G. J. Reinink / B.H. Stolte et al. (eds.): The Reign of Heraclius (610-641). Crisis and Confrontation (= Groningen Studies in Cultural Change; Vol. II), Leuven: Peeters 2002, 319 S., ISBN 978-90-429-1228-1, EUR 45,00
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Das 7. Jahrhundert hat über Jahrzehnte hin ein Schattendasein in der byzantinistischen Forschung geführt, wobei die Hauptursache für diese Vernachlässigung wohl in der schmalen und komplizierten Quellenbasis liegen dürfte. In den letzten Jahren konnten allerdings gerade auf diesem Gebiet entscheidende Fortschritte erzielt werden, die nunmehr auch einen neuen Blick auf den Beginn der so genannten Dark Ages der byzantinischen Geschichte ermöglichen. [1] Nicht nur aus der Perspektive einer personalisierenden Kaisergeschichte gerät dabei unweigerlich die Person des Kaisers Herakleios in das Zentrum der Betrachtung [2], gilt doch seine Herrschaft noch immer als eine der zentralen 'Scharnierstellen' in der byzantinischen Geschichte: Während der frühen Jahre des Herakleios stand das Byzantinische Reich aufgrund der persischen Offensiven kurz vor dem Zusammenbruch. Die Perser konnten die nach der Beseitigung des Phokas (602-610) im Reich ausgebrochenen Unruhen dazu nutzen, weite Teile der östlichen und südlichen Provinzen zu besetzen. Insbesondere die Eroberung Jerusalems 614 rief dabei das Entsetzen der christlichen Zeitgenossen hervor. Umso erstaunlicher ist es, dass es Herakleios, der bereits daran gedacht haben soll aufzugeben, zwischen 622 und 628 dennoch gelang, in einer groß angelegten Offensive nicht nur die byzantinischen Gebiete zurückzugewinnen, sondern nun sogar das Perserreich seinerseits an den Rand seiner Existenz zu bringen. Als 630 die Reliquien des Heiligen Kreuzes feierlich nach Jerusalem restituiert werden konnten, ahnte noch keiner der Zeitgenossen, dass nur wenige Jahre später - ab 634 - mit den Angriffen der Araber die nächsten schweren Belastungsproben beginnen sollten, bei denen erneut weite Territorien des Reiches verloren gingen - dieses Mal für immer. Als Herakleios, dessen Herrschaft überdies von persönlichen Tragödien überschattet war, im Jahr 641 starb, war die Lage jedenfalls katastrophal, wie Wolfram Brandes in dem hier anzuzeigenden Band zusammenfassend konstatiert: "The process of de-urbanisation had reached a climax, so that outside Constantinople only very few cities survived. The normal late antique polis had become a small kastron or disappeared completely. The old senatorial aristocracy also disappeared. The rich ruling classes of the cities vanished and so did the social basis for late antique culture. Only the state remained - and, of course, its capital Constantinople, but Byzantium had a hard time surviving" (18).
Der vorliegende Sammelband präsentiert die Referate eines im Jahr 2001 an der Universität Groningen abgehaltenen Workshops über die Herrschaftszeit des Herakleios und entstand parallel zu der neuen Herakleios-Biographie von Walter Kaegi [3]. Anders als in Kaegis Buch, das vorwiegend ereignis- und militärhistorisch angelegt ist, wird die Zeit des Herakleios in diesem Tagungsband allerdings aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, wodurch ein vielschichtiges und facettenreiches Bild entsteht. Die Herausgeber haben dabei versucht, den Fokus auf die Frage zu richten, ob die dramatischen äußeren Ereignisse und die sich in ihrer Folge drastisch verändernden Rahmenbedingungen tatsächlich die radikalen Konsequenzen gezeitigt haben, die in der älteren Literatur zumeist hervorgehoben werden, und ob die Rolle des Kaisers dabei gestaltend oder doch eher reaktiv zu bewerten ist (vgl. bes. X).
