Eduard Mühle: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (= Schriften des Bundesarchivs; Bd. 65), Düsseldorf: Droste 2005, X + 732 S., 41 s/w-Abb., ISBN 978-3-7700-1619-8, EUR 50,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Eduard Mühle (Hg.): Mentalitäten - Nationen - Spannungsfelder. Studien zu Mittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge eines Kolloquiums zum 65. Geburtstag von Hans Lemberg, Marburg: Herder-Institut 2001
Zweifellos gehörte Hermann Aubin zu den einflussreichsten Historikern in der jüngeren Geschichte des Faches, deshalb konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis auch ihm eine Biografie gewidmet wurde. Eduard Mühle hat nun, auf einer breiten Quellenbasis aufbauend, ein über 600 Textseiten umfassendes Werk zum Leben Aubins vorgelegt, das er in drei große Abschnitte unterteilt hat. In dem "Biographie und Mentalität eines Ostforschers" betitelten Teil schildert der Verfasser Aubins Jugend in einer großbürgerlichen Fabrikantenfamilie im deutsch-tschechischen Grenzgebiet, die ihn mit einer tiefen Abneigung gegen die "tschechische Dienstbotennation" imprägnierte, andererseits gegen die Wahrnehmung sozialer Spannungen abschirmte; die Schule vermittelte ihm das Bewusstsein einer Überlegenheit der deutschen Kultur seit dem frühesten Mittelalter. Dass die Familie weltoffen und humanistisch geprägt war, hat hingegen ebenso wie die Mitgliedschaft im eher toleranten studentischen "Freiburger Kreis" keine Spuren hinterlassen. Auch in München und im habsburgischen Wien scheinen die aufregenden intellektuellen Impulse der Moderne und des Vielvölkerstaates an ihm abgeprallt zu sein; Aubin revidierte seine Vorurteile über 'den Osten' nicht, erst recht nicht im Krieg, und eine spätere Gastdozentur in Kairo (1931-33) verfestigte nur seine Vorstellungen von einer angeblichen Überlegenheit der westlichen Welt. Die Professur im Rheinland, dann erneut im Grenzraum zum 'Osten', in Breslau, schließlich die Rückkehr in den Westen, nach Hamburg - wie nur wenige war Aubin von früh an divergierenden kulturellen Einflüssen und Grenzerfahrungen ausgesetzt, die ihn offenbar nicht einmal ansatzweise tangierten. Den Raum außerhalb des abendländischen Kulturkreises konnte er nur in Klischees beschreiben, und so gerann in seiner Vorstellungswelt der Osten zu einer "weite[n] eintönige[n] Fläche, die zivilisatorisch geradezu 'leer' erschien und damit leicht zur Projektionsfläche deutscher Kulturarbeit und Annexionsträume werden konnte" (58).
Aubins Haltung zur Weimarer Republik bleibt diffus, mit dem Nationalsozialismus arrangierte er sich mühelos, ohne ihn vorher euphorisch bejubelt zu haben - so, wie er die Demokratie zuvor nicht bekämpft hatte. Er hätte sich auf die akademische Lehre konzentrieren können, doch Aubin entschied sich "für ein freiwilliges politisches Engagement zugunsten des NS-Regimes" (118). Selbst bei Kriegsende war er unfähig, sich die eigene "ideologische Verblendung" (123) und seine hohe Affinität zum "Dritten Reich" einzugestehen. Er entlastete sich mit der üblichen Behauptung, "missbraucht" worden zu sein, und setzte seine Karriere im Westen bereits 1946 erfolgreich fort.
