Tatjana Tönsmeyer: Das Deutsche Reich und die Slowakei 1939-1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 387 S., ISBN 978-3-506-77532-0, EUR 48,00
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Christoph Dieckmann / Babette Quinkert / Tatjana Tönsmeyer (Hgg.): Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im östlichen Europa 1939-1945, Göttingen: Wallstein 2003
Christoph Dieckmann / Babette Quinkert / Tatjana Tönsmeyer (Hgg.): Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im östlichen Europa 1939-1945, Göttingen: Wallstein 2003
Peter Haslinger / Sabine Bamberger-Stemmann / Tatjana Tönsmeyer (Hgg.): Auf beiden Seiten der Barrikade. Fotografie und Kriegsberichterstattung im Warschauer Aufstand 1944, Marburg: Herder-Institut 2018
Die Werke zur Geschichte der Zeit 1939-1945 füllen mittlerweile ganze Bibliotheken, und auf den ersten Blick scheint es, dass "alles Wesentliche" bereits gesagt worden ist. Doch sobald konkrete Fragen gestellt werden, wird deutlich, dass nach wie vor empfindliche wissenschaftliche Desiderata bestehen. Zu ihnen zählt auch die Geschichte der ersten Slowakischen Republik 1939-1945.
Das Buch von Tatjana Tönsmeyer, das am Institut für Geschichte Ostmitteleuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation approbiert wurde, trägt gleich in doppelter Hinsicht dazu bei, eine Forschungslücke zu schließen. Zum einen meritorisch, indem es ein vernachlässigtes Thema wählt, und zum anderen methodisch, indem es sich das - erfolgreich bewältigte - Ziel setzt, die konkrete Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen einer Hegemonialmacht und einem kleinen Staat in deren Einflussbereich jenseits der bis dato studierten außenpolitischen Abhängigkeiten und Optionen vor allem am Beispiel des politischen Alltags und der sozialen und professionellen Beziehungen und Interaktionen zu untersuchen.
Am Anfang geht Tönsmeyer der grundsätzlichen Frage nach, warum deutscherseits die Ausrufung und Bewahrung der slowakischen Eigenstaatlichkeit überhaupt zugelassen wurde. Gestützt auf sowohl geschichts- wie politikwissenschaftlich relevante Theorien zum Fragenkomplex der Großmacht-Kleinstaat-Beziehung formuliert sie die These, wonach die deutsch-slowakischen Beziehungen durch die "Nicht-Wahrnehmung" der Slowakei in der deutschen historisch-politischen Perzeption geprägt waren. Obgleich sicher auch andere historische und politisch-pragmatische Faktoren zu berücksichtigen wären, ist der Verfasserin durchaus zuzustimmen, dass nicht zuletzt die Absenz der Slowaken in der "Welt der Deutschen" zur Folge hatte, dass sie - im Unterschied zum Beispiel zu den Tschechen - im deutschen historisch-politischen Bewusstsein auch nicht negativ belastet und stereotypisiert waren. Hinzu kam, dass in der Slowakei - wiederum im Unterschied zu ihrem westlichen Nachbarn - keine quantitativ, in der Siedlungskompaktheit oder in Bezug auf die politische Regsamkeit vergleichbare deutsche Minderheit vorhanden war.
Ausgehend von weiteren theoretischen Bausteinen wie "Einflußsphäre" oder "penetriertes System" schreitet Tönsmeyer dazu, die realen gegenseitigen Beziehungen jenseits der "großen Politik" und der darin proklamierten Intentionen auf der Ebene des politischen Alltags zu untersuchen. Als Grundlage diente ihr das System der deutschen Berater, die als Herrschafts- und Kontrollinstrument der deutschen "Schutzmacht" vor allem nach der deutschen Intervention in die innerslowakischen Belange im Juli 1940 nach einem Spitzentreffen in Salzburg in alle Bereiche des slowakischen öffentlichen politischen und wirtschaftlichen Lebens (Polizei, Verteidigung, "Judenfrage", Volks-, Land- und Forstwirtschaft, Nationalbank, Propaganda, Partei, Massenorganisationen) eingeschleust wurden. Die Verfasserin erarbeitete hier eine gründliche Prosopografie der deutschen Berater (28 Personen inklusive Leiter der deutschen Gesandtschaft) und schilderte minuziös deren soziale Herkunft, politisches Profil, Zielsetzung und Arbeitsmethoden sowie Stellung im innerdeutschen politischen Spektrum. Etwas weniger scharf ist das soziale und weltanschauliche Profil der slowakischen Akteure ausgefallen, was die Verfasserin selbst indirekt zugibt und mit der - zu Recht konstatierten - Absenz von slowakischen Vorarbeiten begründet.
