Rezension über:

Henning P. Jürgens / Thomas Weller (Hgg.): Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Beiheft 81), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 419 S., ISBN 978-3-525-10094-3, EUR 65,00
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Rezension von:
Ulrich Niggemann
Fachgebiet Neuere Geschichte, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Niggemann: Rezension von: Henning P. Jürgens / Thomas Weller (Hgg.): Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 [15.01.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/01/18678.html


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Henning P. Jürgens / Thomas Weller (Hgg.): Religion und Mobilität

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Migrationshistorische Studien zur Frühen Neuzeit haben in den letzten Jahren eine enorme Konjunktur erfahren. Freilich, so betonen die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, der die Ergebnisse einer im Februar 2009 am Mainzer Institut für Europäische Geschichte durchgeführten Tagung dokumentiert, zu Recht, konzentriert sich ein Großteil der Arbeiten auf die "Konfessionsmigration", namentlich auf die erzwungene Auswanderung größerer konfessionell definierter Gruppen wie etwa der Hugenotten oder der Salzburger. Daneben existiert inzwischen eine Reihe von sozialgeschichtlich geprägten Arbeiten, etwa zur Arbeitsmigration, in denen jedoch Religion weniger im Mittelpunkt des Interesses steht. Demgegenüber setzt sich der vorliegende Sammelband das Ziel, ausgehend von einem weitgefassten Mobilitätsbegriff das Wechselspiel von Religion und Wanderung in den Blick zu nehmen.

In der Konsequenz führt dies zu einer beträchtlichen Erweiterung gegenüber bisherigen Ansätzen. So wird etwa nach der Erfahrung von Reisenden, Kriegsgefangenen und Exilanten in fremdkonfessioneller Umgebung gefragt, nach durch Mobilität bedingten oder beeinflussten Konversionen sowie nach religiösen Identitätszuschreibungen. Dabei treten nicht nur christliche Konfessionsgemeinschaften, sondern auch Juden und Muslime als Wandernde wie auch als lokale Machthaber in den Blick.

Selbstverständlich beschäftigt sich auch in diesem Band eine Reihe von Beiträgen mit größeren Gruppen, die aufgrund von Konformitätsdruck und/oder Vertreibungen ihre Heimat verlassen mussten. Viele von ihnen waren nicht nur in ihrer Heimat religiöse Außenseiter gewesen, sondern blieben es auch nach ihrer Emigration. So zeigt Henning P. Jürgens in seinem Beitrag anhand der "Simplex et fidelis narratio" von Jan Utenhove die Probleme auf, mit denen eine aus London ausgewanderte reformierte Flüchtlingsgruppe in Dänemark und Norddeutschland vor dem Hintergrund des zweiten Abendmahlsstreits konfrontiert war. Susanne Lachenicht beschäftigt sich mit hugenottischer Identität in Frankreich und in den Ländern des Refuge sowie mit der Bewahrung derselben in einer fremdsprachigen und fremdkonfessionellen Umgebung. Auserwähltheitsvorstellungen und ökonomische Leistungsfähigkeit spielten schon in Frankreich eine wichtige Rolle für die Identitätkonstruktion der Hugenotten. Im Refuge fungierten Mitglieder der Eliten unter den "Réfugiés" als "gate keepers", als Bewahrer von Orthodoxie und Gruppenidentität. Dem Vergleich zwischen zwei Gruppen, den sephardischen Juden und den niederländischen bzw. französischen Calvinisten, widmen sich die Beiträge von Heinz Schilling und Klaus Weber. Weber stellt dabei am Beispiel Hamburgs heraus, dass beide Gruppen sehr ähnliche Wirtschaftssektoren besetzten, wobei die Sepharden bereits vor der Ankunft der Hugenotten aufgrund von Anfeindungen diese Positionen aufgaben und für die Hugenotten freimachten. Er weist dabei auch auf die makroökomischen Zusammenhänge etwa im Bereich der Lohnentwicklung und damit auf wirtschaftliche Motive bei der Wahl des Ansiedlungsortes hin.