Im zweiten Abschnitt behandelt Mühle den Wissenschaftsorganisator Aubin. Dieser gehörte nicht mehr zum Typus des 'politischen Professors', der sich aktiv in der Politik engagierte und in seinen Schriften polemisch agitierte. Vielmehr ging es Aubin nun um eine objektive, gleichwohl "am Gemeinwohl von Staat und Nation ausgerichtete Wissenschaft" (152), also um eine Geschichtsschreibung, die der Nation diente, ohne sich politischen Vorgaben und Ideologien zu unterwerfen. Politik und Wissenschaft gingen eine Symbiose ein, die in der "Natur der Sache" begründet zu liegen schien, im gemeinsamen Dienst an der deutschen Nation. Dieses Verständnis von Objektivität erlaubte es Aubin, im Rheinland die volksgeschichtliche Landesforschung und in Breslau die Ostforschung der "deutschnationalen 'Abwehrarbeit'" (167) dienstbar zu machen. Detailliert schildert Mühle aus den Akten Aubins höchst erfolgreiche Versuche, zuerst die rheinische Landeskunde und dann die Ostforschung institutionell aufzubauen und abzusichern. Durch die Ausbildung von Schülern und durch zahllose Broschüren und Vorträge fügte er ein deutschzentriertes und dezidiert polenfeindliches Geschichtsbild in die aggressive deutsche Volkstumsarbeit und die brutale nationalsozialistische Ostpolitik ein. Dass es über Details zu Konflikten mit nationalsozialistischen Amtsträgern gekommen sei, dürfe "gleichwohl nicht als Ausdruck [...] ernsthaften geistigen Widerstands gegenüber dem Regime angesehen werden" (357). Die Ostforschung insgesamt und Aubins eigene wissenschaftliche Arbeit, Mühles Befund ist da eindeutig, dienten als Instrument der deutschen Eroberungs- und Vernichtungspolitik. Der "neue Anfang" in der Bundesrepublik bedeutete die nahtlose Fortsetzung der alten Geschichtspolitik und der Symbiose mit dem - nun demokratischen - politischen System.
Im dritten und letzten Abschnitt geht es um die historiografische Arbeit Aubins. Analytisch tief gehende wissenschaftliche Aufsätze und Monografien waren Aubins Sache nicht, er bevorzugte öffentlichkeitswirksame publizistische Texte. Sein Versuch, menschliche Kulturräume in all ihrer Dynamik zu erfassen, mündete in eine gewisse Statik, indem er "den Raum ungeachtet menschlich induzierten Wandels letztlich doch als eine relativ konstante Größe erscheinen ließ" (473). An die ethnisch-biologisch aufgeladene Kategorie des "Volkes" tastete er sich im Laufe der Jahre heran, sie verschmolz mit der Vorstellung des kulturell "leeren" Ostens, der germanisiert werden konnte und musste. Aubin propagierte komparatistische und "multidisziplinäre" Methoden, ohne sich die Mühe zu machen, deren Fruchtbarkeit durch empirische Studien zu demonstrieren - zumal "solche theoretisch innovativen Anstöße sogleich an die selbst aufgerichteten Erkenntnisbarrieren [stießen], die daraus rührten, dass [sie] letztlich nur dem einen Ziel dienen sollte[n]: die wissenschaftliche Erforschung vornehmlich des deutschen Anteils an der politischen, wirtschaftlichen, demographischen, sozialen und kulturellen Gestaltung des Ostraums zu fördern" (544). Die Geschichte Ostmitteleuropas geriet dabei ganz in die Fänge einer Generalstabsperspektive, die die deutsche "Kulturarbeit" im Osten in Metaphern von "Vorstoß", "Angriff", "Einrücken", "Zangen" oder "Frontabschnitte[n]" beschrieb (550).
Nach 1945 gliederte Aubin die 'Kampfverbände' deutscher Kulturarbeit umstandslos in die abendländische Wertegemeinschaft ein; den nur verklausuliert erwähnten Opfern der Deutschen wurden wortgewaltig Millionen entrechteter und ermordeter deutscher Opfer im Osten entgegengestellt. Diese "allein am deutschen Schicksal interessierte Perspektive" (143) wurde nicht einmal durch das Ende des "Dritten Reichs" aufgebrochen, Aubins Kritik am Nationalsozialismus bewertet Mühle als "bemerkenswert unreflektierte [...], ja ausgesprochen unehrliche Anklage" (142). Stattdessen "hat Aubin die nationalsozialistische Ost- und Volkstumspolitik noch in den 1950er-/60er-Jahren explizit in die Reihe der positiv zu deutenden deutschen Bemühungen um eine Lösung der ostmitteleuropäischen Nationalitätenprobleme eingereiht" (605). Selbst sein engeres Umfeld war davon unangenehm berührt und versuchte, ihm wenigstens eine verbale Distanzierung vom Nationalsozialismus abzuringen.
