Andreas Kossert: Ostpreußen. Geschichte und Mythos, München: Siedler 2005, 448 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-88680-808-3, EUR 24,90
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Von kaum einer anderen Provinz des historischen deutschen Ostens geht bis heute eine solche Faszination aus wie von Ostpreußen, dem Land zwischen Kurischer Nehrung und masurischen Seen. Seine Geschichte ist nach 1945 lange deutsch-national angestrichen worden. Auch deswegen wurde - wie Kossert schreibt - jede Beschäftigung mit Ostpreußen bis 1989 als "revanchistisch und politisch verwerflich verurteilt" (379). Für das vom Autor beklagte Bemühen der landsmannschaftlichen Publizistik, "Ostpreußens nichtdeutschen Einfluß zu leugnen" (10), gab es seit 1945 allerdings andere Gründe, als sie noch einen Heinrich Treitschke umtrieben. Dieser hatte in einem 1862 erschienenen Artikel über "Das deutsche Ordensland Preußen" die mittelalterliche christliche Mission des Ordens in eine deutsche umgedeutet und die Provinz als einen "festen Hafendamm" des Reiches gepriesen, "verwegen hinausgebaut vom deutschen Ufer in die wilde See der östlichen Völker" (45). Auf Treitschkes Geschichtsklitterung folgte - nicht erst seit 1945, dann aber massiv verstärkt - eine andere: Warschau feierte die "Rückkehr" des "urpolnischen" Masuren und des Ermlands nach "700jährigem preußischen Joch", Moskau leitete aus der kurzen Besetzung Königsbergs durch russische Truppen während des siebenjährigen Krieges eine "jahrhundertealte Bindung" des Gebietes an Russland ab (20). Dass dieses Denken bis heute nicht ganz überwunden ist, zeigte zum Stadtjubiläum von Königsberg 2005 nicht nur die groteske Gedenkmünze "750 Jahre Kaliningrad", sondern vielleicht noch eindrucksvoller der Bau einer fünfkuppeligen orthodoxen Erlöserkathedrale, die zur zweitgrößten Kirche Russlands emporwachsen soll.
Vor diesem Hintergrund ist Kosserts Ansatz so verdienstvoll: den deutschnationalen Interpreten der ostpreußischen Geschichte ebenso entgegenzutreten wie den Ideologen auf polnischer, russischer und litauischer Seite, zu denen sich "später auch die der DDR sowie der Linken im Westen" gesellten, eben all jene, "die eine direkte Linie vom 'räuberischen' Orden zu den ostelbischen Junkern zogen, den Steigbügelhaltern Hitlers" (32). Ob das von Kossert verfasste Buch aber tatsächlich eine "moderne und wunderbar erzählte Gesamtgeschichte Ostpreußens [...] in seiner kulturellen und ethnischen Vielfalt" darstellt (Klappentext), muss mit einigen Fragezeichen versehen werden. Dass drei Viertel des Textes dem 19. und 20. Jahrhundert gewidmet sind, während für den ganzen großen Rest der "tausendjährigen Vergangenheit" des Landes nicht mehr viel Platz bleibt, ist kompositorisch zwar anfechtbar, braucht angesichts der Kompetenz des Verfassers für die neueste Geschichte Masurens aber noch kein Nachteil zu sein. [1]
Problematisch wird es erst dann, wenn die Gewichte verrutschen und auf die komplexe Historie der deutschen Ostsiedlung nur wenige Sätze verwendet werden, wenn das Schicksal der ins Land kommenden Siedler und ihr Profil fast ganz im Dunkeln bleiben, während wieder und wieder betont wird, die Ursprünge Preußens könnten "kaum nichtdeutscher sein", weil es seine Wurzeln in der "nichtdeutschen Welt der Balten hatte" (24, 31). Ziemlich merkwürdig ist der Hinweis, im "Einwanderungsland Ostpreußen" (79) habe sich das Schriftdeutsch erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts durchgesetzt - als ob dies in weniger "multikulturell" geprägten westlicheren Regionen schon vor der Erfindung des Buchdrucks und der Reformation Luthers geschehen wäre! Einer Art Nürnberger Trichter fühlt man sich ausgesetzt, wenn der Autor seiner multikulturalistischen Begeisterung für prußische, litauische und polnische Wurzeln der ostpreußischen Topografie freien Lauf lässt und immer wieder über mehrere Absätze entsprechende Orts- und Flurnamen von Sangnitten bis Serpallen referiert (31, 178, 282). So sehr man deren Faszination nachempfinden kann, so leicht wäre es gewesen, sich auf einige prägnante Beispiele zu beschränken und anderem, kaum Behandelten dafür mehr Platz einzuräumen.
