Martin Blindheim: Gothic Painted Wooden Sculpture in Norway 1220-1350, Oslo: Messel Forlag 2004, 224 S., ISBN 978-82-7631-072-6
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Es ist sehr erfreulich, dass es Martin Blindheim, der Altmeister der skandinavischen Skulpturenforschung, auf sich genommen hat, seine lebenslangen Studien zur älteren norwegischen polychromierten Holzskulptur zusammenzufassen. Dieser Publikation ging der 1998 erschienene Band 'Painted Wooden Sculpture in Norway c. 1100-1250' desselben Verfassers voraus. Insgesamt geht es also um eine Publikation der unglaublich reichen und der internationalen Kunstgeschichte wenig bekannten, norwegischen Holzskulptur des gesamten älteren Mittelalters.
Beide Bände haben einen gleichartigen Aufbau. Nach einer knappen Darlegung der historischen Hintergründe folgen Kapitel über die bisherige Forschung, Technik und Ikonografie sowie schließlich eine Diskussion der "Groups and Dates of the Sculptures", bei der Stilfragen und Einflüsse eine wichtige Rolle spielen. Dieser eigentliche Text umfasst zwar nur 32 Seiten, ist aber außerordentlich kenntnisreich und konzentriert geschrieben. Der größte Teil des Buches ist dem Katalog gewidmet, 162 Seiten mit Texten und Abbildungen von 82 Skulpturen, die - soweit möglich - chronologisch geordnet sind. Anmerkungen, Literatur und Index sind um eine überraschende Liste ergänzt, die weitere 102 norwegische Holzskulpturen der Zeit vorstellt! Während nämlich der erste Band zur "romanischen" Skulptur im Prinzip alle Arbeiten vor 1220 behandelt (54 Objekte), präsentiert der Verfasser angesichts der Menge gotischer Skulpturen (174 Objekte) nur eine Auswahl. Ausgelassen sind zumeist Skulpturen ohne ältere Fassung sowie von ausgeprägt retardierendem Stil. Dass Blindheim nach diesen Kriterien auswählen konnte, zeigt eindrücklich, in welch einzigartigem Umfang sich die ursprüngliche Polychromie der Skulpturen in Norwegen erhalten hat.
Die norwegische Holzskulptur der frühen und hohen Gotik kann auf eine etwa hundertjährige Forschungsgeschichte zurückblicken. Schon Harry Fett hatte 1908 die Dominanz englischer Einflüsse nachgewiesen und unter anderem mit einem Besuch von Matthew Paris 1248 in Norwegen in Verbindung gebracht. Um 1950 erschienen dann sowohl die Doktorarbeit von Martin Blindheim wie auch ein gewichtiges Werk des schwedischen Kunsthistorikers Aron Andersson: 'English Influence in Norwegian and Swedish Figure Sculpture 1220-1270' von 1949. Andersson hat viele und verstreut gelegene Bildwerke stilgeschichtlich analysiert und einige auf Grund ihrer besonderen Qualität als englische Importstücke bezeichnet. Die Abhandlung Blindheims über 'Main Trends of East Norwegian Wooden Figure Sculpture in the Second Half of the 13th.Century' von 1952 hat insbesondere zu den Werkstattfragen, Zunftverhältnissen und Techniken Bahnbrechendes geleistet. Als der wohl erste europäische Kunsthistoriker interessierte sich Blindheim für die Aussagekraft der unbearbeiteten Hinterseiten sowie die Art und Weise, wie bei Kruzifixen die Arme befestigt waren.