Die Entscheidung des Verfassers, der wissenschaftsorganisatorischen Seite etwa 50% des Buches zu widmen, scheint mir symptomatisch für seinen Protagonisten. Biografisch zeichnete sich Aubin durch eine erstaunliche Resistenz aus: Er ignorierte sämtliche Anregungen, die sein vielfältiges Leben hätte geben können, und das unterscheidet ihn so deutlich von den konservativen Historikern und Soziologen aus dem Königsberger und Leipziger Umfeld, die auf Grund ihrer intellektuellen Dispositionen nach 1945 wenigstens indirekt ihre eigene Rolle im "Dritten Reich" zu reflektieren in der Lage gewesen waren. Das macht sie immerhin zu Figuren, an denen man sich noch heute mit Gewinn abarbeiten kann. Bei Aubin dagegen ist nicht einmal seine konzeptionell-wissenschaftliche Arbeit noch von Belang, er ist, wie Gerhard Ritter, Wissenschaftsgeschichte, und auch in diese ging er allein wegen seiner forschungspolitisch so dominanten Position ein. Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart profitiert von Aubin nicht mehr, das scheint mir Mühles Buch eindeutig klarzumachen.
Oder könnte man aus der Beschäftigung mit Aubin doch etwas lernen? Wie sehen die mentalen Dispositionen aus, die einen Wissenschaftler intellektuell derart einschränkten und ihm trotzdem - oder gerade deswegen - großen politischen Erfolg bescherten? Kann man an Aubins Person nicht doch "Einblicke in jene mentalen Dispositionen und kulturellen Grundstrukturen, die vom ausgehenden 19. bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts hinein die Wahrnehmung der deutschen Gesellschaft vom eigenen Volk und von ihren osteuropäischen Nachbarvölkern geprägt und damit auch die realgeschichtliche Beziehungsgeschichte beeinflusst haben" (621 f.), gewinnen? Vielleicht, aber Mühles Arbeit lässt die Leser an dieser Stelle im Stich. Methodisch ist sie bis in die Trennung von Leben, Wissenschaftspolitik und Wissenschaft hinein vollständig konventionell angelegt. Der Verfasser weist zwar jüngere Überlegungen zu Problematik und Chancen biografischen Arbeitens in einer Fußnote nach, hat sich von diesen Ansätzen jedoch nicht beeinflussen lassen. Wissenschaftssoziologische, erfahrungsgeschichtliche, diskursanalytische oder narratologische Ansätze, die beispielsweise Ulrich Raulff oder Jan Eckel in ihren wegweisenden Arbeiten über Marc Bloch bzw. Hans Rothfels fruchtbar gemacht haben, interessieren Mühle nicht. Im Wesentlichen schildert er stattdessen aus den Akten und Texten, was passiert und was geschrieben worden ist, wobei sein Buch, wie so oft bei der Geschichte der Geschichtswissenschaft im "Dritten Reich", dem Genre der Gerichtsverhandlung eingeschrieben ist. Der Verfasser hat dabei zum Glück nicht die Anklageschrift eines Staatsanwaltes verfasst, sondern die äußerst fair abwägende Urteilsschrift eines Richters, der sein Urteil begründet. Es fällt vernichtend aus. Allein zu diesem Zweck aber ist das Buch zu dick, denn in den wesentlichen Zügen wusste man vieles schon vorher. Das Warum dagegen, die "mentalen Dispositionen", bleiben vollständig unterbelichtet. Dazu hätte es einer durchdringenden Habitusanalyse bedurft, die an Kleidung, Gesten, Worten untersucht hätte, wie sich Aubin in der Welt bewegt und in welcher Gestalt er sie gesehen hat. Material dafür hätte es wohl gegeben, das zeigt Mühles Text. Die ausführlichen Briefe aus Kairo etwa dürften zwischen den Zeilen viel preisgeben. Auch die Tatsache, dass Aubin die Habilitation in Uniform vollzog - während Gerhard Ritter wenig später das Kolloquium mit dem Eisernen Kreuz dekoriert betrat -, ist Mühle keiner tiefer gehenden Betrachtung wert. Wären Aubin und Ritter auch mit einem Parteiabzeichen am Revers habilitiert worden? Wohl kaum. Aber was verrät das über den Wissenschaftsbetrieb? Und inwieweit konvergierten eventuell der akkurat aufgeräumte Schreibtisch Aubins und die "leere" Fläche Ostmitteleuropas? Solchen Parallelen müsste man nachspüren, um mentale Dispositionen tatsächlich erfassen zu können. An dieser Stelle hat Mühle, der mit seinem zugleich ausgewogenen wie kritischen Buch dem Breslauer Historiker zweifellos gerecht wird, letztlich eine große Chance vertan.
Thomas Etzemüller