Peter von Moos (Hg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 23), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, XXVI + 465 S., ISBN 978-3-412-09504-8, EUR 54,90
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Nicht deutlicher könnte die Abkehr von der Gruppe, vom Kollektiv markiert sein als in dem nachhaltigen Interesse, das die Forschung seit geraumer Zeit (wieder) an Themen bekundet, die um das Ich, das Selbst oder das Eigene kreisen. Titel und Frequenz der Neuerscheinungen sprechen für sich: 'Texts and Self' (1996), 'Identität' (1996), 'L'individu dans la théorie politique et dans la pratique (1996), 'Die Entdeckung des Individuums' (1997), 'Individuum und Individualität (1997), 'Crossing Boundaries' (1999), 'Entdeckung des Ich' (2001), 'Metamorphosis and Identity' (2001), 'Das Eigene und das Ganze' (2002), 'L'individu au moyen âge' (2004) etc.
Peter von Moos, der Herausgeber des Sammelbandes, ist nicht an den mittelalterlichen "Regungen" des Individuums interessiert, die die Mediävistik seit den 1970er-Jahren wiederholt gegen Jakob Burckhardt ins Felde geführt hat. Sein Augenmerk gilt, der Titel ist Programm, den Methoden der Identifikation und den Kriterien, an denen vergangene - er nennt sie vormoderne - Gesellschaften Individualität maßen. Von Moos ist kein Historiker, sondern ein Textexperte. Qua Profession weiß er, dass die Welt der Texte - der Sand, auf dem auch die Geschichtswissenschaft baut - der von vielen gewünschten Eindeutigkeit entbehrt. Den theoretischen Rahmen setzen bekannte Namen (Luhmann, Luckmann, Simmel etc.). Von Moos kennt die Schwächen der Theorie, die das Mittelalter zur "problemlosen, statischen und sogar etwas langweiligen Kontrastfolie" verkümmern lassen (3). Dennoch nimmt er ihre Herausforderung als "heuristischen Anachronismus" an (2). Seine Ausgangslage ist die schon im Mittelalter verbreitete Einsicht, dass kein Mensch dem anderen gleicht, und dass diese Ungleichheit das wirkliche Wunder der Schöpfung sei. Es geht eben um Unverwechselbarkeit als Teil von Identität. Ja, von Moos geht noch einen Schritt weiter und erhebt die "Eigenschaft der Identität als Unwiederholbarkeit" zu einem "universalen Merkmal menschlicher Existenz" (10).
Das Themenangebot, das er den Tagungsteilnehmern im Vorfeld an die Hand gegeben hat, ist breit, zu breit, als dass alle Vorschläge hätten berücksichtigt werden können (23f.): Identifikationsmittel, der Körper als Träger von religiösen, sozialen oder individuellen Marken, das Tier als bester Freund des Menschen, Namengebung und Namensnennung, Sozialisation und vieles mehr. Nicht alle Themenbereiche sind gleich gut beziehungsweise schlecht erforscht. Einen Einblick in den Forschungsstand gewährt die lange Liste gleichwohl nicht. Von besonderem Interesse ist für von Moos die Frage des sozialen Werdens, die Frage der Sozialisation: "Nach welchen gesellschaftlichen Kriterien, Normen oder Werten wird ein Individuum zu einer Person und danach als dieses und kein anderes erkannt?" "Und wie kann sich diese Person", fragt er weiter, "als sich selbst ausweisen und auf ihre ihr anerzogene und zu eigen gemachte Ich-Instanz berufen?" Schade, dass im Sammelband sonst nirgends mehr von Sozialisation die Rede ist. Auch andere zentrale Themenfelder fehlen, wie unter anderen die im spätmittelalterlichen Reformkontext erbittert geführte Diskussion über den Eigenwillen. Und weshalb bleibt die Kunstgeschichte außen vor? Sollte ihr das Thema Unverwechselbarkeit etwa fremd sein?
Der Sammelband ist in zwei große Themenblöcke unterteilt. Im ersten Teil sind Beiträge zusammengefasst, die sich dem Bereich Identifikation beziehungsweise Identifikationsmethoden zuordnen lassen, im zweiten solche, die um das Thema Identität und Identitätskriterien kreisen. Zur Diskussion stehen, was den ersten Themenblock, die Identifikation, anbelangt, vornehmlich (aber nicht ausschließlich) sichtbare Dinge, Zeichen: Kleidung, Narben, Gewalt in Gestalt körperlicher Verstümmelungen oder übler Nachrede, Siegel, Anredeformen beziehungsweise die Verwendung von Abstraktionen (eure Gnade, eure Heiligkeit, eure Milde). Die Beiträge bestechen, weil sie oft unerwartete Wege beschreiten.
An vestum virum facit? Peter von Moos interessiert sich bei der mittelalterlichen Kleiderfrage nicht für die "feinen Unterschiede". In den Blickpunkt seiner Aufmerksamkeit rückt er die Diskussion mittelalterlicher Gelehrter über das Problem von Sein und Schein, Hülle und Inhalt (123-146). Brigitte Miriam Bedos-Rezak wiederum interessiert sich nicht dafür, wie das Siegel funktioniert, sondern für den sich wandelnden Bezug zwischen Siegel und Person (63-83). Gegen Ende des 13. Jahrhunderts verliere das persönliche Siegel rapide seine Bedeutung als Möglichkeit der Selbstdarstellung. Das Siegel erstarre. Damit sei gleichermaßen das Ende einer Formel "besiegelt" (83). Auch die Abstraktion als Anredeform liest Giles Constable nicht als Spiegel sozialer Fremd- und Eigenpositionierungen. Constable hebt in Abgrenzung zu vielen anderen Autoren vielmehr die Offenheit und Beweglichkeit des hochmittelalterlichen Anredesystems hervor, bevor es in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handbüchern für Berufsschreiber erstarrte (99-122).
Authentizität, Autorität und Identitätswechsel stehen, wie angedeutet, im Mittelpunkt des zweiten, der Identität gewidmeten Themenblocks. Christel Meier diskutiert das Problemfeld am Beispiel des neuen Autortypus, der sich gegen Ende des 11. Jahrhunderts auszubilden begann (207-266). Zur Diskussion stehen Autoren wie Othlo von Sankt Emmeram, Guibert von Nogent, Rupert von Deutz, Elisabeth von Schönau und Hildegard von Bingen. Christian Kiening beleuchtet die Identitätsproblematik aus dem Blickwinkel der "kulturellen Überläufer" (85-97). Gemeint sind unter anderem Gefangenschaftsberichte wie die berühmte Historia Georgs von Ungarn. Renate Lachmann beschäftigt sich mit der Randfigur des Narren in Christo als, wie sie es nennt, christliche "Verstellungspraxis" (379-410). Zur Diskussion stellt sie die identitätstilgende Kraft des christlichen Glaubens. Das Thema greift auch Adriano Prosperis in seinem Beitrag 'Taufe und Identität im Mittelalter' auf (325-354). Es wäre indessen wünschenswert gewesen, der Autor hätte sich auch mit den in den liturgischen Handbüchern vorgezeichneten rituellen Dimensionen der Taufe (unter anderem mit den Exorzismen) befasst.
Dessen ungeachtet ist der Sammelband ein gelungenes Stück postmoderner Geschichtsschreibung, soweit man das Epitheton "postmodern" überhaupt noch gebrauchen darf. Er besticht und überzeugt durch seine Themenvielfalt und seinen Facettenreichtum.
Gabriela Signori