Hartmut Bergenthum: Weltgeschichten im Zeitalter der Weltpolitik. Zur populären Geschichtsschreibung im wilhelminischen Deutschland (= Forum Deutsche Geschichte; 4), München: Martin Meidenbauer 2005, 300 S., ISBN 978-3-89975-487-2, EUR 35,90
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Die moderne Geschichtswissenschaft formierte sich wissenschaftlich wie fachlich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, an dessen Ende sie zu einer 'Leitwissenschaft' wurde, die für die bürgerliche Gesellschaft des wilhelminischen Kaiserreichs wichtige lebensweltliche Orientierungen lieferte und bedeutende Impulse für eine nationale Identitätsstiftung gab. Eine breitere Öffentlichkeit wurde dabei nicht zuletzt durch eingängige, mehrbändige Geschichtswerke angesprochen, die häufig zeitlich und räumlich universale Darstellungsansprüche vertraten und unter dem Titel "Weltgeschichte" firmierten. Angesichts der Popularität, die diese Weltgeschichten genossen, stellt Hartmut Bergenthum die interessante Frage, inwiefern diese Werke im Zeichen eines deutschen kolonialen Expansionismus am Jahrhundertende standen bzw. auf diesen zurückwirkten. Zu ihrer Beantwortung hat der Autor sechs Weltgeschichten ausgewählt, die er hinsichtlich ihrer Gliederung, der jeweiligen Verwendung spezifischer "Universalfaktoren" (z. B. Staat, Volk und Nation, 'Große Persönlichkeiten', Religion, Rassen, Kultur) und der in den Weltgeschichten vertretenen Raumvorstellungen vergleichend analysiert.
Leider sind die methodischen Prämissen der Arbeit fragwürdig und ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse sehr gering, sodass man sich dem Urteil Matthias Middells, der in seiner Rezension [1] Bergenthums Studie aus der Vielzahl anderer "auf den Markt geworfener" Magisterarbeiten herausgehoben hat, nicht anschließen möchte. Der stärkste Teil von "Weltgeschichten im Zeitalter der Weltpolitik" ist zweifelsohne der letzte, in dem der Autor den Blick der Weltgeschichten auf 'die Welt' betrachtet. Zwar ist auch hier sein Resümee, dass "in den populären Weltgeschichten [...] Europa und vor allem West- und Mitteleuropa Träger und Hauptakteur der Weltgeschichte" ist (275), nicht überraschend, jedoch ist diese naheliegende Erkenntnis bislang noch nicht in einer komparativen Studie an Weltgeschichten, sondern eher an theoretisch-programmatischen Texten oder für einzelne Autoren nachgewiesen worden (so etwa für Rankes Weltgeschichtsbegriff). Zudem enthält Bergenthums Quellenauswahl mit der von Hans Ferdinand Helmolt herausgegebenen neunbändigen "Weltgeschichte" (1899-1907) eine Ausnahme, in der auch die "vermeintlichen 'Ränder der Welt' wie Australien und Afrika ausführlich in die Darstellung" miteinbezogen und "neben die europäische Geschichte" gestellt wurden (275). Hier deutet sich ein neues Weltverständnis im Zeichen eines kolonialen Imperialismus an, das um 1900 zu einer veränderten Wahrnehmung von Welt auch in der Geschichtswissenschaft führt.
