Rezension über:

Helmut Schnatz: Der Luftangriff auf Swinemünde. Dokumentation einer Tragödie: Mit einem Vorwort von Horst Boog, München: Herbig Verlag 2004, 192 S., ISBN 978-3-7766-2393-2, EUR 24,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Dirk Schleinert
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Schleinert: Rezension von: Helmut Schnatz: Der Luftangriff auf Swinemünde. Dokumentation einer Tragödie: Mit einem Vorwort von Horst Boog, München: Herbig Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/8585.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Helmut Schnatz: Der Luftangriff auf Swinemünde

Textgröße: A A A

Seit dem Buch "Der Brand" von Jörg Friedrich, das zum Bestseller avancierte, zugleich aber auch zwiespältige Reaktionen hervorrief, ist der Luftkrieg als Teil des Zweiten Weltkrieges wieder verstärkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit gelangt. Zumeist scheiden sich die Geister an der Frage, ob es überhaupt legitim ist, angesichts der deutschen Verbrechen zwischen 1933 und 1945 die eigenen Opfer während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit zu thematisieren. Bei der Thematik Luftkrieg kommt hinzu, dass sich inzwischen häufig Legenden zu einzelnen Angriffen herausgebildet haben, denen nur schwer beizukommen ist. Diese resultieren zum Teil aus der eigenen subjektiven Erlebnisperspektive der Betroffenen, aber zum Teil auch aus Interessenlagen der deutschen Nachkriegspolitik. Gerade in der DDR wurde im Zuge des Kalten Krieges eine Gedenkkultur aufgebaut, die nicht selten Teile der nationalsozialistischen Propaganda aufnahm, um die "anglo-amerikanischen" Luftangriffe als Terrormaßnahmen darzustellen.

Erst nach und nach haben sich Historiker in Ost und West bemüht, im Sinne einer als Wissenschaft verstandenen Geschichtsschreibung dem eine nüchtern-sachliche Darstellung der Ereignisse entgegenzustellen. Einer dieser "Faktensammler" ist Helmut Schnatz, der seit vielen Jahren zum alliierten Luftkrieg forscht und erst vor wenigen Jahren mit seinem Buch über die Luftangriffe auf Dresden viel Aufsehen und nicht nur wohlwollende Reaktionen hervorrief. Schließlich stellte er lange und sorgsam gehütete "Wahrheiten" infrage. [1]

Nun hat er sich in seinem neuesten Buch der Bombardierung der Hafenstadt Swinemünde auf der Insel Usedom am 12. März 1945 gewidmet. Die 1764 in den Rang einer Stadt erhobene Siedlung war von 1818 bis zur Übergabe an Polen am 6. Oktober 1945 Kreisstadt des Kreises Usedom-Wollin und seit dem 19. Jahrhundert Marinestützpunkt. Die Abtretung an Polen und die Vertreibung der deutschen Bevölkerung haben dafür gesorgt, dass dieser Luftangriff anders als bei Dresden und den anderen im Bereich der DDR gelegenen Städten aus dem dortigen öffentlichen Bewusstsein verschwand. Lediglich die Betroffenen selbst erinnerten sich weiterhin daran, in der SBZ / DDR im Privaten, sozusagen hinter vorgehaltener Hand, und in den alten Ländern vorwiegend im Rahmen der Vertriebenenorganisationen. Einzig die Gestaltung des Massengrabes auf dem Golm, einer Anhöhe südwestlich von Swinemünde, die auch nach der Grenzziehung bei Deutschland verblieb, sorgte in der DDR für einige Auseinandersetzungen, vornehmlich zwischen der Kirche und den Partei- und Staatsorganen. Öffentlich wurden diese jedoch auch zu keiner Zeit.