Bei den in dem hier besprochenen Werk publizierten Holzskulpturen handelt es sich um 30 Kruzifixe, 14 Assistenzfiguren von Kreuzigungsgruppen, 23 thronende Madonnen und 19 Heiligenfiguren sowie zwei reliefierte Flügel von Tabernakeln. Wie im gesamten Nordeuropa hat man seit dem 13. Jahrhundert hauptsächlich Eiche verwendet. Manche norwegische Stücke sind aber auch aus Kiefer und Birke, besonders in den nördlichen Teilen des Landes, wo die Eiche nicht wächst. Die Technik wird nun umfassender behandelt als in seiner Arbeit von 1952, deren Ergebnisse aber im großen Ganzen Bestätigung finden, verallgemeinert und genauer dokumentiert werden. So ist beispielsweise die Ausführung der Arme von Kruzifixen in einem Stück, das heißt hinten an den Schultern geblattet, eine in Norwegen besonders verbreitete Konstruktionsweise, die Martin Blindheim 1952 als englisch inspiriert sah. Offensichtlich lässt sie sich ziemlich eng mit der Blütezeit während der Anfänge der Gotik in Norwegen zwischen 1250 und 1300 in Verbindung bringen, während die Bildschnitzer der Hochgotik wieder die Zapfentechnik der romanischen Zeit aufnahmen. Dass bei einigen Madonnen der Christuskopf separat geschnitzt und lose eingezapft wurde, ist auffallend, da das Phänomen bisher hauptsächlich als südskandinavisch angesehen wurde. Bedauerlich ist, dass diese Ergebnisse nicht in Relation zu den interessanten Forschungen Peter Tångebergs gebracht und näher problematisiert werden (Mittelalterliche Holzskulpturen und Altarschreine in Schweden, Stockholm 1987).
Wie aus den Titeln der beiden Bände hervorgeht, haben sie eine zeitliche Überlappung von 30 Jahren von 1220 bis 1250, als sich Romanik und Gotik in Norwegen mischten. Wie schwierig eine solche Trennung ist, sieht man unter anderem daran, dass einige Skulpturen in den Katalogen beider Bände vorkommen. Nach Martin Blindheim kommt die Gotik mit ihren 'through folds' (Muldenfalten) in zwei Wellen nach Norwegen, beide von englischen Kunstzentren vermittelt.
Blindheim stützt sich besonders auf Vergleiche mit den Fassadenskulpturen in Wells aus den Jahren um 1230. Als Hauptstück des frühen Muldenfaltenstils hebt Blindheim die thronende Madonna aus Hove hervor (Kat.-Nr. 1), die er als englisches Importstück ansieht und um 1230-35 datiert. Die große Mehrzahl der Skulpturen des 13. Jahrhunderts gehört der zweiten Welle der Gotik an. Ihre Merkmale, die Eleganz, das flache Relief und die scharfen, grafisch wirkenden und häufig geknickten Falten werden von mehreren Meistern und Werkstätten vertreten. Als ganz besonders qualitätsvolle Beispiele stellt Blindheim Bildwerke wie den hl. Olaf aus Fresvik (Kat.-Nr. 12) und den herausragenden und wohl importierten hl. Michael aus Mosvik (Kat.-Nr. 31) vor, beide im Text um 1220-50, im Katalog aber um 1240-60 datiert. Besondere Aufmerksamkeit wird den zahlreichen ostnorwegischen Werken zuteil, deren führende Werkstätten im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts nach den Kreuzgruppen von Skoger (Kat.-Nr. 59) und Balke (Kat.-Nr. 62) benannt sind. Im Hinblick auf deren umfangreiche Produktion stellen sich besonders Fragen nach Werkstätten und "Massenproduktion".
Nach Blindheim setzt die Hochgotik im Bereich der norwegischen Holzskulptur erst richtig um 1300 mit dem Einfluss der eigentlichen 'Crucifixi dolorosi' ein. Die Werke des 14. Jahrhunderts treten in Norwegen nur verstreut auf und werden hier von fünf eher summarisch behandelten Stücken vertreten. Man hätte beispielsweise gerne Näheres über den hervorragenden 'Crucifixus dolorosus' aus Fana bei Bergen (Kat.-Nr. 75) mit seiner außergewöhnlich gut erhaltenen Polychromie erfahren. Auch in ihm sieht Blindheim ein mögliches Importstück.
Im Allgemeinen wird bei Blindheim das "Englische" und die englische Ableitung der norwegischen Holzskulpturen mit einer solchen Ausschließlichkeit vertreten, dass sich Widerspruch regt. Ohne Zweifel ist aber das insulare Gepräge in der hier behandelten Zeit durchgehender zu fassen als in der romanischen Skulptur, was mit den damals besonders engen Handelsbeziehungen in Einklang steht. Blindheim erkennt natürlich die generelle Dominanz der französischen Kunst im 13. Jahrhundert, versucht aber zu selten, eine vermutete englische Vorlage weiter nach Frankreich zu verfolgen. Der in Norwegen so weit verbreitete Kruzifixtypus des Übergangs zwischen Früh- und Hochgotik scheint in dieser Beziehung interessant: Im Vergleich zu anderen Werken dieser Zeit ist das Ausbreiten der Arme auffallend und auf geradezu elegante Weise betont, zum Teil findet man sogar weit gespreizte Zehen, wie am Kruzifix aus Hof (Kat.-Nr. 73). Betonten Tod und Leiden findet man natürlich auch auf dem Kontinent, wie an den bekannten Kreuzigungsdarstellungen des Villard de Honnecourt aus der Zeit um 1230. Doch, wo nach fast ähnlichen Vorlagen wie in England und Norwegen gearbeitet wird, wie zum Beispiel bei dem vermutlich maasländischen Kruzifix in Wenau (um 1250-60), lässt der Vergleich wohl wirklich eine recht eigenständige und suggestive anglo-norwegische Interpretation hervortreten.