Einleitenden Charakter haben die beiden ersten Beiträge: John Haldon (1-16) versucht zunächst gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformationsprozesse sowie Veränderungen in der Reichsverwaltung, die mit Herakleios in Verbindung gebracht wurden, in den Kontext längerer und allgemeinerer Entwicklungen seit dem späteren 6. Jahrhundert einzuordnen und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass unter diesem Kaiser zwar wichtige Neuerungen nachweisbar sind, dass aber nach dem aktuellen Stand der Forschung "Heraclius' actions no longer seem so dramatic" (9). Der Kaiser sei jedenfalls "neither innovator nor reactionary" gewesen (16), sondern müsse im Kontext längerfristiger Prozesse beurteilt werden. Dieser Versuch, herkömmliche Polarisierungen im Urteil über Herakleios zu relativieren, basiert u. a. auf dem Hinweis, dass er nicht - wie immer noch in den meisten Handbüchern und Lexikonartikeln zu lesen ist - als Erfinder der so genannten Themen-Organisation angesehen werden kann, sondern dass es sich dabei um eine spätere Entwicklung handelt - ein Punkt, den auch Wolfram Brandes in seinem anschließenden konzisen, klar gegliederten Überblick über die einzelnen Teilbereiche der Herakleios-Forschung (17-40) mit großem Nachdruck betont (31 f.). Brandes zeigt vor allem die weiterhin bestehenden Forschungslücken deutlich auf (selbst zu zentralen Quellentexten wie dem Geschichtswerk des Johannes von Nikiu befindet sich die Forschung noch in den Anfängen, vgl. 24 f.) und scheut dabei nicht vor klaren Positionierungen auch gegenüber Standardwerken zurück, etwa dem Handbuch zur byzantinischen Geschichte von Georg Ostrogorsky, das sich in Deutschland noch immer großer Verbreitung erfreut, im Hinblick auf Herakleios (und nicht nur in dieser Hinsicht) aber "completely out of date" ist (21).
Die beiden folgenden Beiträge befassen sich mit dem entlegeneren, nicht-griechischen Quellenmaterial zu Herakleios und seiner Zeit: Während James Howard-Johnston (41-62) die Bedeutung der armenischen Historiografie insbesondere für die Beurteilung der Kriege zwischen Byzantinern und Persern im 7. Jahrhundert aufzeigt, analysiert John W. Watt die wichtigsten Tendenzen der syrischen Überlieferung (63-79). Beide Beiträge machen deutlich, dass - bedingt durch die unsicheren äußeren Verhältnisse - in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts verschiedenste eschatologische Spekulationen unter den Byzantinern kursierten, von denen Gerrit J. Reinink in der folgenden Studie einige in den Blick nimmt (81-94). Reinink zeigt am Beispiel der syrischen Alexanderlegende (ca. 630) die Verquickung eschatologischen Schrifttums und politischer Intentionen auf, indem er nachweist, dass Herakleios in eine apokalyptisch gefärbte Alexander-Tradition gestellt und sein Sieg über die Perser als Beginn einer zukünftigen Weltherrschaft des christlichen Byzantinischen Reiches angesehen und in die Zukunft projiziert wurde. Diese Sichtweise stellte offenbar eine Reaktion auf verbreitete Prophezeiungen dar, die mit den Erfolgen der Perser in den frühen Jahren des Herakleios den Beginn des Weltendes verbanden (vgl. bes. 86, 90 f.). Dass eschatologisch-messianische Spekulationen auch bei den jüdischen Bevölkerungsteilen in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt haben, zeigt Wout Jac. van Bekkum u. a. an der persischen Eroberung Jerusalems 614 (die von den Juden zunächst gefeiert wurde und ihnen offenbar kurzfristig die Kontrolle über die Stadt brachte), der Restauration des Christentums in dieser Stadt 617 und den Repressionen gegenüber den Juden durch Herakleios nach seinem Sieg über die Perser (95-112).
Einen Überblick über das Herakleios-Bild in der frühen islamischen Literatur gibt Lawrence I. Conrad (113-156). Der Kaiser erscheint dort in einer ambivalenten Rolle und keineswegs nur als unversöhnlicher Gegner. Conrad arbeitet heraus, dass die islamischen Herakleios-Traditionen sich offenbar seit der mittleren Omajjadenzeit verfestigt haben und großenteils wohl auf das Wirken von al-Zuhri (gestorben 742) zurückzuführen seien - darunter auch ein fiktiver Brief Mohammeds an Herakleios mit der Aufforderung, zum Islam überzutreten (125-130). Was den Aussagewert dieser Texte im Hinblick auf den historischen Herakleios angeht, bleibt Conrad allerdings skeptisch, da sich fiktive Elemente nicht klar von authentischem Material trennen lassen (152-156).