Diese Schwächen des Buches machen auf der anderen Seite aber auch seine Stärken aus. Wer hat zuvor so eindringlich vom preußischen Litauen erzählt? (Die polnischen Einflüsse in Masuren sind ja durch die Romane von Siegfried Lenz besser bekannt). Wer weiß heute noch, dass in der ganzen nordöstlichen Hälfte des jetzt russischen Teils Ostpreußens von Labiau bis Goldap - also nicht nur im Memelland - der Gottesdienst bis 1719 in litauischer Sprache abgehalten wurde; dass sich dies nicht zuletzt durch die Ansiedlung vieler der 20.000 Salzburger Protestanten zu ändern begann, die 1732 aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, oder dass die Provinz Ostpreußen noch 1837 neben zwei Drittel deutsch- auch ein Drittel polnisch- und litauischsprachige Einwohner zählte? Schade nur, dass auf Grund der ungleichen Proportionen der Darstellung die vielen Jahrhunderte vor der Heimsuchung durch den modernen Nationalismus eher in den Hintergrund treten.
Das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien war lange Zeit vor allem durch preußische Toleranz gekennzeichnet. 1728 entstand an der Königsberger Albertina das "Polnische Seminar", wo Seelsorger für das polnischsprachige Masuren ausgebildet wurden, und noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kam es auch zur Gründung einer ganzen Reihe litauisch- und polnischsprachiger Lehrerseminare von Memel bis ins südmasurische Ortelsburg. Die Wurzeln dieser Politik reichten bis zum letzten Hochmeister des Deutschen Ordens und ersten weltlichen Herzog des Landes zurück: Albrecht von Brandenburg-Ansbach machte Ostpreußen im 16. Jahrhundert zum "ersten protestantischen Land der Welt" (51). Ganz mit Luther begriff Albrecht die Verkündigung des Evangeliums in der Muttersprache als wesentliches Element des reformatorischen Geistes; er legte daher großen Wert darauf, den Katechismus in polnischer, litauischer und sogar noch in prußischer Sprache zu veröffentlichen.
Erst im nationalistischen Klima der Reichsgründungszeit privilegierte ein Schulerlass von 1873 Deutsch als alleinige Unterrichtssprache (mit Ausnahme des Religionsunterrichts in der Unterstufe): "Ein Consens communis erklärte die deutsche Sprache und Kultur zur alleingültigen Richtschnur und machte die polnischsprachigen Masuren und preußischen Litauer zu einer Hypothek aus vornationaler Zeit" (177). Viele gingen außerdem zur Saisonarbeit oder aus Gründen beruflichen Fortkommens in westlichere Regionen des Reiches, leisteten Militärdienst etc. So wurden ihre Bindungen zum deutschen Kulturkreis mit der Zeit immer enger, spätestens dann, als masurische und litauische Männer in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges "mit Deutschen Kameradschaft" schlossen (208). Die Germanisierung fiel auf Grund des - damals noch fundamentalen - konfessionellen Bekenntnisses umso leichter; es verband die Minderheiten mit ihren protestantisch-preußischen Landsleuten viel enger als mit den katholischen Litauern und Polen jenseits der Grenzen. Hinsichtlich der nationalen Identität in der Region sprach das nahezu einhellige Votum der Masuren gegen einen Anschluss an Polen bei der Volksabstimmung von 1920 Bände.