Nun wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Prozess einer Umdeutung der Weltgeschichte von einer west- und mitteleuropäischen Geschichte mit Ausblicken auf den geografischen 'Rest' zu einer wirklichen Globalgeschichte in seiner Entwicklung deutlich gemacht worden wäre. Dem steht aber ein schweres methodisches Handicap der Arbeit gegenüber: Denn die von Bergenthum verglichenen Werke wurden zwar alle am Jahrhundertende neu aufgelegt und waren weit verbreitet, doch basieren sie zum Teil auf älteren Weltgeschichten. So finden sich in Bergenthums Auswahl neben Helmolts Werk noch die im Auftrag des Ullstein Verlags von Julius von Pflugk-Harttung herausgegebene Weltgeschichte, die 1907-10 in sechs Bänden erschien, und eine von Oskar Jäger verfasste vierbändige weltgeschichtliche Darstellung aus den Jahren 1887-89. Die drei anderen Werke von Joseph Annegarn, Karl Friedrich Becker und Friedrich Christoph Schlosser wurden zwar vor 1900 in Neubearbeitungen immer noch wieder aufgelegt; ihre ersten Auflagen datieren aber aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Annegarns und Beckers Weltgeschichten waren zudem noch insofern speziell, als sie an "die katholische Jugend" bzw. an "Kinder und Kinderlehrer" adressiert sind. Durch diesen kuriosen Quellenmix entstehen Anachronismen, die jedes Ergebnis der Arbeit zweifelhaft erscheinen lassen. Wie sehr der Autor seiner eigenen zeitlichen Verzerrung erliegt, macht eine Stelle deutlich, an der er ausführt: "Jäger und Annegarn sehen die Sozialdemokratie und die soziale Frage in ähnlicher Weise wie Becker. Annegarn anerkennt immerhin das Elend der Arbeiter als Folge der Industrialisierung. Außerdem führt er den Kulturkampf als Mitgrund für die Ausbreitung der neuen Lehren an" (210): Annegarn, der angeblich Sozialdemokratie, soziale Frage und Kulturkampf beurteilt, starb 1843; Becker war zu diesem Zeitpunkt bereits 37 Jahre tot! Wahrscheinlich war es einfach dieser tragische Umstand, der sie daran hinderte, die "realen, sozioökonomischen Transformationsprozesse" am Jahrhundertende anzuerkennen (216). Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Autor mit der Nennung der Verfassernamen die entsprechenden Werke bezeichnen will, lindert dies den fundamentalen Denkfehler nicht, dass ein am Jahrhundertende neu bearbeitetes Werk zu einem Werk des Jahrhundertendes wird.
Die weiteren Aussagen von Bergenthums Studie verbleiben an der Oberfläche des Bekannten: In den Weltgeschichten werde die besondere Bedeutung Deutschlands für die historische Entwicklung betont, Staat und Religion nähmen stets eine bedeutende Rolle ein, die Leistungen großer Persönlichkeiten würden hervorgehoben und Rasse sei ebenso wie Kultur als Kategorie von untergeordneter Bedeutung: "Damit entsprechen die populären Weltgeschichten tendenziell den dominierenden Auffassungen der akademischen Geschichtswissenschaft" (218). Hinsichtlich des Aussageziels der Weltgeschichten stellt Bergenthum fest, dass "prozesshafte Entwicklungen mit dem Fortschrittsmodell konzipiert werden" (107). Ja, was denn nun: 'Prozess', 'Entwicklung', 'Fortschritt' oder von allem gar ein bisschen? Man erfährt es nicht. Von dieser Aussageschwäche sind auch die Charakterisierungen einzelner Personen betroffen. So wird Ranke schablonenhaft als "Begründer und Hauptvertreter des Historismus" vorgestellt (42); über Friedrich Ratzel, der wie nur wenige andere im 19. Jahrhundert die weitere Entwicklung seiner Disziplin beeinflusste, liest man, er sei "ein Außenseiter des Faches Geographie" geblieben (118, Anm. 142). Desweiteren wird die einschlägige historiografiegeschichtliche Literatur zum Thema von den klassischen Arbeiten Troeltschs und Meineckes bis hin zu Jaegers und Rüsens "Geschichte des Historismus" ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie wichtige neuere Untersuchungen Daniel Fuldas und Johannes Süßmanns, die den für die Analyse der Struktur von Weltgeschichten nicht unwesentlichen Zusammenhang von Roman und Geschichtsschreibung behandeln. Passend in das Gesamtbild der Arbeit fügt sich deren Erzählstil, der zwar die in Magisterarbeiten häufig anzutreffenden Bandwurmsätze vermeidet, dafür aber - besonders in den ersten Teilen - in das Gegenteil stakkatoartiger Hauptsatzketten umschlägt, die kaum in finale, kausale oder konsekutive Zusammenhänge gebracht werden. Als größten Verdienst der Arbeit, so muss man daher bitter resümieren, bleibt die Aufstellung einer Forschungsfrage, die weiterhin ihrer Beantwortung harrt.
Anmerkung:
[1] Matthias Middells Rezension zu vorliegendem Band in: geschichte.transnational und H-Soz-u-Kult, 28.01.2005, URL: http://hsozukult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=5949.
Stefan Jordan