Anders Henriksson: Vassals and Citizens. The Baltic Germans in Constitutional Russia, 1905-1914, Marburg: Herder-Institut 2009, XIV + 228 S., ISBN 978-3-87969-356-6, EUR 31,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Dieses Buch fügt sich in eine amerikanische Tradition der Beschäftigung mit den Deutschbalten im russischen Kaiserreich ein, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit C. Leonard Lundin einsetzte, von Edward C. Thaden und Michael Haltzel fortgesetzt wurde und mit Heide Whelan, deren Studie Adapting to Modernity ebenfalls in einer vom Herder-Institut betreuten Reihe erschienen ist, noch nicht abgeschlossen worden ist. Anders Henriksson ist in dieser Liste freilich kein Newcomer, denn auch er hat sich bereits in den 1980er Jahren mit The Tsar's Loyal Germans beschäftigt. In seinem neuen Werk setzt er mit den Schrecken der Revolution von 1905 genau dort an, wo er damals (wie auch Whelan) geendet hat. Schreibt aber Whelan vom Rückzug in die Familie als prägendem Element des deutschbaltischen späten 19. Jahrhunderts, geht es Henriksson vor allem um die öffentliche Tätigkeit seiner Protagonisten in der konstitutionellen Monarchie. Gesellschaftliches Engagement, "Deutsche Vereine", Lokalverwaltung und die imperiale Bühne der Staatsduma - das sind die Aspekte, denen der Autor in seiner konzentrierten Studie nachgeht. Damit handelt es sich bei Henrikssons Arbeit gewissermaßen um eine Komplementärstudie zu Natal'ja Andreevas kürzlich erschienener Studie zur Regierungspolitik gegenüber den Deutschbalten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg [1].
Man mag diesen ethnisch exklusiven Ansatz heute für altmodisch halten, doch ignoriert der Autor das multinationale Umfeld deutschbaltischer Existenz keineswegs, das sich ja gerade nach dem Gewaltausbruch von 1905 über die diversen national geprägten Milieus definierte. Henriksson schließt darüber hinaus aber mit seiner Studie über die Zeit zwischen Revolution und Krieg eine empfindliche Lücke in unserem Bild der Ostseeprovinzen in dieser Phase. Im Wesentlichen macht er auf erfreulich wenig Raum deutlich, dass auch die zahlenmäßig so kleine deutsche Minderheit in ihren politischen Ansichten kaum kohärent war.
Schon im einleitenden Kapitel über "Change and Continuity" gelingt es dem Autor all die Irritationen aufzuzeigen, von denen die baltische Region um die Jahrhundertwende geprägt war. Während deutschen Schülern der Begriff "Kurland" ganz selbstverständlich über die Lippen kam, wenn es um die Frage ging, was denn ihr Vaterland sei, sahen manche erwachsene Deutschbalten Esten und Letten ganz natürlich als "Deutsche" an - nur eben mit einer anderen Muttersprache und anderem sozialen Status. Zugleich war der russische Betrachter irritiert, wenn er an der Ostsee auf Polizisten traf, die die Staatssprache nicht beherrschten. Der livländische Gouverneur Michail A. Zinov'ev wiederum kam 1885 mit der Überzeugung nach Riga, in ein Nest von Subversiven geschickt worden zu sein, pries aber eine Dekade später die Loyalität und administrativen Fähigkeiten der Lokalelite. All dies wurde durch die extreme Gewalterfahrung der Jahre 1905 und 1906 auf eine neue Grundlage gestellt, sodass das ethnische Bekenntnis allmählich das jeweilige Standesbewusstsein als politisch wesentliche Kategorie ablöste. Dass diese Situation für die demografisch winzige Minderheit der Deutschbalten höchst prekär wurde, lag auf der Hand.
