Boris Schilmar: Der Europadiskurs im deutschen Exil 1933-1945 (= Pariser Historische Studien; Bd. 67), München: Oldenbourg 2004, X + 406 S., ISBN 978-3-486-56829-5, EUR 49,80
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Im Banne eines Trends zu einer europäischen Geschichtsschreibung, der sich europäischen Interaktionsmustern, kulturellen Transfers und vergleichenden Entwicklungen widmet [1], geraten zunehmend auch die "Ideen von Europa" in das Blickfeld der Forschung: Welche Konzeptionen von Europa existierten, wie begriff man europäische Identität? Welche Bedeutung besaßen geografische und räumliche Perzeptionsmuster, ökonomische Kalküle, nationale Affekte? Den Europadiskurs im deutschen Exil untersucht nun Boris Schilmar in seiner Münsteraner Dissertation. Eine Gesamtschau dieser Vorstellungsmuster erscheint umso wichtiger, als in der Forschung zum deutschen politischen Exil bislang politik-, sozial- und alltagsgeschichtliche Fragestellungen dominierten, während ideen- und diskursgeschichtliche Untersuchungen ein weitgehendes Desiderat bilden. [2]
Ausgehend von der inzwischen breit akzeptierten These, dass das politische Exil mit seiner Formulierung von Alternativkonzepten für ein Deutschland nach Hitler als Teil des deutschen Widerstandes zu begreifen ist, arbeitet Schilmar zunächst überzeugend drei Hauptfragestellungen heraus: Er untersucht Motivationen für das vereinte Europa, die Bedeutung des Antibolschewismus für diese Konzeptionen und schließlich Vorstellungsmuster zur Institutionalisierung Europas, also Pläne für das verfasste Europa im Innern, wobei er das Hauptaugenmerk auf die Strukturprinzipien der Supranationalität und des Föderalismus richtet (4). Plausible Hauptthese seiner Argumentation ist es, die zentrale Zäsur des Europadiskurses des Exils 1938/39 zu verorten: Während die diffusen Europaideen bis 1938 noch von den Weimarer Erfahrungen und Diskussionen geprägt gewesen seien, hätten erst der Schock des Münchener Abkommens, die Zäsur des Hitler-Stalin-Paktes und der Weltkrieg mit seiner sich ankündigenden Bipolarisierung der Welt zu einer "Konzeptualisierung" des Europadiskurses geführt, der sich nun als Alternative zu den nationalsozialistischen Europavorstellungen formierte.
Dementsprechend gliedert Schilmar sein Werk in drei Hauptteile: Am Beginn steht die Weimarer Europadiskussion, die Schilmar vor allem durch realhistorische Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren (Erster Weltkrieg, Versailler Friedensordnung, Völkerbund) fassen will; das so schillernde ideelle Spektrum von Europavorstellungen, das von sozialdemokratischen Rufen nach den Vereinigten Staaten von Europa über "Paneuropa", die Mitteleuropa-Idee in der Tradition Friedrich Naumanns bis hin zu nationalsozialistischen Europa-Konzeptionen reichte, bleibt hier zunächst unterbelichtet.
Im zweiten Hauptteil, der Europakonzepte des Exils bis 1937 detailliert auffächert, beleuchtet Schilmar jedoch wiederholt auch Weimarer Traditionen. Seine Analysen, die auf einer eindrucksvollen Quellenfülle und -dichte beruhen (und nur Akten des Exilarchivs der Deutschen Bibliothek in Frankfurt verschmähen), reichen hier quer über das politische Spektrum, von den Kommunisten bis hin zum nationalsozialistischen Renegaten Otto Straßer. Schilmars Hauptaugenmerk ruht - quantitativ gesehen nicht ganz zu Unrecht - auf den Ideen der Arbeiterbewegung, vor allem auf den diversen Konzeptionen linkssozialistischer Gruppen (die sich entgegen Schilmars Einschätzung bereits vor 1933 von der SPD abspalteten). In den Abschnitten über das Exil außerhalb der Arbeiterbewegung, die Pazifisten, "Liberale und Bürgerlich-Konservative" sowie Nationalkonservative und -revolutionäre in den Blick nehmen, macht es sich teilweise negativ bemerkbar, dass Schilmar seine Analysen stark an den Quellen orientiert und die biografische Literatur nur selektiv konsultiert. Welch exorbitante Bedeutung katholische und nationalistische Reichsideen für entsprechende Europabilder und -konzepte besaßen (zum Beispiel für die katholisch-nationale Reichsidee Hubertus Prinz zu Löwensteins oder in nationalistischer Aufladung für Otto Straßer), kommt ebenso zu kurz wie die differenten Ausprägungen und politischen Auffüllungen des christlichen Abendland-Gedankens [3], der eben nicht in der liberalen Gedankenwelt beheimatet war (170). Die Ideen des christlichen Pazifisten und Föderalisten Friedrich Wilhelm Foerster hätten zum Beispiel aussagefähiger eingeordnet werden können, wäre sein biografischer Hintergrund als Anti-Nationalist und Vertreter einer christlich-übernationalen Reichsidee in der Weimarer Republik thematisiert worden. Gleichwohl gelingt es Schilmar im Ganzen, die jeweiligen ideellen Koordinatensysteme und Positionsbestimmungen zum Europakomplex in sein Fragenraster einzuordnen und damit ein aussagefähiges Panorama der frühen Europa-Konzepte des Exils zu entwerfen.