Über Erfolg oder Misserfolg der Berater entschied eine Reihe von Faktoren. Dazu zählten die wirtschaftlich, militärisch oder ideologisch begründete Relevanz des jeweiligen Bereiches für Deutschland, die den jeweiligen Spielraum der slowakischen Gegenseite schmälerte, aber auch die innerdeutschen Stärke- und Konkurrenzverhältnisse, die sich aus der Komplexität der deutschen Lage und der Zweigleisigkeit des NS-Herrschaftsapparates ergaben. Als kaum zu unterschätzender Faktor scheinen jedoch vor allem Empfänglichkeit oder Ablehnung der slowakischen Akteure eine Rolle gespielt zu haben. Tönsmeyer konstatiert, dass keine Bereitschaft bestand, die aufgezwungene deutsche Einflussnahme freiwillig bzw. widerstandslos zu akzeptieren; mit Ausnahme des kleinen und innerhalb der slowakischen politischen Elite wie der slowakischen Gesellschaft weitgehend isolierten Kreises um den prodeutsch und nationalsozialistisch gesinnten Ministerpräsidenten Vojtech Tuka. Den Forderungen der Berater wurde höchstens ein durch die Machtverhältnisse diktiertes Entgegenkommen, niemals aber eine "Ergebenheit" entgegengebracht.
Detailliert und anschaulich beschreibt Tönsmeyer das komplizierte Schachspiel der slowakischen Politiker insbesondere um den Präsidenten Tiso, der sich auf die Mehrzahl der Minister, praktisch den gesamten Parteiapparat und die Repräsentanten der katholischen Kirche stützen konnte. Diese Führungselite habe stets auf der Souveränität des eigenen Staates beharrt und versucht, so Tönsmeyer, sich der Erfüllung der deutschen Wünsche nach Möglichkeit zu entziehen, ohne die übermächtige" Schutzmacht" offen herauszufordern und einen nicht zu gewinnenden offenen Konflikt zu riskieren. Die Verfasserin zeichnet dabei verschiedene slowakische "Dissenstechniken" nach, die von der Verzögerungs- und Hinhaltetaktik mithilfe von vorgeschobenen Begründungen, Ausreden, Verlieren von Unterlagen, Nicht-Information der Berater oder nicht eingehaltenen verbalen Zusagen bis hin zum Widerstand im engeren Sinne reichten. Letzterer war zwar selten, aber doch vorhanden, zum Beispiel wenn die slowakische Regierung sich weigerte, organisatorische und personelle Änderungen an der Spitze des Slowakischen Arbeitsdienstes oder der Jugendorganisation vorzunehmen. Dabei konstatiert die Verfasserin, dass die Slowaken - manchmal in einer schmalen Gratwanderung - sehr wohl an einem "Know-how-Transfer" interessiert waren, einer mithilfe der Wirtschaftskooperation mit Deutschland zu beschleunigenden Industrialisierung der Slowakei sowie an einer gewissen Einbindung in die internationalen Kontakte zum Beispiel im Bereich der Jugendorganisationen. Einen "Ideentransfer", also die gleichzeitige Übernahme der nationalsozialistischen Ideologie, lehnten sie jedoch bis auf wenige Ausnahmen im Tuka-Kreis entschieden ab. So war der Tätigkeit der Berater, so die letzte hier zu erwähnende Schlüsselthese der Arbeit, infolge deren Unkenntnis oder Fehleinschätzung der Slowakei, der unklar formulierten Ziele und der geschickt getarnten Ablehnung ihrer slowakischen Gegenspieler in der Regel kein Erfolg beschieden. Vor allem gelang es nicht, einen Einfluss auf die öffentliche Meinung auszuüben, das Verhalten der Führungseliten und des Beamtenapparates zu ändern und die institutionellen Grundlagen der slowakischen Staatsmacht nach dem deutschen Beispiel zu modellieren.
