Vanessa Conze: Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas (= Persönlichkeit und Geschichte; Bd. 165), Gleichen: Muster-Schmidt 2003, 108 S., ISBN 978-3-7881-0156-5, EUR 12,00
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Anita Ziegerhofer-Prettenthaler: Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien: Böhlau 2004, 587 S., 4 s/w-Abb., 1 Karte, ISBN 978-3-205-77217-0, EUR 69,00
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Zumindest in der Geschichtswissenschaft hat "Europa" noch Konjunktur. Ungeachtet aktueller Krisen um die weitere institutionelle und kulturelle Verklammerung Europas hält in der Historiografie ein Trend zu einer europäischen Geschichtsschreibung an, welcher national orientierte Geschichtserzählungen in den Hintergrund drängt und nach europäischen Interaktionsmustern, Kulturtransfers und transnationalen Vergleichen fragt. [1] Im Bannkreis dieser Entwicklung rückt auch die Geschichte der europäischen Integration und der Europa-Idee vermehrt in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen. Richtet sich das Augenmerk auf konzeptionelle Väter und Vordenker Europas, so fällt fast unweigerlich der Name des Grafen Richard Coudenhove-Kalergi, haftet ihm doch der mythisierende Ruf an, mit seiner "Paneuropa"-Bewegung den Grundstein für das vereinigte Europa gelegt zu haben: Schließlich gilt er nicht nur als Vater der Vision von "Paneuropa", sondern auch als einer der "entscheidenden organisatorischen Wegbereiter der europäischen Integration" (Conze, 8).
Die Tübinger Historikerin Vanessa Conze verfasste nun die erste wissenschaftliche Biografie über den Begründer "Paneuropas". Mit einer etwa 100 Seiten umfassenden Studie, die in der Reihe "Persönlichkeit und Geschichte" erschienen ist, will sie den "Anteil 'Paneuropas' und seines Schöpfers Richard Coudenhove-Kalergi an der heutigen europäischen Einheit" (8) herausarbeiten; schließlich gewinne mit der wachsenden Bedeutung der europäischen Integration auch die Auseinandersetzung mit dem historischen Einigungsprozess und seinen Wurzeln an Gewicht. Im Mittelpunkt von Conzes Analyse stehen so Coudenhove-Kalergis Europaidee und dessen Engagement für "Paneuropa".
In knappen Strichen skizziert die Autorin gekonnt Inhalt und Rezeption des Buches, welches zu einem überragenden Verkaufserfolg wurde und den Grafen 1923 in der europäischen Öffentlichkeit schlagartig berühmt machte: Mit "Paneuropa" gelang es Coudenhove, seine Vision eines geeinten Europas prägnant auf den Begriff zu bringen. Geleitet von geopolitischem Kalkül, ging Coudenhove davon aus, dass angesichts des Bedeutungsverlusts Europas gegenüber den aufsteigenden Weltmächten in Ost und West, aber auch mit Blick auf die technische Revolution eine politische und wirtschaftliche Kooperation der europäischen Staaten unumgänglich sei. Auf dieser Basis entstand der Plan eines europäischen Staatenbundes bzw. Bundesstaates, der sowohl das englische Weltreich als auch - Coudenhoves tiefer antikommunistischer Überzeugung folgend - die Sowjetunion ausschloss. Conze arbeitet souverän die Klippen in diesem Konzept heraus: Angesichts der so umstrittenen Pariser Friedensordnung und der Fragilität des internationalen Systems nahm das Projekt "Paneuropa" fast utopischen Charakter an; zudem bemängelten Kritiker an Coudenhoves Überlegungen die Sorglosigkeit in der Formulierung von Zielsetzungen, wie sie in der undifferenzierten Verwendung der Termini Staatenbund bzw. Bundesstaat deutlich wurde, aber auch Coudenhoves Indifferenz gegenüber Staats- und Regierungsformen, welche sich mit elitär-autoritären Ordnungsvorstellungen und einer Annäherung an den italienischen Faschismus vermengen sollte.
