Kirsten Mahlke: Offenbarung im Westen. Frühe Berichte aus der Neuen Welt, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2004, 347 S., 8 Abb., ISBN 978-3-596-16235-2, EUR 16,90
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Im Zeitalter der französischen Religionskriege unternahmen führende Vertreter der hugenottischen Partei mehrere Anläufe zur Gründung einer amerikanischen Kolonie, die ihren Glaubensgenossen als Zufluchtsstätte dienen sollte. Ein Kolonisationsversuch in Brasilien scheiterte jedoch am Widerstand der Portugiesen, und der französische Außenposten in Florida wurde 1565 von einer spanischen Flotte zerstört. Den Bemühungen um eine Siedlungsgründung in Kanada war nach mehreren vergeblichen Anläufen erst mit der Gründung Quebecs im Jahre 1608, also nach Beendigung der Religionskriege, ein dauerhafter Erfolg vergönnt. Was von den gescheiterten Koloniegründungen der Hugenotten bleibt, ist eine Reihe von Reiseberichten, die aufgrund ihrer Anschaulichkeit und ihrer Fülle an ethnografischen Informationen immer wieder das Interesse von Literaturwissenschaftlern, Ethnologen und Historikern auf sich gezogen haben. Vor allem die Arbeiten Frank Lestringants zu den hugenottischen Texten über die Neue Welt haben in der internationalen Forschung ein starkes Echo gefunden. Die Romanistin Kirsten Mahlke knüpft mit ihrer Studie, der eine 2002 an der Universität Frankfurt am Main abgeschlossene Dissertation zu Grunde liegt, an diese kulturwissenschaftlichen und ethnohistorischen Forschungen an, fokussiert ihre Analyse aber auf die Frage nach dem "Zusammenhang zwischen Reiseliteratur und reformiertem Schrifttum im 16. Jahrhundert" (12). Es geht der Verfasserin um die Einbindung der hugenottischen Amerikaberichte "in den reformatorischen Kampf um die Schrift und die Wahrheit, ihre theologische Instrumentalisierung und ihre Relevanz für den Versuch der politisch-religiösen Überwindung der Spaltung Frankreichs" (20).
Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil "Protestantisches Schreiben" untersucht Schriftverständnis und Geschichtsbild der französischen Reformierten, ihre Konstruktion einer spezifischen Martyrologie, die körperliches Leiden mit wahrer Religiosität verband, und den reformierten Psalmengesang, der - wie eine Analyse des Kapitels über die Religion der Tupinambá-Indianer im Brasilienbericht Jean de Lérys zeigt - in der hugenottischen Reiseliteratur eine große Rolle spielte (65-83). Mahlke zufolge diente die Schriftkultur den Protestanten durchweg als "Mittel im Hegemonialkampf der Konfessionen" (27): der Schriftlosigkeit der amerikanischen "Wilden" und der mündlichen Tradition der Katholiken setzten sie ihre Forderung nach sola scriptura entgegen. Reformierte Geschichtsschreibung und Reiseliteratur hatten primär die Funktion, "Gottes Ehre zu bezeugen, den defizitären Charakter des Menschen im Spiegel des Anderen zu entlarven und zu Christus zurückzuführen" (34). Vor dem Hintergrund der konfessionellen Auseinandersetzung in Frankreich war selbst der indianische Kannibalismus mehr als ein exotisches Kuriosum aus einer fremden Welt, denn aus hugenottischer Sicht waren die Katholiken, die an die Transsubstantiation glaubten und in den Religionskriegen brutale Massaker verübten, letztlich schlimmere Kannibalen als die Indianer (56-61).
Die Analyse der Formen und Eigenheiten protestantischen Schreibens wird in den folgenden drei Teilen über Florida (II), Brasilien (III) und Kanada (IV) durch konkrete Textlektüren vertieft. Anhand der Berichte der Führer der Kolonie in Florida, Jean Ribaut und René de Laudonnière, zeichnet Mahlke die ambivalenten ersten Begegnungen mit den Timucúa-Indianern nach. Der protestantische Erwähltheitsgedanke äußerte sich bei Laudonnière besonders deutlich, wenn er angesichts einer kritischen Lage der Franzosen den plötzlichen Einbruch göttlicher Zeichen schilderte (114 f.). Der Bericht des Nicolas le Challeux über den Angriff der Spanier auf die französische Siedlung im September 1565 schließlich orientierte sich stark am Buch Exodus und nahm somit "den Charakter eines Bekenntnisses von Schuld und Sühne des Autors vor Gott" an (120).
Der gelungenste Teil des Buches interpretiert Jean de Lérys Brasilienbericht im Kontext der zeitgenössischen Karnevalsliteratur: Indem Léry "die Neue Welt in den bunten Farben des Karnevals" schilderte und die Tupinambá-Indianer als Narren darstellte, wollte er nicht nur seine Leser zum Lachen bringen, sondern auch die europäische Gesellschaft seiner Zeit als die "eigentlich verkehrte Welt" entlarven (153). In einer gelungenen Verknüpfung eigener Textlektüre mit religionsgeschichtlichen und kulturanthropologischen Forschungen weist Mahlke nach, dass religiöse Polemik, karnevaleske Übertreibung und Fremdbilder über die Neue Welt im Kannibalismusdiskurs des 16. Jahrhunderts eine enge Verbindung eingingen (177). Die 1609 erschienene Histoire de la Nouvelle France des christlichen Hebraisten Marc Lescarbot schließlich deutet die Verfasserin als Versuch, die konfessionellen Spannungen in Frankreich zu überwinden. Aus seiner Beschäftigung mit der hebräischen Sprache und der Kabbala heraus konstruierte Lescarbot die Vision einer besonderen historischen Sendung Frankreichs, und das nordamerikanische Neu-Frankreich wurde für ihn zu einer "politisch-religiösen Utopie", von der die Erneuerung der Nation ihren Ausgang nehmen sollte (201). In den kanadischen Indianern sah Lescarbot einen "Spiegel der eigenen Wurzeln" (227): Wie andere frühneuzeitliche Autoren hielt er sie für Nachfahren des Volkes Israel und leitete daraus ihre Entwicklungsfähigkeit sowie eine historische Kontinuität zwischen Indianern und Franzosen ab.
In einem kurzen Schlusskapitel kommt Mahlke nochmals auf einen Text zu sprechen, der im Kontext des französischen Florida-Unternehmens entstand. Sie zeigt, dass der Bericht des Kapitäns Dominique de Gourgues über einen Rachefeldzug, den er selbst 1568 gegen die Spanier anführte, welche die Hugenottenkolonie in Florida zerstört hatten, sämtliche Merkmale protestantischen Schreibens wie in einem Brennglas bündelte, um dann ihre Leser mit der Feststellung zu überraschen, dass de Gourgues ein überzeugter Katholik war. So bleibt am Ende dieser intelligenten und über weite Strecken spannend zu lesenden Studie die Erkenntnis, dass die Analyse der französischen Amerikaberichte als Teil eines protestantischen Diskurses zwar zu neuen Einsichten führt, aber auch neue Fragen aufwirft.
Mark Häberlein