Rezension über:

Moritz Föllmer / Rüdiger Graf (Hgg.): Die 'Krise' der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/M.: Campus 2005, 367 S., ISBN 978-3-593-37734-6, EUR 39,90
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Rezension von:
Manfred Kittel
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Kittel: Rezension von: Moritz Föllmer / Rüdiger Graf (Hgg.): Die 'Krise' der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/M.: Campus 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/7924.html


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Moritz Föllmer / Rüdiger Graf (Hgg.): Die 'Krise' der Weimarer Republik

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Was hat ein Staubsauger, der zugleich als Feuerzeug, als Föhn oder als Massagegerät dienen kann, mit der Kritik des gängigen Deutungsmusters von der "Krise" der Weimarer Republik zu tun? Diese und ähnliche Fragen begleiten einen vom Anfang bis ans Ende eines Sammelbandes, der nicht mehr und nicht weniger möchte, als den Erklärungswert besagten Deutungsmusters für die historische Forschung in Frage zu stellen. Der Staubsauger taucht irgendwo in der Mitte auf: In dem für sich genommen sehr lesenswerten Beitrag von Florentine Fritzen über "Reformhausbewegung und Moderne 1925-1933". Zu dem von der Reformhausbewegung propagierten Konzept des "neuzeitlichen Lebens", so erfahren wir, das "eine Antwort auf die Krisenhaftigkeit der modernen Welt" war (184), gehörte nicht zuletzt die "neuzeitliche Küchenführung". Um ihre kulturoptimistische Vision neuzeitlichen Lebens "durch Konsum massenhaft produzierter und vertriebener Güter" zu unterfüttern, habe die Reformhausbewegung die "Negativfolie einer chaotischen und unmoralischen Gegenwart benötigt und in entsprechend drastischen Farben gezeichnet" (26).

Nicht nur in der Küche, sondern auch an vielen anderen Orten, so argumentieren die Herausgeber, hätte die von der Krise eben nur vermeintlich gelähmte Weimarer Gesellschaft "Dynamik und Aktivismus" gezeigt, die sich "in Selbsthilfe, Konsum und überhaupt einer individualistischen Suche nach dem eigenen Leben" artikulierten (39). Wie flexibel die deutsche Gesellschaft der 20er- und 30er-Jahre oftmals "auf kurzfristige Herausforderungen reagierte und gleichzeitig längerfristige Problemlösungen entwickelte" (35), vermögen etliche Aufsätze tatsächlich zu zeigen. So erwies sich der Publikationsmarkt, dem zeitgenössischen Topos der "Krise des Buches" zum Trotz, als relativ innovationsfähig und passte sich der Straßenhandel der gestiegenen Nachfrage nach Information an, ja bot auf dem Arbeitsmarkt schwer Vermittelbaren (etwa Kriegsversehrten) eine Beschäftigung (Gideon Reuveni).

In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag über "Junge Frauen und Individualität in der Weimarer Republik" (Moritz Föllmer), der anhand von weiblichen Selbstentwürfen in Briefen und Deutungsangeboten in der linksliberalen Berliner Boulevardpresse deren gemeinsame weltanschauliche Grundlage herausarbeitet: "ein dezidierter Individualismus mit optimistischer Stoßrichtung" (302). Auch und gerade die ökonomisch schwierigen frühen 30er-Jahre erschienen in dieser Perspektive "nicht nur als Krisenzeit, sondern als Chance für eine authentischere Moderne, in der sich Frauen auf das eigene Ich besinnen [...] konnten" (315). Dass junge Frauen "auf der Suche nach dem eigenen Leben" Tendenzen vorwegnahmen, "die die zeithistorische und soziologische Forschung häufig erst in den sechziger Jahren ansetzt", weiß Föllmer mit Beispielen etwa aus dem 8 Uhr-Abendblatt von 1930 ("Großmutter gibt es nicht mehr! Denn sie ist heute mitunter jugendlicher als ihre Kinder") zu illustrieren.

Rüdiger Graf versucht anhand der Analyse führender politisch-kultureller Zeitschriften unterschiedlichster weltanschaulicher Ausrichtung aufzuzeigen, dass im intellektuellen Diskurs der Weimarer Republik "der Krisenbegriff nicht in einem pessimistischen Sinn zur Bezeichnung von Verlusterfahrungen und weiteren Abstiegserwartungen gebraucht", sondern die Krise gleichsam als Chance begriffen und deshalb noch dramatischer gezeichnet wurde, als sie tatsächlich war, um "der neuen Zeit" gegebenenfalls revolutionär "näher zu kommen" (106). Eine Rhetorik der Krisenverschärfung finde sich so bei ganz unterschiedlichen Figuren wie Hans Zehrer, Bertolt Brecht oder Adolf Hitler.