Erst nach 1990 wurde im wiedervereinigten Deutschland der Luftangriff auf Swinemünde wieder stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Dabei sorgte wie bei vielen anderen vergleichbaren Ereignissen das lange Verschweigen für eine Informationsform, in der mancher Fakt und manche Zahl durchaus berechtigte Zweifel hervorrufen können. Hierzu zählen im Fall des Luftangriffes von Swinemünde die Zahl der Toten, die in den meisten Publikationen mit 20.000 und darüber angegeben wird, und die Zielsetzung des Angriffs als reiner Terrorangriff auf die sich in Stadt und Hafen stauenden Ostflüchtlinge. Schnatz versucht nun, anhand nachprüfbarer Belege herauszufinden, ob diese Angaben stimmen können. Dabei kann er durchaus mit vorher nicht bekannten oder zumindest nicht genannten Fakten aufwarten.

Das Buch ist in sechs Abschnitte eingeteilt. Die ersten vier skizzieren in aller Kürze die militärische Situation an der Ostfront zu Beginn des Jahres 1945, die Bedeutung Swinemündes für die Flucht aus den Ostgebieten und als Marinebasis sowie die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse der Alliierten. Abschnitt V behandelt den Luftangriff und im sechsten Abschnitt, vom Umfang her auch der längste, befasst sich der Autor mit der Rezeption und Bewertung des Angriffs.

Schnatz' Verdienst ist es zweifellos, den Angriff der 642 Bombenflugzeuge der 8. US-Air Force in den Mittagsstunden des 12. März unter Heranziehung bisher nicht bekannter bzw. verwendeter Quellen in seinem technisch-faktischen Ablauf neu dargestellt zu haben. Aufgrund dieser Quellen kann er nachweisen, dass es eine Anforderung des sowjetischen Marschalls Khudyakow gewesen ist, die den Angriff auslöste. Es sollten vor allem die Marineeinheiten und deren Nachschubbasis vernichtet werden, da sie den sowjetischen Vormarsch an der Ostseeküste beeinträchtigten. So konnte zum Beispiel Kolberg im Wesentlichen nur durch Unterstützung von Marineeinheiten so lange gehalten werden, bis das Gros der Zivilisten evakuiert war. Ob aber mit dieser militärisch begründeten Anforderung des Angriffs durch die Rote Armee der Vorwurf eines Terrorangriffs völlig entkräftet ist, scheint nicht ganz zu überzeugen. Denn immerhin musste den Amerikanern aufgrund ihrer Luftaufklärung klar sein, dass die Stadt mit Flüchtlingen überfüllt war und ein Flächenbombardement bei nur geringer Abweichung vom Zielgebiet verheerende Auswirkungen haben könnte. Nur ein Präzisionsangriff hätte dieses Risiko verringern können, war aber aus technischen Gründen nicht möglich. Hat man also mögliche Verluste bei den Zivilisten, Einwohnern und Flüchtlingen, mit einkalkuliert? Die von Schnatz herangezogenen Quellen geben dazu keine Auskunft.

Letztlich zuzustimmen ist dem Autor in seinem Zweifel an der Zahl von 23.000 Toten, die der Angriff gefordert haben soll. Hier kann er zeigen, wie sich in verschiedenen Publikationen die Zahl der Opfer seit den 1960er-Jahren allmählich immer mehr erhöhte und dann in fast allen jüngeren Veröffentlichungen die oben genannte Ziffer angegeben wird. Der Rezensent hatte kürzlich in seiner Geschichte der Insel Usedom ebenfalls diese Zahl ungeprüft übernommen. Hier zeigt sich die Wirkung des Faktischen, wenn sich einmal eine Angabe durchgesetzt hat. Tatsächlich lassen weder die unmittelbar nach dem Angriff angefertigten offiziellen Angaben noch spätere Berichte den Schluss zu, dass die Zahl der Opfer so hoch gewesen sei. Schnatz hat noch zusätzliche Berechnungen angestellt, um letztlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass mit einer Opferzahl von etwa 4.500 gerechnet werden muss (138). Ergänzend sei noch hinzugefügt, dass auch in einem Bericht des letzten Swinemünder Bürgermeisters an den Präsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom Januar 1946, der im Landeshauptarchiv Schwerin aufbewahrt wird, zwar von dem Angriff und insbesondere den dabei versenkten Schiffen gesprochen wird, von einem Massaker, was bei 23.000 Toten zweifellos der Fall gewesen wäre, ist aber nirgends die Rede.