Noch wenig erforscht sind sowohl die Wanderungsbewegungen innerhalb des Luthertums wie auch von Katholiken. Anhand von Bartholomäus Gernhards Schrift "De Exiliis" untersucht Vera von der Osten-Sacken die Mobilität von Lutheranern im Zuge der innerlutherischen Konflikte in Sachsen. Bettina Braun widmet sich katholischen Emigranten, wobei sie neben einer Reihe von Gemeinsamkeiten auch einige wichtige Unterschiede zu protestantischen Konfessionmigrationen herausarbeitet. So stellt sie etwa fest, dass es eben kein mit der Aufhebung des Edikts von Nantes oder der Ausweisung der Salzburger Protestanten vergleichbares medienwirksames Ereignis gab. Trotz der zweifellos richtigen Feststellung, dass das grundsätzliche Ideal konfessioneller Homogenität bei allen Konfessionen gleichermaßen nachzuweisen ist, stellt sich doch die Frage, ob nicht in der Praxis protestantische Herrschaften eher bereit waren, religiöse Minderheiten zu dulden, und wenn ja, warum. Ein anderer wichtiger Unterschied, der sich auf das Leben in der Fremde bezieht, liegt in der Struktur der katholischen Kirche. Während protestantische Emigranten ein dichtes Netzwerk von Diasporagemeinden schufen, gingen die katholischen Flüchtlinge zumeist in der im Aufnahmeland existierenden Hierarchie der katholischen Kirche auf.

Eine Reihe von Beiträgen beschäftigt sich mit individuellen Reisenden. Bei dem Danziger Kaufmannssohn Martin Gruneweg, der von Almut Bues untersucht wird, geht es um die Geschichte einer Konversion in der Fremde, bei Johann Avontroot hingegen um die Entwicklung eines protestantischen Missionseifers. Thomas Weller weist hier auf die Repressionen hin, denen protestantische Kaufleute im spanischen Herrschaftsgebiet ausgesetzt sein konnten, doch wird auch deutlich, dass es der Inquisition eher um die Unauffälligkeit der Protestanten ging als um deren innere Glaubensüberzeugung. Obwohl früh im Blick der Inquisition, konnte Avontroot solange unbehelligt Geschäfte treiben, bis er in die Offensive ging und sogar Versuche unternahm, den spanischen König zum reformierten Glauben zu bekehren.

Mit den Beiträgen von Christian Windler und Felix Konrad rücken auch Christen in muslimischer Umgebung in den Blick. Während Windler zeigen kann, dass Christen unterschiedlicher Konfession in der fremdreligiösen Umgebung des Safavidenreichs näher zusammenrückten, thematisiert Konrad Konversionen zum Islam. Insbesondere für Kriegsgefangene und Sklaven konnte die Konversion zum sozialen Aufstieg innerhalb des osmanischen Reiches führen. Mit Kriegsgefangenen in fremdkonfessioneller Umgebung beschäftigt sich auch der Beitrag von Marian Füssel, der anhand von Einzelbeispielen aus dem Siebenjährigen Krieg zu dem Schluss gelangt, dass trotz der Religiosität der meisten Soldaten ein pragmatischer Umgang mit der jeweils anderen Konfession vorgeherrscht habe. Schließlich thematisiert Matthias Asche eine Gruppe, die aufgrund der Strukturmerkmale der frühneuzeitlichen Universität eigentlich nicht für ihre Mobilität bekannt ist, nämlich die Professoren. Im Zuge der konfessionellen Vereinheitlichung der Universitäten kam es jedoch durchaus zu Wanderungsbewegungen innerhalb der Professorenschaft, auch wenn nicht alle Landesherren von Anfang an zur konsequenten "Säuberung" ihrer Universitäten tendierten. Beiträge zur Hybridität von Kunst in Neuspanien, zu jüdischen Konvertiten, der Geschichte der Glückel von Hameln und den Moriscos in Spanien runden den Band ab.

Insgesamt fällt auf, dass ein beträchtlicher Teil der Beiträge einen stark biographischen oder an Einzeltexten ausgerichteten Zugriff wählt, wobei insbesondere Selbstzeugnisse im Mittelpunkt stehen. Die bereits von den Herausgebern hervorgehobene Unmittelbarkeit dieser Quellen macht sicher den Reiz des Ansatzes aus, jedoch stellt sich in einigen Fällen die Frage, inwieweit das Material Repräsentativität beanspruchen kann bzw. welchen Nutzen die Einzelbeobachtungen tatsächlich für die Forschung haben. Gerade bei der Analyse von individuellen Narrativen wird zudem nicht immer klar, inwieweit die Identitätskonstruktionen und Selbstzuschreibungen auf tatsächlich gemachten Erfahrungen oder auf Topoi beruhen.

Die thematische Breite des Bandes birgt zudem die Gefahr eine gewissen Beliebigkeit und des Verlusts eines konzeptionellen Kerns - ein Problem, das freilich viele Tagungs- und Sammelbände betrifft. Damit soll aber keineswegs der Nutzen der zahlreichen Einzelerkenntnisse, der aufgezeigten Forschungsdesiderate und der vielfach neuen Perspektiven in Abrede gestellt werden. Insgesamt liegt hiermit ein anregender und in mancherlei Hinsicht sicher auch wegweisender Band vor.

Ulrich Niggemann