Auffallend viele norwegische Skulpturen werden von Blindheim als Importe bezeichnet, und einige vermutlich zu Recht. Die Vorstellung von kleinen Stabkirchen in entlegenen norwegischen Tälern, die sich in England ein gefasstes Bildwerk bestellten, scheint aber nicht unbedingt nahe liegend. Zudem erscheint es weniger wahrscheinlich, dass Händler und Werkstätten in norwegischen Küstenstädten in größerem Umfang solche englischen Produkte für den Weiterverkauf im Binnenland importiert haben.
Als ein zentrales Argument für diese Fragen verwendet Martin Blindheim eine breit angelegte Dokumentation des Kalkes in den Grundierungen der Fassungen. Winzige Versteinerungen verraten, dass der Kalk weniger aus Dänemark oder Norddeutschland stammt als eben aus England und der Kanalgegend. Ein sicheres Argument ist dies aber nur, wenn die Skulptur wirklich importiert ist, was wir ja eben nicht wissen. Sonst lassen die Proben weniger eine Interpretation über den Herstellungsort der einzelnen Skulpturen zu, als darüber, von wo man in den fraglichen Städten den Kalk bezog.
Blindheim datiert die Skulpturen auffallend früh, indem er behauptet - und dies nicht ganz zu Unrecht - dass mit einer wesentlichen Stilverspätung bei Importstücken und sonstigen qualitätsvollen Arbeiten kaum zu rechnen sei. Es ist natürlich immer sehr wertvoll für jede Skulptur, die stilistisch frühest mögliche Datierung einzukreisen. Für die skandinavischen Werkstätten ist jedoch oft mit einer Verzögerung von oftmals bis zu einigen Jahrzehnten zu rechnen. Hier ist besonders zu bedauern, dass bislang die Versuche einer dendrochronologischen Datierung der norwegischen Skulpturen vergebens waren.
Man spürt, dass Umfang und Disposition des Buches bewusst und genau zurechtgelegt sind, um eine solch enorme Leistung überhaupt zu ermöglichen. Manchmal spürt man aber auch die Grenzen der Kräfte. Internationale Literatur der letzten fünfzehn Jahre wurde wenig konsultiert, und selbst so nützliche Werke, wie R. Schneider-Berrenbergs 'Studien zur monumentalen Kruzifixgestaltung im 13. Jahrhundert' von 1977, wurden nicht verwendet.
Die Gliederung des Textes, genau wie im vorhergehenden Band zur romanischen Skulptur, funktioniert ausgezeichnet, bringt aber dennoch viele Wiederholungen mit sich, besonders in den technischen und ikonografischen Kapiteln. In den Katalogtexten folgen nach den allgemeinen Angaben zum Werk Ausführungen zu Zustand, Beschreibung, Polychromie und Kalk sowie ein Abschnitt "Generelles", der sowohl eine (nicht ganz konsequent ausgearbeitete) Forschungsgeschichte sowie eine Diskussion zur stilgeschichtlichen Einordnung der einzelnen Werke enthält. Ein wirklich bedeutender Fortschritt ist es, dass nun so viele Skulpturen ausgezeichnet und zumeist farbig abgebildet sind. Dass nur einige wenige Werke mit zwei Abbildungen vertreten sind, ist zu bedauern, und von anderen fehlt sogar eine Frontalansicht. Die eingehende Darstellung, insbesondere der Technik, hätte eine weit umfassendere Bilddokumentation verdient. Doch, mit dem Essen wächst bekanntlich der Appetit. Insgesamt ist der Band ein herausragender Beitrag zu der bedeutenden Reihe 'Medieval Art in Norway'.
Ebbe Nyborg