Der Bericht, den der Rezensent demnächst als Beilage zu einem Aufsatz über die ersten Nachkriegswochen in Swinemünde veröffentlichen wird, stützt auch noch eine andere Annahme von Schnatz. Er zweifelt aufgrund aller anderen von ihm ermittelten Angaben zum Angriff den von Augenzeugen erlebten Einsatz von Tieffliegern an. Vielmehr erwägt er die Möglichkeit, dass hierbei Erinnerungen an spätere Angriffe der sowjetischen Luftwaffe mit den Ereignissen der 12. März vermengt wurden. Dies bestätigt der Bericht des Bürgermeisters, der schreibt: "Die Rote Armee ging dazu über, durch rollende Luftangriffe ein Verschiffen der Truppen und Flüchtlinge zu stören und die Bevölkerung zur Übergabe der Insel zu zwingen". [2] Und an anderer Stelle präzisiert er noch: "Als der Hafen von Swinemünde für die Einschiffung durch das dauernde Bordfeuer der Russischen Luftwaffe nicht mehr verwendet werden konnte [...]" (ebd.). Beide Zitate beziehen sich auf die Zeit nach dem 12. März.

Die Auseinandersetzung mit der bisherigen Literatur zum Thema wirkt alles in allem etwas halbherzig bzw. zerfasert. Schnatz geht darauf meist nur dann konkret ein, wenn er punktuelle Detailfragen klärt. Hier hätte man sich entweder in der Einleitung oder in einer abschließenden Zusammenfassung noch einmal eine umfassende und konzentrierte Behandlung gewünscht. Dadurch wäre die sonst nur allgemein konstatierte Legendenbildung (10 ff.), die bei einigen Details sicher nicht von der Hand zu weisen ist, deutlicher zu Tage getreten. Schließlich ist dies nach eigener Aussage ja wohl der wichtigste Grund für Schnatz gewesen, sich mit dem Thema zu befassen. So muss man sich als Leser doch durch den gesamten Text arbeiten, um den Erkenntnisprozess des Autors Stück für Stück nachzuvollziehen.

Ein zweiter Bereich, der Kritik verdient, ist die unzureichende Auseinandersetzung mit den Aussagen der Betroffenen, also derjenigen, die den Angriff miterlebt hatten. Hier kommt Schnatz in seiner Argumentation leider nicht über Allgemeinplätze, die wie aus zweiter Hand angelesen wirken, hinaus. Das reicht meines Erachtens auf keinen Fall aus, und der Autor sollte sich deshalb nicht über mögliche ablehnende Reaktionen der Betroffenen wundern.

Fazit: Ein von der Faktenermittlung zum Ablauf des Luftangriffs her sauber gearbeitetes Buch, das jeder, der sich künftig mit der dem Luftkrieg und speziell der Bombardierung Swinemündes beschäftigt, zu berücksichtigen hat.


Anmerkungen:

[1] Vgl. auch Helmut Schnatz: Dresden des Nordens? Der Luftangriff auf Swinemünde am 12. März 1945, in: historicum.net [24.11.2003], URL: http://www.bombenkrieg.historicum.net/themen/swinemuende.html; ders.: Luftkriegslegenden in Dresden, in: historicum.net [17.12.2003], URL: http://www.bombenkrieg.historicum.net/themen/dresden.html.

[2] Landeshauptarchiv Schwerin, 6.11-11, Nr. 235, Bl. 276.

Dirk Schleinert