Coudenhoves Verdienst war es zweifellos, seiner europäischen Idee auch einen organisatorischen Unterbau zu verleihen: Indem er jedes Exemplar seines Buches mit einer Beitrittskarte zur "Paneuropa"-Union ausstatten ließ, indem er die Gründung nationaler Gruppierungen dieser Union forcierte, ja in massenwirksamer Manier ein eigenes Emblem für "Paneuropa" entwarf - eine goldene Sonne mit einem roten Kreuz -, gelang es ihm, eine "rein intellektuelle Diskussionsebene zu verlassen" (23) und breite Begeisterung für die Bewegung zu wecken. Das internationale Klima nach dem Ende des Ruhrkampfes und dem Beginn der Locarno-Ära war dafür durchaus günstig. Coudenhove bemühte sich abseits dieses massenwirksamen Engagements aber noch stärker um Kontakte zu Regierenden in Europa aus liberalen, sozialdemokratischen und christlichen Parteien, die seiner Idee zum Durchbruch verhelfen sollten. Doch geriet die Union - und dies arbeitet Conze prägnant heraus - durch den rigorosen und autoritären Führungsanspruch Coudenhoves rasch in Bedrängnis: Die deutsche Sektion zerbrach fast an den Konflikten zwischen dem Präsidenten der internationalen "Paneuropa"-Union, zu dem sich Coudenhove per Akklamation hatte wählen lassen, und der Führung der nationalen Union, bis der Graf schließlich die deutsche Organisation handstreichartig der Wiener Zentrale unterordnete. Fast alle Köpfe "Paneuropas" in Deutschland (wie Wilhelm Heile aus der DDP) kehrten der Organisation so den Rücken. In diesem autoritären Führungsstil, aber auch im Kippen der internationalen Atmosphäre infolge der Weltwirtschaftskrise und der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland sieht Conze zu Recht letztlich die Erfolglosigkeit von "Paneuropa" begründet. Zudem verlor Coudenhove weitere Anhänger aus dem liberalen und sozialdemokratischen Lager, indem er sich 1933/34 dem österreichischen autoritären Ständestaat näherte - offenbar im Kalkül, Österreich und den Ständestaat als Antithese zum Nationalsozialismus und als Keimzelle eines neuen Europa zu legitimieren. Erst nach der Rückkehr aus dem Exil, das ihn 1938 in die Schweiz, 1940 in die USA führte, erwarb sich der Graf nochmals europäische Meriten: Die Gründung der Europäischen Parlamentarier-Union sollte dem europäischen Gedanken Ende der Vierzigerjahre tatsächlich Dynamik verschaffen. Gleichwohl hatte "Paneuropa" nun auch Konkurrenz durch andere europäische Organisationen erhalten, die aus Widerstandskreisen hervorgegangen waren oder einfach nach der traumatisierenden Erfahrung durch Diktatur und Weltkrieg ein einiges Europa zwischen den Blöcken herbeisehnten. Dass Coudenhove stets bereit war, seine im Kern schwammige Idee politischer Opportunität zu unterwerfen und diese nach den Vorstellungen derer auszurichten, die ihr zur Durchsetzung verhelfen konnten, zeigte sich nicht erst an der Annäherung an de Gaulles Konzept des "Europas der Vaterländer" in den Sechzigerjahren. Diesen opportunistischen Zug Coudenhoves arbeitet Conze eindrücklich heraus.
Sicherlich konzentriert sich Conze stärker auf das Wirken Coudenhoves für "Paneuropa" und weniger auf seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen, also "ideen- und kulturgeschichtliche Aspekte" seiner Vita. [2] Dennoch erscheint diese Fokussierung völlig legitim: Den Anspruch, Coudenhoves "Paneuropa" in die Geschichte der europäischen Integration einzuordnen, löst die Studie ganz hervorragend ein. Darüber hinaus macht die klare, stringente Argumentation und stilistische Präzision den Band zu einer durchweg Gewinn bringenden Lektüre. Dem Konzept der Reihe, das sich an ein breites Publikum wendet, ist es wohl geschuldet, dass die Monografie über keinen Anmerkungsapparat verfügt. An das Ende der Darstellung rückt aber ein kommentierter Quellen- und Literaturüberblick. Störend wirken so nur formale Probleme, die den Eindruck hinterlassen, das Manuskript sei etwas überhastet in den Druck gegangen: Die Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis und im Text stimmen nicht überein, im Literaturverzeichnis wären noch Angaben zu ergänzen. [3]
Fast zeitgleich mit Conzes Monografie erschien eine weitere, voluminösere Darstellung über Coudenhove-Kalergi und "Paneuropa", eine Habilitationsschrift aus der Feder der Grazer Historikerin Anita Ziegerhofer-Prettenthaler. Diese widmet sich der "Paneuropa"-Bewegung in der Zwischenkriegszeit bis zum Ende des 'Ständestaates' 1938, freilich ausgehend von der Person Coudenhove-Kalergis, die von der Bewegung nicht zu trennen sei. Ihre Arbeit versteht die Autorin als Teil einer "europäischen Politikgeschichte im Sinne einer europapolitischen Ideengeschichte", die mit einem biografischen Zugriff zu verbinden sei. Weil Ziegerhofer-Prettenthaler den Anspruch formuliert, ihre Arbeit habe "ein weiterer Baustein des 'gewollten' Europa zu sein" (14 f.), stellt sie sich explizit in den Dienst einer Konstruktion europäischer Identität, die eine sinnstiftende historische Unterfütterung des europäischen Einigungsprozesses schaffen solle.
