Rezension über:

Manuela Böhm / Jens Häseler / Robert Violet (Hgg.): Hugenotten zwischen Migration und Integration. Neue Forschungen zum Refuge in Berlin und Brandenburg, Berlin: Metropol 2005, 280 S., ISBN 978-3-936411-73-7, EUR 19,00
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Rezension von:
Ulrich Niggemann
Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Niggemann: Rezension von: Manuela Böhm / Jens Häseler / Robert Violet (Hgg.): Hugenotten zwischen Migration und Integration. Neue Forschungen zum Refuge in Berlin und Brandenburg, Berlin: Metropol 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/8248.html


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Manuela Böhm / Jens Häseler / Robert Violet (Hgg.): Hugenotten zwischen Migration und Integration

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Themen im Umfeld der Flucht der Hugenotten aus Frankreich und ihrer Ansiedlung in Europa und Übersee erfreuen sich des anhaltenden Interesses der historischen Forschung. Angesichts aktueller migrationspolitischer Probleme und Fragestellungen verwundert dieses Interesse nicht. Die Bedeutung des Themas in nationalstaatlicher wie auch europäischer Perspektive wird dementsprechend auch von den Herausgebern des zu besprechenden Sammelbandes hervorgehoben (10f.).

Hervorgegangen ist der Band aus einer Tagung, die im Juli 2004 anlässlich des dreihundertjährigen Jubiläums der Berliner Friedrichstadtkirche gemeinsam von der französischen Kirche in Berlin, der Universität Potsdam und dem Forschungszentrum Europäische Aufklärung veranstaltet wurde. Vorgelegt werden vierzehn in deutscher und französischer Sprache verfasste Beiträge, die zum Teil Berichte aus laufenden oder kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekten und Qualifikationsarbeiten darstellen. Den französischen Beiträgen ist jeweils ein deutsches Resümee beigefügt.

Die drei Hauptabschnitte widmen sich dem Übergang der Réfugiés von Flüchtlingen zu Bürgern, ihrer Sprache und Bildung sowie der geistigen Integration im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Diesen Abschnitten vorangestellt ist die informative Darstellung Robert Violets zur Entwicklung des Archivs am Französischen Dom, das sich als Depositalarchiv fast aller französisch-reformierten Gemeinden in Berlin-Brandenburg in den letzten fünfzehn Jahren zu einer zunehmend frequentierten Forschungsstätte für das brandenburgisch-preußische Refuge entwickelt hat und trotz mancher Verluste über einen reichen Quellenbestand verfügt.

Im ersten Abschnitt geht es um die geografische und soziale Herkunft der Réfugiés (Emilie Coque, Fred W. Felix), die demografische Entwicklung der Kolonien (François David) und die Faktoren des Akkulturations-, Integrations- und Assimilationsprozesses in komparatistischer Perspektive (Susanne Lachenicht). Insbesondere bei den Versuchen, anhand serieller Quellen wie der Sterberegister und Kolonielisten die innere Zusammensetzung und Entwicklung der Kolonien zu rekonstruieren (Emilie Coque, François David), konnten interessante Ergebnisse erzielt werden, wobei allerdings die Studie von François David in ähnlicher Form bereits publiziert wurde. [1] Es ist weniger die von François David in drei Phasen eingeteilte Bevölkerungsentwicklung der insgesamt 48 brandenburgisch-preußischen Kolonien, die sich als besonders bemerkenswert erweist, als vielmehr die damit abgeglichene Entwicklung der Abendmahlsteilnahme, die bis 1725 relativ stabil blieb, danach aber deutlich abnahm. Dabei sind zwei Tendenzen zu beobachten: Einerseits erfolgte eine Hierarchisierung der vier Abendmahlsfeiern im Jahr, andererseits ein zunehmendes Übergewicht der weiblichen Kommunikanten, dessen Gründe noch unklar sind (François David).

Eine Sonderstellung unter den Beiträgen nimmt wegen seines vergleichenden Ansatzes der Aufsatz von Susanne Lachenicht ein, die am Beispiel Londons, Dublins und Berlins nach dem Einfluss der staatlichen Immigrationspolitik auf den Integrationsprozess fragt. Dass sich im Hinblick auf die Entwicklung der Mischehen und der konfessionellen Identität trotz der ausgeprägten Privilegienpolitik der Hohenzollern, die den Hugenotten eine Existenz in geschützten und aus dem einheimischen Rechts- und Kirchengefüge ausgenommenen Kolonien zusicherte, und trotz des in England und Irland bestehenden stärkeren Konformitätsdrucks "keine markant schnellere Assimilierung" (52f.) in London und Dublin feststellen lasse, ist eines der Ergebnisse von Lachenicht. Höherer Konformitätsdruck konnte auch zu Abwehrreaktionen führen, die gerade eine Konservierung der Gruppenidentität zur Folge gehabt hätten.

Der zweite Hauptabschnitt gilt der Untersuchung des Übergangs der Réfugiés zur deutschen Sprache, wobei den hugenottischen Gemeindeschulen eine besondere Bedeutung zukam. Die Entstehung eines eigenen hugenottischen Schulwesens wird von Franziska Heusch auf die in der ersten und zweiten Generation der Kolonisten bestehenden sprachlichen und konfessionellen Barrieren zu den Einheimischen zurückgeführt, während Laure Gravier in der Erhaltung der französischen Sprache das Hauptmotiv sieht (167f.). Für Heusch hingegen wurde die Schule erst dann zu einer Institution der Bewahrung hugenottischer Identität und Sprache, als sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein zunehmender Verlust derselben einstellte.