Unsere Welt wird ärmer, wenn eine noch so kleine Volksgruppe ihren Geist aufgibt. Insofern ist Kosserts Bedauern über die ethnischen Assimilationsprozesse in Ostpreußen ausgesprochen sympathisch. Nicht folgen kann man ihm aber, wo er den zum Klischee erstarrten Topos jenes Gegensatzes bemüht, der sich zwischen einem nach 1871 "allein an Sprache, Kultur und Herkunft" orientierten deutschen Nationalismus und dem "französischen Staatsnationalismus" auftue (177). Aufschlussreich ist der Vergleich mit Frankreich nämlich in einer ganz anderen Weise: Dort wurden im 19. Jahrhundert durch eine nicht weniger rigide Sprach- und Schulpolitik von der Bretagne bis nach Okzitanien "Bauern zu Franzosen" gemacht, wie Eugen Weber in seiner großen Studie über die Modernisierung des ländlichen Frankreich aufzeigen konnte. Staatsnationalismus hin, Kulturnationalismus her - das Ergebnis war in beiden Fällen eine schmerzliche kulturelle Verarmung und nationale Uniformierung.
Den Blick auf die Ähnlichkeit dieser Phänomene verstellt sich aber, wer die wilhelminische Entwicklung allzu sehr auf eine gleichsam logische Vorgeschichte des 'Dritten Reiches' verkürzt. Dessen Machthaber germanisierten schließlich auch noch die Ortsnamen in Preußisch-Litauen und Masuren und verboten im November 1939 den Gebrauch des Polnischen in der Kirche. Überhaupt der Nationalsozialismus: Ostpreußens Geschichte während der Weimarer Republik wird so gut wie ausschließlich auf diesen Aspekt hin untersucht. Bauern, Bürger und Adelige, so liest man zur Begründung, seien "in großer Mehrheit den nationalsozialistischen Rattenfängern" (263) nachgelaufen und hätten ihre konservativen Traditionen verraten. "Große Mehrheit"? Die absolute Mehrheit hatte die NSDAP in der von der Agrarkrise extrem gebeutelten Region selbst im Juli 1932 verfehlt, obwohl die Partei nicht zuletzt von polnischsprachigen Masuren zahlreich unterstützt wurde, denen Hitler die vollwertige Mitgliedschaft in der deutschen Volksgemeinschaft anbot.
Konservative Traditionen? Über die erfährt man leider nur Oberflächliches. Wenn das politische Klima Ostpreußens außerhalb Königsbergs schon an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert "restaurativ" gewesen sein soll (159), so fragt man sich, was die Ostpreußen mitten im Kaiserreich denn eigentlich wiederherstellen wollten. Vielleicht das Paulskirchenparlament? Auch das Profil der "reaktionären Provinzelite" (239) zu Weimarer Zeiten bleibt einigermaßen schemenhaft. Beim Versuch anhand zweier NS-Täterbiografien "exemplarisch" zu zeigen, "wie die nationalkonservative Sozialisation" etlicher Ostpreußen "schließlich zur ideologischen Radikalisierung führte" (308), belässt es der Autor beim Aufzählen äußerer Karrierestationen, ohne die dahinter steckenden Mentalitäten auch nur ansatzweise zu untersuchen. Obendrein wirft er bei seiner Einschätzung der "Brigade Erhardt" Rechtsradikale und Nationalkonservative kurzerhand in einen Topf.