Ebenso wenig glückte es, die Polizei im deutschen Sinne gleichzuschalten oder durch Ausschaltung der christlichen Gewerkschaften deutsche sozialpolitische Lenkungsinstrumentarien in die Slowakei zu verpflanzen. Am deutlichsten scheiterte der Berater für die Slowakische Volkspartei Hlinkas, der keinen Einbruch in die geschlossene Hausmacht Tisos zu erzielen vermochte. Erfolgreicher war dagegen die "Beratung" in einigen wirtschaftlichen Bereichen, an denen Deutschland nicht zuletzt wegen der Kriegführung enorm interessiert war. So geschehen in der Sicherung der Holzzufuhr, wenngleich gerade auf diesem Feld vom Wirtschaftsminister Medrický im Interesse der Erhaltung der "Lebensgrundlage der slowakischen Nation", der Wälder, ein besonders harter Widerstand geleistet wurde. Ähnliches gilt für die "Judenfrage", in der Tönsmeyer eine weitgehende autochthone slowakische Bereitschaft zu antijüdischen Maßnahmen konstatiert. Gleichzeitig hebt sie jedoch die Wichtigkeit der Aktivitäten des Beraters Wisliceny hervor, um die ursprünglich religiös definierte antijüdische Gesetzgebung der Slowakei auf eine dem deutschen Beispiel angepasste Rassengrundlage zu stellen. Die Verfasserin weist darauf hin, dass von der deutschen Gesandtschaft in der Slowakei die Belassung Wislicenys auf seinem Posten auch nach dem Abbruch der Deportationen im Herbst 1942 gefordert wurde, weil seine "vorzeitige" Abberufung nicht nur den "vollständigen Stillstand in Judenfragen", sondern die "Gefahr einer heimlichen Rücknahme der antijüdischen Maßnahmen" hätte bedeuten können.
Tatjana Tönsmeyer hat eine auf breiter Quellengrundlage angelegte, nüchtern argumentierte Arbeit vorgelegt, die alle Voraussetzungen erfüllt, zum Standardwerk zu werden. Mehr noch: sie zeigte die nicht selbstverständliche wissenschaftliche Redlichkeit, sich selbst zu korrigieren. Am Anfang ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit übernahm sie noch die in der Historiografie tradierte, allein aufgrund der Gründungskonstellation des Staates aufgestellte, jedoch empirisch nicht überprüfte These von der Slowakei als unselbstständigem "Marionettenstaat". Nun revidiert sie selbstkritisch ihren Befund und kommt aufgrund eines gründlichen Quellenstudiums zu dem Schluss, dass die slowakischen Akteure keineswegs blinde "Befehlsempfänger", sondern sehr wohl fähig waren, sich zumindest innenpolitisch beachtliche Handlungsspielräume zu schaffen.
Es ist etwas schade, dass die Autorin nicht auch die katholische Kirche bzw. Religion zumindest indirekt in ihre Untersuchung einbezieht. Diese war für das Verständnis der Handlungs- und Entscheidungsprozesse von Akteuren, die gedanklich tief im Katholizismus verwurzelt waren und sich zum Leitmodell des - unter den gegebenen Umständen freilich nicht realisierbaren - christlichen Ständestaates bekannten, von entscheidender Bedeutung.
Hervorzuheben ist schließlich, dass Tönsmeyer jedem Kapitel ein zusammenfassendes Fazit folgen lässt, das einen raschen Zugang zur Materie ermöglicht, und die Untersuchung mit einem übersichtlichen und benützerfreundlichen Verzeichnis der Berater und deren Lebensläufe abschließt.
Emilia Hrabovec