Dies gilt auch für das dritte Hauptkapitel, das den Ideen des Exils zunächst das "Europa aus Rasse und Raum" der Nationalsozialisten gegenüberstellt. Als Oppositionsdiskurs dazu fand nun auch, so Schilmar, das politische Exil zu einer Konzeptualisierung seiner zunächst noch diffusen Ideen. Bewirkte die "Bilanz nach München" (143) eine Klärung von europäischen Motivationen (Freiheit, Frieden, wirtschaftliche Kooperation), so zog der Hitler-Stalin-Pakt eine Annäherung der linkssozialistischen Europavorstellungen an das sozialdemokratische und "bürgerliche" Denken nach sich, weil er die Sowjetunion tief diskreditierte und damit - außerhalb des harten Kerns emigrierter Kommunisten - eine Ostorientierung des künftigen Europa ausschloss. Eingängig arbeitet Schilmar heraus, wie die Idee eines föderativen Europa über die ohnehin zerfallenden Parteigrenzen hinweg an Gestalt gewann, wie schwer es aber für das Exil war, in den Kriegswirren an der Vorstellung eines freien Europa abseits der beiden Machtblöcke festzuhalten. Instruktiv gestaltet sich der abschließende Vergleich mit Europaideen des deutschen Widerstandes, aus dem Schilmar zentrale Funktionen des Europadiskurses (wie Kompensation für verlorene Illusionen, Abgrenzung gegenüber dem Nationalsozialismus, politische Profilschärfung) ableitet. Dass die Europavorstellungen des Exils allerdings nach 1945 "politisch wirkungslos" (345, auch 351) blieben, wie Schilmar bilanziert, ist schon mit Blick auf das Saarland als Sammelbecken europäisch orientierter Emigranten, aber auch auf das Weiterwirken des "Abendland"-Gedankens infrage zu stellen. Ähnlich frappiert das recht pauschale Urteil, bis heute habe die deutsche Gesellschaft den Lernprozess hin zu einer europäischen Identität nicht ernsthaft aufgenommen (351). Insgesamt aber liest sich Schilmars kenntnisreiche Gesamtschau fraglos mit Gewinn, fördert sie doch viele neue Einsichten und Anregungen zu Tage.
Anmerkungen:
[1] U. a. Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hg.): Europäische Geschichte als historiographisches Problem, Mainz 1997; Johannes Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ 267 (1998), 649-685; Wolfgang Schmale: Europäische Geschichte als historische Disziplin. Überlegungen zu einer "Europäistik", in: ZfG 46 (1998), 389-405; ders.: Geschichte Europas, Wien u. a. 2000; Michael Salewski: Geschichte Europas. Staaten und Nationen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2000; Gunther Mai: Europa 1918-1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart/Berlin/Köln 2001; Walther L. Bernecker: Europa zwischen den Weltkriegen 1914-1945, Stuttgart 2002; Helmut Altrichter/Walther L. Bernecker: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2004; Harold James: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, München 2004.
[2] Siehe Gerhard Paul: Deutschland nach Hitler: Neuordnungspläne im deutschen Exil, in: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998, 638-660; Gerlinde Runge: Linksliberale Emigranten in Großbritannien. Überlegungen zu Gesellschaft und Demokratie im Nachkriegsdeutschland, in: VfZ 37 (1989), 57-83; Winfried Becker: Demokratie, Zentralismus, Bundesstaat, Staatenbund in den Verfassungsplänen von Emigranten, in: Claus-Dieter Krohn/Martin Schumacher (Hg.): Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000, 33-62; Wolfgang Benz: Politisches Denken im Exil, in: ders.: Flucht aus Deutschland. Zum Exil im 20. Jahrhundert, München 2001, 151-172.
[3] U. a. Heinz Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen, in: Albert Langner (Hg.): Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn 1985, 131-154; Dagmar von der Brelie-Lewien: Abendland und Sozialismus, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung, Opladen 1990, 188-219; Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika, München 1999, 24 ff.; nun Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920 - 1970), München 2005.
Elke Seefried