Von der in Ostpreußen lange führenden DNVP erfährt man leider ganz wenig, auch nicht, dass ihre Geschichte schlecht erforscht ist, was nur im Hinblick auf die KPD - mit einer Schuldzuweisung an den landsmannschaftlichen "Traditionsmonopolismus" (262) - ausdrücklich bedauert wird. Diese Einschätzung muss man wohl vor dem Hintergrund des Urteils über den revolutionären Siebener-Ausschuss Anfang 1919 in Königsberg sehen, "der in einigen Vertretern der USPD intelligente und entschlossene Führer hatte" (234); erst eine Allianz aus dem "rechten Sozialdemokraten" August Winnig, dem Militär und der konservativen Beamtenschaft habe "jede konstruktive Arbeit der Räte zunichte" gemacht (234).
Diskussionswürdig ist auch die Schwerpunktsetzung der Arbeit beim Untergang des alten Ostpreußen 1945. Ausführlich geschildert wird hier das dunkle - in landsmannschaftlichen Kreisen, wie es heißt, "geflissentlich verdrängte" (310) - Kapitel der Konzentrationslager in Ostpreußen und speziell ihrer Auflösung: Den Todesmärschen des Januars 1945 an die Küste des Samlands fielen tausende zum Opfer. Das schreckliche Schicksal dieser Toten nicht dem Vergessen anheim zu geben, ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur. Aber ist es auch angebracht, den über 500.000 Ostpreußen, darunter 300.000 Zivilisten, weniger Raum zu schenken, die "Kampf, Flucht, Vertreibung, Lagerinternierung, Hunger und Kälte" (330) - sowie zahlreiche Kapitalverbrechen, so wäre hinzuzufügen - nicht überlebten? Der Vorwurf, die Vertreibung würde beschönigt, wäre indes unfair, zu drastisch schildert der Autor eine Reihe grausamer Einzelschicksale. Und doch fragt man sich irritiert, weshalb ihn an dem Massaker von Nemmersdorf, das zu einer Chiffre für Vertreibungsverbrechen geworden ist, fast nur die Instrumentalisierung durch die NS-Propaganda interessiert?
An dieser Stelle schimmert wieder das Grundproblem des Buches durch: Es bemüht sich so angestrengt darum, den mehr oder weniger deutschnational eingefärbten Publikationen endlich eine alternative Geschichte Ostpreußens entgegenzusetzen, dass es ihm offensichtlich verzichtbar erscheint, auch andere wesentliche Aspekte - vielleicht, weil diese als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden - angemessen zur Darstellung zu bringen. So ist eine Studie entstanden, die vor allem den wichtigen polnischen und litauischen Elementen des von Reichspräsident Ebert (SPD) einmal als "kerndeutsche Provinz" (242) titulierten Ostpreußens gerecht wird. Eine ausgewogene Gesamtdarstellung der deutschen wie der multiethnischen Seite steht noch aus. Dieser würde man im Übrigen auch ein sorgfältigeres Lektorat wünschen. Dass der "Export von Holz und Getreide [...] neben der Agrarproduktion den wichtigsten Handelsfaktor" (139 f.) ausmachte, mag noch als Stilblüte durchgehen; dass indes ein Kaiser Friedrich III. den liberalen Reichsgerichtspräsidenten Eduard von Simson aus Königsberg 1879 (!!!) in den Adelsstand erhoben haben soll (134), will man nicht recht glauben. Trotz solcher Mängel ist es Kossert mit dem stilvoll aufgemachten Buch zweifelsohne gelungen, "das versunkene Ostpreußen" wieder einmal "der Vergessenheit zu entreißen" (392). Und vermutlich geht das heute tatsächlich nur, wenn mancher Feuilletonist vom "Multikulti zwischen Weichsel und Memel" schwärmen darf.
Anmerkung:
[1] Die Studie wirkt ohnehin in Manchem wie ein verspätetes Pendant zu dem noch im alten Siedler-Verlag - in der eindrucksvollen Reihe "Deutsche Geschichte im Osten Europas" - erschienenen, für die Zeitgeschichte aber sehr knapp gehaltenen Buches des Mediävisten Hartmut Boockmann: Ostpreußen und Westpreußen, Berlin 1992.
Manfred Kittel