Innerhalb der griechischen Überlieferung besitzen die panegyrischen Dichtungen des Georgios Pisides besonderen Wert; sie werden von Mary Whitby vorgestellt und als Werke gekennzeichnet, die zwar noch die Tradition klassisch-antiker Dichtung erkennen lassen, aber bereits auf die mittelbyzantinische Literatur vorausweisen (157-173).
Dem für Zeitgenossen wohl wichtigsten Ereignis während der Herrschaft des Herakleios widmet sich Jan Willem Drijvers: Der 'restitutio crucis' in Jerusalem im Jahr 630, die vom Verfasser insbesondere auf ihren symbolischen Gehalt im Hinblick auf die kaiserliche Selbstdarstellung untersucht wird (175-190). Drijvers kann zeigen, dass Herakleios sich mit diesem Akt nicht nur gezielt in die Tradition Konstantins I. stellte, sondern dass er überdies Assoziationen an König David zu evozieren suchte und sich in die Nähe zu Christus stellte. Zudem wies die durch die Restitution des Kreuzes inaugurierte neue Ära "important eschatological and apocalyptic overtones" auf (187). In diesen Kontext könnte, so vermutet Drijvers vorsichtig, sogar die Annahme des Titels "pistós en Christó basileús" durch Herakleios im Jahr 629 einzuordnen sein.
Den Entwicklungen im byzantinischen Recht unter Herakleios ist der Beitrag von Bernard H. Stolte gewidmet (191-204), der zunächst auf den eher traditionellen Charakter der vier von diesem Kaiser überlieferten Novellen hinweist, demgegenüber aber bedeutsame Veränderungen im kanonischen Recht erkennt, vor allem im Hinblick auf die unter Herakleios sich verstärkende Tendenz einer Verbindung von kanonischem und säkularem Recht (Nomokanones) und die zunehmende Autorität kirchlicher Würdenträger.
Im Folgenden gibt Peter Hatlie einen Überblick über die monastische Kultur im frühen 7. Jahrhundert (205-226). Jan J. van Ginkel untersucht sodann das Bild des Herakleios in der hagiografischen Literatur (227-240) und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass der Kaiser in dieser Textgattung keine besondere Rolle spielt, dass vielmehr in der Vita des Theodoros von Sykeon sogar der ansonsten als Tyrann geächtete Phokas als legitimer Herrscher erscheint (vgl. bes. 232, 238). Der abschließende Beitrag von Frank R. Trombley untersucht Aspekte der Kriegführung in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts (241-259) und kommt zu dem Ergebnis, dass die Neuerungen auf diesem Sektor nicht allzu bedeutend gewesen seien: "To judge from the surviving evidence it seems doubtful that Heraclius was a successful military reformer, much less an innovator" (258).
Der Sammelband, der durch eine Gesamtbibliografie und ein umfangreiches Register erschlossen wird, stellt einen wichtigen Fortschritt in der Forschung zu Herakleios und dem Byzantinischen Reich in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts dar.
Anmerkungen:
[1] Die wichtigste neuere Monografie zum 7. Jahrhundert, die einen bedeutsamen Fortschritt in der Forschung markiert, stellt ohne Zweifel das Buch von John F. Haldon: Byzantium in the Seventh Century. The Transformation of a Culture, Cambridge, 2. Auflage 1997, dar. Hingewiesen sei aber auch auf die Arbeiten Walter Kaegis, etwa Byzantium and the Early Islamic Conquests, Cambridge 1992; Heraklios and the Arabs, in: Greek Orthodox Theological Review 27 (1982), 109-133, sowie - im Hinblick auf die Verwaltungsgeschichte - das Buch von Wolfram Brandes: Finanzverwaltung in Krisenzeiten. Untersuchungen zur byzantinischen Administration im 6.-9. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002.
[2] Vgl. H. A. Pohlsander: Recent Work on the Emperor Heraclius, in: Byzantion 73 (2003), 547-558.
[3] Walter E. Kaegi, Heraclius. Emperor of Byzantium, Cambridge 2003; vgl. dazu meine Rezension in sehepunkte 4 (2004), Nr. 9; URL: http://www.sehepunkte.de/2004/09/5503.html.
[4] Georg Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, München, 3. Auflage 1963.
Mischa Meier