So anregend diese und andere Beiträge teilweise sind, die von "Krisendiskursen und Dezisionismus im deutschen Verbandsfußball 1919-1934" über "Demographische Krisenszenarien und statistische Expertise" bis zur "Krise des Körpers" oder Hans Fallada und der "Krise des Willens in der Weimarer Republik" reichen, so beschränkt ist ihre Erklärungskraft für die Generalthese der Herausgeber. Dieser geht es im Kern darum, "die Krisenhaftigkeit von Politik, Gesellschaft und Kultur" als "nicht objektiv gegeben", sondern "konstruiert" zu entlarven (38). Gegen Detlev Peukerts einschlägige Weimar-Deutung von den "Krisenjahren der klassischen Moderne" wird vorgebracht, sie gehe von einem "überraschend substanzialistischen Krisenbegriff" aus und vernachlässige "die kulturellen und intellektuellen Traditionen, die die Wahrnehmung und Konstitution der Krisen genauso wie die verschiedenen Reaktionen auf die Krisen beeinflußten" (19). Die meisten Autoren unterlassen es indes mit gutem Grund, sich in einen engeren Bezug zu den kühnen Thesen der Herausgeber zu setzen. Denn es ist zwar zweifelsohne legitim, nach einem halben Jahrhundert intensiver - und notwendiger! - politikgeschichtlicher Erforschung der komplexen Gründe für Weimars Scheitern auch einmal ganz andere, kulturgeschichtliche Aspekte der Weimarer Realität näher zu beleuchten, die mit dem Untergang der ersten Demokratie auf deutschem Boden nichts oder jedenfalls weniger zu tun haben. Am objektiven Charakter der Krise Weimars kann aber für jeden, der sich auch nur ansatzweise mit den politischen und wirtschaftlichen Problemen der Zeit auseinander setzt, nicht der geringste Zweifel sein.

Das zeigt im übrigen auch der Blick auf die weniger kulturalistisch aufgezäumten Aufsätze dieses Sammelbandes, etwa Sebastian Ulrichs Untersuchung des "Streit[s] um den Namen der ersten deutschen Demokratie 1918-1949". Hatte es im Artikel 1 der Verfassung ambivalent geheißen: "Das Deutsche Reich ist eine Republik", so setzte sich Mitte der 1920er-Jahre der Terminus "Deutsche Republik" durch, der allerdings nur von einem Teil der Bevölkerung positiv konnotiert wurde, während die antirepublikanische Rechte den Begriff bewusst diffamierend gebrauchte, bis sich der Name "Weimarer Republik" 1929 erstmals bei Hitler nachweisen lässt. Dass man die Krise der Republik durchaus im Sinne der Herausgeber als "Möglichkeitsraum" (14) begreifen kann, ohne den Wald der Politik vor lauter kulturellen Bäumen aus dem Blick zu verlieren, zeigt Thomas Raithels Analyse der "Funktionsstörungen des Weimarer Parlamentarismus". Die unleugbar hohe Integrationskraft der parlamentarischen Kultur im Reichstag, eine gewisse Loyalität und Vertrautheit innerhalb der Abgeordnetenschaft, schützte eben nicht "vor einem problematischen Verständnis parlamentarischer Funktionsprozesse" und den daraus resultierenden Folgen für die Regierbarkeit der Republik. Und selbst die "Vertrauenskrise der Justiz", das erfolgreiche Fahnenwort einer selbstbewussten linksliberalen und sozialdemokratischen Justizkritik, ließ sich, wie Daniel Siemens nachweist, seit Ende der 1920er-Jahre von der politischen Rechten gegen den republikanischen Staat richten. Siemens' Postulat, die Weimarer "Vertrauenskrise" erst durch "eine international vergleichende Perspektive in ihrer historischen Relevanz vollständig" erfassen zu können (163), ist nichts hinzuzufügen. Zumindest verspricht die Komparatistik nicht weniger Ertrag als ein Kulturalismus, bei dem man sich manchmal schon fragt, was eigentlich das Hauptanliegen des Historikers ist: Wissen zu wollen, warum es so kam, wie es tatsächlich gekommen ist, oder aufzuzeigen, weshalb es eigentlich auch ganz anders hätte kommen können?

Manfred Kittel