Ziegerhofer-Prettenthalers Arbeit gliedert sich in sechs Teile: Auf eine biografische Einordnung Coudenhove-Kalergis, die sich stark an die autobiografischen Werke des "Paneuropa"-Gründers anlehnt, folgt eine Kompilation der programmatischen, organisatorischen und propagandistischen Grundlagen 'Paneuropas'; weitere Kapitel widmen sich in chronologischer Abfolge den Aktivitäten zu Gunsten eines politisch bzw. ökonomisch geeinten Europas. Abgeschlossen wird der Band mit systematischen Zugriffen auf die "geistig-kulturelle" Dimension 'Paneuropas' und den Diskurs mit verschiedenen Ideologien der Zwischenkriegszeit.
Die Stärken der Arbeit von Ziegerhofer-Prettenthaler liegen sicherlich in der detaillierten und quellengesättigten Darstellung der organisatorischen Grundlagen 'Paneuropas'. Im Mittelpunkt stehen die Aktivitäten der "Paneuropa"-Union in Österreich, was durchaus Sinn macht, nahm doch "Paneuropa" von Österreich aus seinen Ursprung, wo Coudenhove in den Zwanziger- und Dreißigerjahren lebte und wirkte, und wo auch die Zentrale der Bewegung beheimatet war. Ferner erfahren die deutsche Sektion und deren bereits angesprochene Konflikte mit Coudenhove breite Aufmerksamkeit; anhand umfangreichen Materials kann die Autorin aufzeigen, wie sehr die Konflikte vom autoritären Führungsstil und der idealistischen, jeder Pragmatik abholden Denkstruktur Coudenhoves geprägt wurden. Erst mit dem Niedergang des "politischen Paneuropa", so Ziegerhofer-Prettenthaler überzeugend, rückte die ökonomische Dimension, also der Plan einer europäischen Zollunion und Wirtschaftskooperation, ins Zentrum der Überlegungen. Gerade in diesen Hauptkapiteln profitiert der Band zweifellos von einer geradezu imposanten Quellengrundlage, kann er doch erstmals auch Akten aus dem Moskauer "Sonderarchiv" heranziehen.
Prägnant arbeitet die Autorin ferner Coudenhoves Anspruch heraus, ein breites Europabewusstsein zu wecken, also europäische Identität durch Einbindung der Jugend, Mythologisierung und Symbolik zu stiften. Nicht immer überzeugen dagegen die Ausführungen zu ideengeschichtlichen Aspekten. Zwar erfolgt gleich zu Beginn eine anschauliche Einordnung der Prägekraft platonischer und nietzscheanischer Rezeptionslinien, welchen die eigenwillige Verbindung von aktivistischen, antimaterialistischen, neoaristokratischen, ständischen und demokratischen Elementen zu Grunde liegt (58 ff.). [4] Doch in der Einordnung der Ideen Coudenhoves in ideologische Strömungen der Zwischenkriegszeit verstrickt sich die Autorin zum Teil in Unklarheiten, die auf einer starken Verhaftung in Coudenhoves Texten und Selbstdarstellungen basieren. Zum Beispiel führt sie aus: "Selbst war er [Coudenhove] aristokratisch gesinnt, mit einem Hang zum Sozialismus und Faschismus, größtenteils im Sinne Platons. Coudenhove bezeichnete ihn als den größten griechischen Sozialisten und hob als besonderes Charakteristikum hervor, dass er dabei Demokrat gewesen war, dessen 'radikalen Sozialismus ein unbedingter Aristokratismus ergänzte'" (448). Ebenso unklar wirken Formulierungen wie: "Coudenhoves Europabild lag die hellenistisch-christliche Denkungsweise und die absolute Respektierung des Freiheitsideals zu Grunde. Aufbauend auf seinem humanistischen Weltbild und auf der Erkenntnis, dass man der neuen Ideologie des Bolschewismus nicht mit dem Kapitalismus allein begegnen könne, forderte der Philosoph Coudenhove schon sehr bald eine neue Weltanschauung" (348). An anderer Stelle freilich hebt Ziegerhofer-Prettenthaler heraus (387), "Ordnung - Autorität - Disziplin" hätten "Coudenhoves Werte" gebildet und somit Parallelen zum italienischen Faschismus eröffnet. Mehrere Wendungen und Ambivalenzen in Coudenhoves Denkstruktur werden in ihren Motiven und ihrer Doppeldeutigkeit nicht recht deutlich: Die Verfemung der Parteien, welcher 1932 der Versuch folgte, "Paneuropa" als Partei zu organisieren (437 ff.), die offenbar positivere Haltung zu liberalen Werten ab Mitte der 30er-Jahre (429 f.), die aber mit der Begeisterung für den österreichischen christlichen Ständestaat ab 1933 eigentlich nicht vereinbar war, sowie die Hinwendung zu einer christlich-romantischen Abendland-Renaissance (353 ff., 492). Welche Brüche lassen sich mit der Zäsur 1933 und der nachhaltigen Wendung gegen den Nationalsozialismus begründen, welche nicht? [5] So nicht nachzuvollziehen ist schließlich die Aussage, der "Bolschewismus" sei nicht Verursacher, aber "Auslöser" des Zweiten Weltkrieges gewesen (374).
Somit bleibt der ideengeschichtliche Teil der Studie Ziegerhofer-Prettenthalers hinter den organisationsgeschichtlichen Kapiteln zurück. Gelungen ist demgegenüber die abschließende Würdigung Coudenhove-Kalergis, die Abwägung von Leistungen und Grenzen im unermüdlichen Wirken für ein einiges Europa. Insgesamt präsentiert der Band ein in seinem Materialreichtum Gewinn bringendes Kompendium zu Coudenhove-Kalergi und der "Paneuropa"-Union in der Zwischenkriegszeit, welches Biografie und politik- bzw. organisationsgeschichtliche Aspekte profund verbindet, aber um weitere ideengeschichtliche Analysen zu ergänzen wäre.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Johannes Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ 267 (1998), 649-685; ferner Wolfgang Schmale: Geschichte Europas, Wien u.a. 2000; Michael Salewski: Geschichte Europas. Staaten und Nationen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2000; Gunther Mai: Europa 1918-1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart / Berlin / Köln 2001; Walther L. Bernecker: Europa zwischen den Weltkriegen 1914-1945, Stuttgart 2002.
[2] So Alexandra Gerstner in ihrer Besprechung des Bandes, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-165.
[3] Die Zeitschrift "Paneuropa" erschien bis 1938, nicht bis 1933, vgl. auch Ina Ulrike Paul: Die Paneuropa 1933-38 und Coudenhove-Kalergi: Ein "getreues Spiegelbild seines Denkens und Wollens und Wirkens", in: Michel Grunewald in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock (Hrsg.): Le Discours européen dans les revues Allemandes / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939), Bern u.a. 1999, 161-193. Zu ergänzen wäre auch der vor Conzes Monografie erschienene Aufsatz von Anita Ziegerhofer-Prettenthaler: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, in: John M. Spalek u.a. (Hrsg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. III, München 2003, 3-26.
[4] Vgl. hier Anne-Marie Saint-Gille: La "Paneurope". Un débat d'idées dans l'entre-deux-guerres, Paris 2003.
[5] Das mythisierte Bild einer österreichischen abendländischen "Sendung" ist nicht mit einem österreichisch formulierten "kulturellen Deutschnationalismus" gleichzusetzen (492); vgl. Anton Staudinger: Zur "Österreich"-Ideologie des Ständestaates, in: Das Juliabkommen von 1936. Vorgeschichte, Hintergründe und Folgen. Protokoll des Symposiums in Wien am 10. und 11. Juni 1976, Wien 1977, 198-240; Werner Suppanz: Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik, Köln / Weimar / Wien 1998.
Elke Seefried