan Laidoner gewesen, die allen offiziellen Bekenntnissen zur Neutralität zum Trotz eine pro-deutsche Außenpolitik betrieben habe. Heino Arumäe setzt in seiner Darstellung des Jahres 1939 mit der charakteristischen Beobachtung ein, dass die estnische Presse die deutsche Besetzung des Memelgebiets nur kühl kommentiert habe, als ob dies Tallinn nichts angegangen sei. Gleichzeitig habe der neue sowjetische Außenminister Litvinov angekündigt, dass Moskau seiner "Verantwortung" für die estnische Unabhängigkeit nachkommen werde, sollte Estland nicht selbst genug dafür tun.
Dieser Faden der politischen Ereignisgeschichte wird am Ende des Bandes erneut von Ilmjärv aufgenommen, der minuziös die "stumme Unterwerfung" der estnischen Regierung unter die Forderungen Moskaus zeigt. In Bezug auf diese aktuelle Auseinandersetzung ist es ja nicht anzuzweifeln, dass im autoritären Regime Päts Entscheidungen im engsten Kreis getroffen wurden und sowohl das Parlament (durch die Regierung) als auch die Öffentlichkeit (durch die gleichgeschaltete Presse) vor vollendete und oft verschleierte Tatsachen gestellt wurden. Dass Außenminister Selter am 24.9.1939 Ilmjärv zufolge mit einem bereits in Tallinn verfertigten Text eines gegenseitigen Unterstützungsvertrags bei Molotov vorstellig geworden sein soll und damit die Moskauer Politik "forciert" hätte (368), muss jedoch Spekulation bleiben, da bislang nur ein ungezeichnetes Projekt unbekannter Herkunft in Moskauer Archiven gefunden werden konnte. Demgegenüber ist Ilmjärv sicher zuzustimmen, wenn er aus dem diplomatischen Schriftverkehr zitierend behauptet, dass die Mehrheit der Bevölkerung Estlands die eigene Regierung in ihrer passiven Haltung zum Winterkrieg nicht unterstützt habe, eine Haltung, die aufgrund ihrer bemühten Neutralität wiederum seitens der sowjetischen Botschaft schärfster Kritik ausgesetzt war. Für das estnische Geschichtsbewusstsein bleibt die Frage, ob die Tätigkeit der Regierung Päts nun als aktiv im Sinne einer Erfüllungspolitik gegenüber Moskau oder als passiv im Sinne einer Lähmung angesichts der sowjetischen Drohungen zu beurteilen sei, weiterhin von Bedeutung.
Eines macht der vorliegende Band zweifellos deutlich: Die estnischen Chancen, sich militärisch - wie die Finnen - dem sowjetischen Druck entgegenzustellen, waren gering, schon weil es keine fixierte Beistandsautomatik mit den Nachbarn im Norden oder Süden gab (Beitrag von Ago Pajur). Aufgrund einer nicht immer zielgerichteten Ausgabenpolitik war zudem die Ausrüstung der Armee 1939 nicht auf dem modernsten Stand, wie Urmas Salo und Toe Nõmm in ihren sehr gut dokumentierten Beiträgen herausarbeiten können. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass die Ereignisse im Baltikum in den weiteren Kontext der "Erweiterung der Sowjetunion" 1939/40 einbezogen werden. Die konzisen Kapitel von Tõnu Tannberg zur Sowjetisierung der westlichen Ukraine und des westlichen Weißrussland sowie zum Winterkrieg liefern den Kontext, der hoffentlich auch im bereits als Manuskript vorliegenden zweiten Band der Reihe über das "erste sowjetische Jahr" fruchtbar einbezogen werden wird.
Zu bemängeln bleiben einige "Kinderkrankheiten", die in den folgenden Bänden aber noch abgestellt werden können: Zwar gibt es ein Personenregister, doch fehlt eine Bibliografie der zitierten Arbeiten. Die Platzierung der Anmerkungen unmittelbar hinter der auf jeden Teil folgenden Fotosektion ist unpraktisch und die Zitierweise zum Teil uneinheitlich. Während Ilmjärv jedes Archivdokument benennt, bietet Tannberg nur die jeweiligen Signaturen, manche Nachweise von wörtlichen Zitaten fehlen (9, 229, 318, 327, 337, 339). Die ausdrücklich zu begrüßende Entscheidung, umfangreiches Fotomaterial zu publizieren (auch wenn es leider nicht in den Text einbezogen wird), verschleiert ein wenig die Tatsache, dass es keine Karten gibt. Aber insgesamt ist dieser Band eine Fundgrube für die Forschung, auch wenn zu bedauern ist, dass man auf den angekündigten englischsprachigen Band noch einige Zeit wird warten müssen.
Anmerkung:
[1] Die gekürzte englische Ausgabe: Magnus Ilmjärv: Silent Submission. Formation of Foreign Policy of Estonia, Latvia and Lithuania. Period from mid-1920s to Annexation in 1940 (= Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia Baltica Stockholmiensia, 24), Stockholm 2004 .
Karsten Brüggemann