Bei der Untersuchung der Sprachentwicklung in der Kolonie Strasburg in der Uckermark zeigt sich deutlich, dass der Sprachwechsel nicht nur in Stadt und Land unterschiedlich verlief, sondern dass darüber hinaus auch die Faktoren Mündlichkeit / Schriftlichkeit wie auch die Frage der Textsorten eine Rolle spielten. So nutzte man interessanterweise bei formellen Anlässen noch häufig das Französische, als man in privaten und inoffiziellen Schriftstücken schon zur deutschen Sprache übergegangen war (Manuela Böhm). Im Zuge der napoleonischen Kriege konnte die Sprache auch zum Ausdruck nationaler Zugehörigkeit werden, wie Frédéric Hartweg anhand von Auseinandersetzungen innerhalb der Kolonie zeigen kann. Von einem "Paradoxon des Refuge" spricht Gravier (170), denn einerseits habe das Festhalten an der französischen Sprache Abgrenzung bedeutet, während es zugleich für die Karrierechancen am Hof zum Kapital habe werden können. Deshalb blieb das Französische Gymnasium in seiner Funktion als Ort der Elitebildung erhalten.

Die Untersuchungen im dritten und letzten Abschnitt werden zunächst am Beispiel von Einzelpersonen wie den Predigern Gaultier de Saint Blancard (Hubert Bost), Abbadie, d'Artis oder Beausobre (Christiane Berkvens-Stevelinck) sowie dem Physiker Paul Erman, dessen originellen Lebensweg und Offenheit für verschiedene kulturelle Milieus Viviane Rosen-Prest skizziert, vorgenommen. Den Vorgang der Loyalitätsübertragung von Ludwig XIV. auf den Kurfürsten von Brandenburg versucht Hubert Bost am Beispiel Gaultiers nachzuvollziehen. Die Ereignisse im Vorfeld der Flucht Gaultiers werden allerdings ausschließlich aus einer zur Veröffentlichung bestimmten Darstellung Gaultiers selbst sowie einer Familiengeschichte rekonstruiert, wodurch Gaultiers subjektive und zudem rechtfertigende Interpretation unkritisch übernommen wird. Der Versuch, seine Loyalitätsübertragung aus diesem Werk, aus dem ausgiebig zitiert wird, zu verstehen, ist ebenfalls nicht überzeugend, da Bost auch hier den rechtfertigenden Charakter der Schrift verkennt, die eben keine persönliche Reflexion Gaultiers darstellt, sondern auf öffentliche Wirkung abzielt.

Der Vermittlung von Ideen und der Funktion der Hugenotten als Schaltstelle zwischen der Berliner und der europäischen Aufklärung widmen sich die Beiträge von Christiane Berkvens-Stevelinck und Jens Häseler. Beide betonen die wichtige Rolle der Réfugiés in diesem Ideenaustausch. Explizit lehnt Häseler den Begriff der "geistigen Assimilation" ab und plädiert für das Denkmodell einer gegenseitigen Beeinflussung. Fehler und Widersprüche fallen in dem Beitrag von Christiane Berkvens-Stevelinck ins Auge: Jacques Abbadie, der ihr zu Folge erst 1694 nach Berlin gekommen sei, habe die Stadt bereits 1688 wieder verlassen, und d'Artis sei 1685 von Berlin fortgegangen. Beide lassen sich in den Presbyterialprotokollen aber bis 1690 nachweisen; Abbadie ist zudem schon 1680 in Berlin zum Pfarrer berufen worden. [2]

Insgesamt ist es den Herausgebern gelungen, ein Panorama neuerer Forschungen zum Refuge vorzulegen. Dass dabei vieles vorläufig bleibt und zahlreiche Fragen aufgeworfen werden, ist keineswegs als Defizit zu werten, sondern gehört zu den Anregungen, die der Band enthält. Die bereits genannten kleineren Mängel einzelner Beiträge stören den positiven Gesamteindruck kaum. Man vermisst jedoch in einem Band, der wesentlich dem Integrationsprozess gewidmet ist, einen Beitrag zu den im Zuge der Hugenottenansiedlung zu beobachtenden Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung. Etwas unpassend wirkt der sehr stark für die reformierte Kirche werbende Text von Tilman Hachfeld am Ende des Sammelbandes.


Anmerkungen:

[1] François David: Les colonies des réfugiés protestants français en Brandebourg-Prusse (1685-1809): institutions, géographie et évolution de leur peuplement, in: Bulletin de la Société d'histoire du Protestantisme français 140 (1994), 111-142; ders.: Refuge Huguenot et Assimilation: Le cas de la colonie française de Berlin, in: Eckart Birnstiel (Hg.): La Diaspora des Huguenots, Paris 2001, 75-97.

[2] Archiv am Französischen Dom Rep. 04 Nr. 2400, fol. 1', 102'-103.

Ulrich Niggemann