Eine der Reaktionen auf diese veränderte Umwelt war das national movement in Form der "Deutschen Vereine". Mit Recht warnt Henriksson jedoch davor, deren enorme anfängliche Popularität, die gerade auch von Frauen getragen wurde, als Anzeichen eines weit um sich greifenden exklusiven Nationalbewusstseins zu interpretieren: "Local and regional particularism was an unconquerable force" (81). Das Betätigungsfeld der Vereine galt so eher einer milieufestigenden Solidarität und blieb vor allem lokal ausgerichtet; wenigstens sprach niemand die möglicherweise vorhandene Notwendigkeit an, einen umfassenden Verein für alle drei Ostseeprovinzen zu gründen. Schließlich hieß es 1909 in einem internen Bericht, dass der Enthusiasmus vorbei sei.
Auch politisch hatte die Zäsur der Revolution keineswegs zu einem ethnisch motivierten Schulterschluss zwischen Konservativen und Liberalen, zwischen Ritterschaft und Bürgertum geführt, die jeweils völlig konträre Konzepte von "Nation" vertraten. Wie unterschiedlich deutschbaltische Auffassungen von Lokalverwaltung sein konnten, zeigt das Kapitel "Conflict and Community: Local Politics, 1906-1914" anschaulich - Libau wurde anders regiert als Dorpat -, wobei das jeweilige Verhältnis zu Esten bzw. Letten charakteristisch war. Dabei kratzt Henriksson das tradierte Selbstbild des untadeligen "Landesdienstes" in den Organen der Selbstverwaltung auch dadurch an, indem er zeigt, dass deutschbaltische Bürgervertreter keineswegs vor den Verlockungen der Korruption gefeit waren.
Meisterlich demonstriert der Autor abschließend anhand des deutschbaltischen Auftretens auf der imperialen Bühne der Staatsduma, wie komplex die Probleme nicht nur der Provinzen selbst, sondern letztlich des gesamten Reiches waren. Während sich liberale und konservative Deutschbalten bei Fragen, die den Umgang mit den nicht-russischen Randgebieten betrafen, mit Finnen, Polen und sogar Esten und Letten auf derselben Seite der Auseinandersetzung wiederfanden, ja Letztere sogar gegen den russischen Vorwurf verteidigten, separatistische Absichten zu hegen, verliefen die Fronten bei Diskussionen etwa der Agrarfrage oder der Grundrechte ganz anders. Ihrer Partner konnten sich deutschbaltische Politiker auf Reichsebene nie vollständig sicher sein - und in den Heimatprovinzen tobte die Debatte um die "richtige" Taktik, sei es, um liberale Freiheiten oder die deutschbaltische ständische Autonomie zu verteidigen.
Somit liegt eine klug komponierte und atmosphärisch dichte Studie über die Komplexität deutschbaltischer Politik im lokalen und imperialen Rahmen vor dem Ersten Weltkrieg vor, die gerade auch für Russlandhistoriker von Nutzen ist, die sich eher weniger mit den Peripherien befassen, weil hier der Reichskontext stets mitgedacht wird. Erneut werden unsere Denkgewohnheiten, die so sehr von späteren Ereignissen vorgeprägt sind, auf die Probe gestellt, wenn wir lesen, dass bei der feierlichen Einweihung des Barclay de Tolly-Denkmals in Riga 1913 Superintendent Theophil Gaehtgens und der orthodoxe Erzbischof Ioann sich nach den Gebeten nicht nur die Hände schüttelten, sondern sich sogar umarmten (178).
Kleinere Ungenauigkeiten wie die, dass das Tallinner Blutbad vom 16. Oktober 1905 nicht auf dem Heumarkt, sondern auf dem unweit gelegenen Neuen Markt stattfand (31), fallen gegenüber dem insgesamt höchst anregenden Gehalt der Arbeit nicht so sehr ins Gewicht. Nur hätte man sich zuweilen bei Zitaten mehr Mut zur Originalsprache gewünscht - zumindest in Klammern.
Anmerkung:
[1] Natal'ja S. Andreeva: Pribaltijskie nemcy i rossijskaja pravitel'stvennaja politika v načale XX veka [Die Deutschbalten und die russländische Regierungspolitik zu Beginn des 20. Jh.s], Sankt-Petersburg 2008.
Karsten Brüggemann